In ihrem aktuellen Roman »Unterleuten« entwirft Juli Zeh ein ganzes Dorf, das durch die Zwangsansiedlung eines Windparks und durch eine alte Fehde der Dorfchefs gespalten ist. Mit feinem Humor, wunderbaren Figuren und grandiosen Perspektivenwechseln gelingt es Juli Zeh, den Leser mit der Führung durch das Innenleben eines Dorfes zu fesseln.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf „Unterleuten“ irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …
Der Roman ist in sechs Teile (Geliebte Babys, Das Tier von nebenan, Falsche Freunde, Nachts sind das Tiere, Kommunizierende Röhren, Fallwild) und 62 Kapitel untergliedert. Die einzelnen Kapitel tragen – zum besseren Verständnis – immer den Namen der Person, aus dessen Sicht gerade erzählt wird. Vom ersten Kapitel an bezieht der Leser Stellung, empfindet Sympathien und Antipathien für die Bewohner des Dorfes. Durch diese Perspektivenwechsel gelingt Juli Zeh ein außergewöhnlicher Kunstgriff: Sie schafft es, die Meinung des Lesers ständig zu verändern! Je mehr wir über die Bewohner Unterleutens erfahren, desto klarer wird das Gesamtbild.
Dem Roman vorangestellt sowie integriert in die Handlung des Romans werden immer wieder Zitate aus Manfred Gortz‘ Managementbibel »Dein Erfolg« und immer öfter gesellen wir uns zu den begeisterten Naturfreunden bei der Beobachtung einer Gruppe der seltenen Kampfläufer. Einer von ihnen ist auf dem Titelbild des Buches zu sehen.
»Menschen brauchten Abstand voneinander. […] Nicht gewusst hatte er, dass selbst ein Dorf mit zweihundert Einwohnern zu eng sein konnte.«
(Teil I – Geliebte Babys, Kapitel 1 – Fließ, Seite 12)
Zehn Jahre hat Juli sich von der Idee bis zur Veröffentlichung des Romans in »Unterleuten« und in den Köpfen seiner Einwohner bewegt. Herausgekommen ist ein Roman von gewaltiger Komplexität, denn wie Juli Zeh so treffend bemerkte: „»Unterleuten« hatte von Anfang an die Tendenz, über die Buchdeckel hinaus zu wuchern.“
Interaktives Lesen – ein Roman mit ständig nachwachsendem Bonusmaterial: Wer mich kennt, weiß, ich bin kein Freund von Videospielen oder intensivem Eskapismus, doch obwohl diese Rezension schon lange fertig sein sollte, haben Unterleutens Tentakel mich noch immer fest im Griff. Zu beobachten, wie Fiktion zum Leben erwacht, ist einfach spannend. Auf der Website zu Unterleuten finden sich all die Verwirrspiele, all die fiktiven Personen, die versuchen, sich eine reale Identität aufzubauen, um auf diese Weise »Unterleuten« entkommen zu können. Wen das Buch bereits begeistert hat oder wer sich noch begeistern lassen will, sollte sich die Website jedenfalls nicht entgehen lassen. Hier finden sich auch alle Links zu Manfred Gortz, die Websites des Vogelschutzbundes Unterleuten, des Märkischen Landmanns, der VentoDirect, das Xing-Profil von Sebastian Pilz oder die Facebook-Seiten von Jule Fließ, Kathrin Kron-Hübschke oder Lucy Finkbeiner. Wer Zeit hat, sich durch den Mikrokosmos von Unterleuten zu klicken, wird nicht enttäuscht werden. Mit seinen Figuren zu interagieren, macht ganz einfach Spaß, denn hinter allen von ihnen leuchtet die Spielfreude und Klugheit der Autorin hervor.
»Was diese Generation antrieb, war der unbedingte Wunsch, alles richtig zu machen. […] Das kapitalistische System pflanzte einen Angstkern in die Seelen seiner Kinder, die sich im Lauf ihres Lebens mit immer neuen Schichten aus Leistungsbereitschaft panzerten. Heraus kamen Arbeitszombies, die keine Angst davor hatten, von einem Dorfmob aufgemischt zu werden. Was waren ein paar gebrochene Rippen gegen den Horror, die Erwartungen der Firma nicht zu erfüllen?«
(Teil I – Geliebte Babys, Kapitel 10 – Seidel, Seite 151-152)
Immer wieder wird im Roman aus Manfred Gortz‘ Buch »Dein Erfolg« zitiert. Nachdem Plagiatsvorwürfe laut wurden, entbrannte eine Diskussion um die Fiktivität des Autors. Trotz oder gerade wegen Manfred Gortz‘ Existenzbekundung auf youtube entwickelte sich die groß angelegte (immerhin erschien das Buch von Manfred Gortz schon im September 2015!) PR-Inszenierung bereits zum Medienhype. Es ist nur eines der gelungenen Vexierspiele, die dem Hirn einer stets verschmitzten Autorin entsprungen sind. Im Gespräch mit Richard Kämmerlings (Leitung Literarische Welt) bestätigte Juli Zeh, dass sie den Autor Manfred Gortz nur erfunden und sein Buch in „nur wenigen Wochen“ geschrieben hat, um es in ihrem Roman »Unterleuten« zitieren zu können (selbst die Amazon-Bewertungen des Gortz-Werkes stammen von Juli Zeh). Und doch ist es viel mehr als das: Linda Franzen, eine der Hauptpersonen, befolgt jeden der Ratschläge ihres Gurus Gortz und mutiert so zu einer eiskalt berechnenden Frau, die bereit ist, für ihren Erfolg über Leichen zu gehen. Fast ist es so, als hätte Manfred Gortz den Roman »Unterleuten« geschrieben, um seine Theorien zu belegen, denn seine Fallbeispiele entstammen wohl alle dem Leben dieses Dorfes.
Buchtrailer zu Juli Zehs Roman »Unterleuten«
In »Unterleuten« gibt es viele Hauptpersonen, denn jede Figur, aus deren Sicht Juli Zeh zu erzählen beginnt, wird im Kopf der Leser sofort zu einer solchen und nimmt den Raum der Zustimmung, des Verständnisses, der Sympathie ein. Die beiden „Häuptlinge“ des Dorfes, Kron (Kommunist) und Gombrowski (Kapitalist), erinnerten mich mit ihrer alten Fehde tatsächlich etwas an die Lektüre des Asterix-Heftes »Der große Graben«, denn auch durch Unterleuten zieht sich ein unsichtbarer Graben der Menschen, die hinter Kron und denen, die hinter Gombrowski stehen. Den Graben zwischen den Alteingesessenen und den Hinzugezogenen gibt es natürlich auch. Da ist der grobschlächtige Automechaniker Schaller, Oma Rüdiger und Opa Margot, Familie Kron, Familie Gombrowski, Hilde Kessler oder der Bürgermeister Arne Seidel, die schon ihr Leben lang in Unterleuten wohnen. Neuankömmlinge sind die Gortz-verrückte Pferdeflüsterin Linda Franzen mit ihrem Freund Frederik Wachs und der Natur- und Tierschützer Gerhard Fließ mit Frau und Tochter, die alle auf dem Land die Erfüllung ihrer Träume suchen.
»Kron kannte jedes einzelne Gesicht, aber vor allem kannte er das Gesamtwesen. Hätte man die Beziehungsfäden sichtbar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurchschaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar strukturiert wie ein Spinnennetz. […] Kron, der Chronist. Einer, der sich weigerte zu vergessen, und dafür mit Einsamkeit bezahlte.«
(Teil I – Geliebte Babys, Kapitel 6 – Kron, Seite 104)
Der Bau des Windparks bildet einen weiteren Nährboden für weitreichende Konflikte. Für Außenstehende wirkt all dies wie ein fremder Planet, aber lässt man sich darauf ein, rückt die Welt von Unterleuten erschreckend an die eigene Realität heran. So spiegelt diese abgeschlossene Welt im Kleinen eben auch die große weite Welt der Realität.
Auch der Investor Meiler kann der Faszination von Unterleuten nicht entgehen, obwohl seine Beschäftigung mit dem Dorf mehr dem Zeitvertreib dient.
»Die Namen klangen wie aus einem surrealen Film, Wassersuppe, Regenmantel, Seelenheil. […] Meiler bremste für eine Katze und fuhr Schrittgeschwindigkeit hinter drei Ponys, die mit ihren jungendlichen Reiterinnen mitten auf der Straße trotteten. Ihm kam das alles wie ein Paralleluniversum vor. Ein No-man’s-Disneyland. […] Friedrich der Große würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, wie das Ergebnis seiner aufwändigen Siedlungspolitik aussah, samt Sumpftrockenlegung und Dorfneubau: drei zwölfjährige Mädchen auf Ponys in einer ansonsten völlig ausgestorbenen Landschaft. […]
Mit seinem Stück Ex-DDR musste Meiler nichts wollen. Er konnte es sich leisten zu warten. […] Und solange er wartete, war Konrad Meiler sein eigenes Spekulationsgeschäft.«
(Teil I – Geliebte Babys, Kapitel 3 – Meiler, Seite 55 + 57)
Die Bewohner Unterleutens sind allesamt ambivalent. Schwarz oder weiß, gut oder böse – solche Schubladen bedient Juli Zeh nicht. Obwohl keine „Gefühlsduselei“ Einzug in Juli Zehs Roman erhält, ist ein distanzierter Blick auf die Geschehnisse und Menschen Unterleutens kaum möglich. Der Leser taucht ein in diese Welt, bezieht Stellung, verliebt und empört sich. Gerade habe ich Gefallen an einer Person gefunden, zerschellt meine Sympathie durch eine nicht nachvollziehbare Handlung oder eiskalt egoistische Motive. Durch diese Vorgehensweise wird die Spannung bis zuletzt gehalten. Fasziniert hat mich besonders, wie ich Personen, die ich sofort mochte, später nicht mehr leiden konnte (Gerhard Fließ) oder sogar große Abscheu vor ihnen empfand (Linda Franzen), andere hingegen, die eingangs unsympathisch wirkten, gewannen mit einem besseren Einblick in ihr Gefühlsleben (Rudolf Gombrowski). Dieses Spiel mit meinen Emotionen verzeihe ich der Autorin aufgrund ihres großen erzählerischen Geschicks gern. Schaller, der aus dem Weg räumt, was ihm in die Quere kommt, konnte ich von der ersten bis zur letzten Seite nicht leiden, ebenso wenig Elena Gombrowski, doch beinahe hätte ich Gerhard Fließ gemocht und beinahe auch Rudolf Gombrowski. (Das Schicksal von Fidi werde ich niemals verzeihen oder verstehen können und denke, dass niemand, der sich auf solche Weise einem Wesen gegenüber verhält, bedingungslose Liebe verdient hat.) Am Ende blieben meine Helden Arne Seidel und Frederik Wachs. Dies ist sehr persönlich, doch jeder Leser des Romans wird in Unterleuten seine eigenen (Lese-)Erfahrungen machen.
Väter und Töchter – Männer gezeichnet vom (drohenden) Verlust der Frauen in ihrem Leben: Es ist schon merkwürdig, denn wäre Unterleuten die ganze Welt, so würden die Einwohner des Dorfes auf natürlichem Wege wohl bald aussterben. Fast jede Hauptperson (außer dem Besucher Meiler) hat „nur“ Töchter, keine Söhne. Jeder von ihnen ist getrieben durch die (teilweise) unbewusste Angst, die Frauen in ihrem Leben zu verlieren. Auch die logische Folge dieser selbsterfüllenden Prophezeiung bleibt am Ende nicht aus. Dennoch überrascht Juli Zeh in jedem Kapitel mit unvorhersehbarem Verhalten ihrer Figuren, die mich teilweise begeisterten, abstießen, aber immer mitrissen.
Interview mit Juli Zeh zu »Unterleuten«
»Die Wahrheit war nicht, was sich wirklich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählten.«
(Teil IV – Nachts sind das Tiere, Kapitel 40 – Gombrowski, Seite 408)
Die Frage, wie es kommt, dass Schreckliches passiert, auch wenn alle immer nur das Beste wollen, wird zwar aufgezeigt, wie dies hätte verhindert werden können, ist allerdings eine noch viel komplexere Frage, deren Antwort jeder Leser allein finden muss.
Fazit: Juli Zehs Roman »Unterleuten« ist ein großer Gesellschaftsroman, der durch die Aktualität der Handlung, seinen feinen Humor und seine Scharfzüngigkeit besticht. Obwohl ich mich aufgrund der Komplexität des Romans und des Weglassen-Müssens all der zitierbaren Sätze (in meiner Wahrnehmung jeder zweite) bei dieser Rezension teilweise wie beim Schneiden unserer Brombeerhecke gefühlt habe, bin ich restlos begeistert. Warum auf »Unterleuten« noch kein Regen aus Preisen und Auszeichnungen niederging, kann ich nicht begreifen. Die Autorin nutzt ihre besondere Fähigkeit, starke Figuren in allen Nuancen der menschlichen Emotionen und Motivationen zu zeichnen. Die Spannung wird über mehr als 600 Seiten gehalten und der Leser immer wieder mit sich selbst konfrontiert, denn Juli Zeh gelingt es, noch Sympathien für die verachtenswertesten Charaktere zu wecken und zwingt damit den Leser aus der Komfortzone sichergeglaubter Positionen. Ein Roman, den ich jedem empfehlen kann, der spannende Bücher mit einprägsamen Charakteren, Niveau und Humor mag. Ein großer Wurf!
(Noch immer bedauere ich sehr, die Lesung in Hamburg am 11. April 2016 krankheitsbedingt verpasst zu haben.)
»Wenn ich in Unterleuten eins gelernt habe, dann dass jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat.«
(Teil VI – Fallwild, Kapitel 62 – Finkbeiner. Epilog, Seite 630)
Juli Zehs Roman »Unterleuten« ist im März 2016 im Luchterhand Verlag erschienen – gebunden, 640 Seiten, EUR 24,99, ISBN 978-3630874876.
Der Hörbuchverlag brachte ebenfalls im März die Hörbuchausgabe von »Unterleuten« leider in gekürzter Form heraus. Gelesen wurde »Unterleuten« von der Schauspielerin Helene Grass. Das ganze Buch ist auf 2 MP3 CD’s verteilt und hat eine Laufzeit von 15 Stunden und 23 Minuten.
Eine Hörprobe finden Sie hier oder mit Klick aufs Bild.
Über die Autorin: Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman „Adler und Engel” (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015).
Laila Mahfouz, 24. Mai 2016
Links:
Die Website zu »Unterleuten«, mit Karte zum Dorf Unterleuten, Biographien seiner Bewohner und weiteren Informationen finden Sie hier.
Die Website von Juli Zeh finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Juli Zeh auf der Seite des Luchterhand Verlages. Hier finden Sie auch alle Lesungstermine von Juli Zeh.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Ein schöner Beitrag über »Unterleuten« in der ARD-Sendung ttt:
Informationen zu Laila Mahfouz