Lesung am 9. November 2016 im Amerikazentrum Hamburg: Nathan Hill präsentierte seinen in den Vereinigten Staaten umjubelten Debütroman »Geister«. Der Roman und sein Autor überzeugten das Hamburger Publikum, das die Moderation von Dr. Susanne Weingarten und die Lesung des deutschen Textes durch Bernd Moss gleichermaßen genoss.
Inhalt (dem Verlagstext entnommen): Ein Anruf der Anwaltskanzlei Rogers & Rogers verändert schlagartig das Leben des Literaturprofessors Samuel Anderson . Er, der als Kind von seiner Mutter verlassen wurde, soll nun für sie bürgen: Nach ihrem tätlichen Angriff auf einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten verlangt man von ihm, die Integrität einer Frau zu bezeugen, die er seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen hat. Ein Gedanke, der ihm zunächst völlig abwegig erscheint. Doch Samuel will auch endlich begreifen, was damals wirklich geschehen ist. – Ein allumfassender, mitreißender Roman über Liebe, Unabhängigkeit, Verrat und die lebenslange Hoffnung auf Erlösung, ein Familienroman und zugleich eine pointierte Gesellschaftsgeschichte von den Chicagoer Aufständen 1968 bis zu Occupy Wall Street.
Nathan Hill erzählt in seinem Erstlingsroman eine berührende und überzeugende Mutter-Sohn-Geschichte. Aber das ist noch lange nicht alles. Sein Roman ist an fesselnden Charakteren ebenso reich wie an Politik- und Gesellschaftskritik. Von den Studentenprotesten 1968 in Chicago bis zur aktuellen Occupy-Bewegung berichtet Hill von echten und fiktiven Hintergründen und Schicksalen rund um die Demonstrationen. Von Polizeigewalt, von initiierten Krawallen durch Unterwanderung der Protestbewegung und von Kriegspropaganda. Besonders schockierend ist, dass der doch eher harmlose Angriff auf Gouverneur Packer durch Samuels Mutter Faye Anderson-Andresen als Terroranschlag gewertet und Faye damit nach den Terrorgesetzen angeklagt und wie ein Staatsfeind behandelt wird. Leider ist dies nur allzu realistisch!
In den Gegenwartsteilen des Romans erlebt der Leser außerdem, wie der Kapitalismus inzwischen religionsgleich heutige Studenten ebenso fest im Griff hat wie den Literaturbetrieb und dass der überall betriebene Eskapismus zur Vereinsamung in unserer Gesellschaft führt. Kurzum: »Geister« / »The Nix« ist eine Abrechnung mit dem gesamten System.
Hier der Anfang des Romans:
»Hätte Samuel gewusst, dass seine Mutter weggehen würde, hätte er vielleicht besser aufgepasst, hätte ihr genauer zugehört, sie eingehender beobachtet, sich ein paar wichtige Dinge aufgeschrieben. Vielleicht hätte er sich auch anders verhalten, anderes gesagt, wäre ein anderer Mensch gewesen.
Vielleicht ein Kind, für das es sich gelohnt hätte zu bleiben.«
»If Samuel had known his mother was leaving, he might have paid more attention. He might have listened more carefully to her, observed her more closely, written certain crucial things down. Maybe he could have acted differently, spoken differently, been a different person.
Maybe he could have been a child worth sticking around for.«
Mit Unterbrechungen arbeitete Nathan Hill seit 2004 zehn Jahre an seinem Debütroman. Die Arbeit zog sich aus mehreren Gründen in die Länge: Erstens unterrichtete er während des Schreibprozesses und verwendete viel Zeit auf diese Arbeit, zweitens war er jahrelang einem Online-Videospiel verfallen (es kann sich wohl nur um WOW World of Warcraft handeln…). Außerdem wurde ihm sein Notebook samt Romananfang gestohlen, so dass er nochmals von vorne beginnen musste.
Für seinen nächsten Roman über eine Ehe, an dem er derzeit arbeite, werde er nur drei Jahre benötigen, so Hill, denn das Setting und die Charaktere ständen schon fest. Bei der Lesung in Hamburg verriet der Autor, dass er sich alles laut vorspricht, um sicherzugehen, dass es am Ende gut klingt. Er könnte sich nicht vorstellen in einem Café zu schreiben. Er benötige dafür eine gewisse Privatsphäre, da er sich merkwürdig verhalte, wenn er schreibe.
»I’m acting out. How can people write in a coffee shop? I need some privacy because I’m kind of weird when I’m writing.«
Nathan Hill gelingt es sehr gut, sich gleichermaßen in die Psyche seiner männlichen wie weiblichen Figuren einzufühlen. »Geister« ist ein durchaus autobiographisch gefärbter Roman. Hills Familie stammt mütterlicherseits aus Norwegen, wie die Familie seines Protagonisten Samuel. Wie dieser unterrichtet Hill Studenten in englischer Literatur und wie Samuel und sein Online-Freund Pwnage war der Autor lange Zeit der Videospielsucht verfallen. All dies macht den Roman und seine Figuren so authentisch und die Lektüre zum Genuss.
Alle Recherche die amerikanische Geschichte betreffend scheint er sehr akribisch betrieben zu haben. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn sich diese Sorgfalt auch auf die europäischen Teile erstreckt hätte. Wenn die Alpen als »Bavarian hills« (Seite 569 englische Ausgabe) beschrieben werden, bin ich froh, dass ich nicht erlebt habe, wie diese Stelle in Bayern vorgetragen wird. Dies mag ein fester Begriff sein, doch passt er im Zusammenhang nicht. Hier wird von dem Film Sound of Music (der auf Fakten beruht) erzählt. Es handelt sich also um Salzburg (zuletzt vor hunderten von Jahren bayerisch) und Umgebung, was im Film diverse Male namentlich erwähnt wird. Dass Salzburg zu Österreich gehört, ist aber auch dem Übersetzerteam nicht aufgefallen, das wieder einmal stur wörtlich übersetzt, obgleich hier der Moment für Fakt-schlägt-Kunst gewesen wäre.
Nathan Hill beschreibt später, dass die norwegischen Fischer denken, dass sie das wilde Meer kontrollieren. Ich bin sicher, dass Fischer so nicht denken – nicht an der Nordsee, nicht in Norwegen oder einem anderen Meer. Als Fischer ist die Ehrfurcht vor den Elementen überlebenswichtig und sicher etwas, das diese Menschen schon von klein auf lernen.
Zur Übersetzung: Leider, leider ist ein guter Verlag kein Garant für eine gute Übersetzung! Eine gute Übersetzung trifft, meiner Meinung nach, nicht nur Ton und Stil des Originals, sondern weicht in keiner Weise von Inhalt und Aussage ab. Wie sonst soll es den deutschsprachigen Lesern möglich sein, über Autor, Buch und Aussage des Textes eine auf Fakten beruhende Meinung zu bilden? In der Übersetzung von »The Nix« / »Geister« wird aus Miltons »Paradise Lost« plötzlich Dantes »Inferno« und damit wird die Botschaft Fayes auch gleich verdreht! Manchmal wird aus einer Gegenwart in der Originalausgabe (she says, Seite 580) mal eben Vergangenheit in der deutschen Übersetzung (sagte sie, Seite 803). Aus einem Stadion wird ein Stadium (Seite 204), aus 2003 wird 2002 (Seite 501), aus dem Vater des Erzählers (Seite 196 deutsche Ausgabe) wird in der Übersetzung plötzlich der Vater des Freundes (Seite 138 englische Ausgabe), so dass es überhaupt keinen Sinn ergibt, was der Junge sagt. Ein anderes Mal wird aus dem Vater Fayes (Seite 524 englische Ausgabe) in der deutschen Übersetzung plötzlich der Großvater (Seite 715), was auch überhaupt keinen Sinn macht, weil sie ihren Großvater nie kennengelernt hat. Sätze, die überhaupt nicht im Buch stehen, werden ergänzt, andere komplett weggelassen zum Beispiel die für Samuel alles entscheidende Frage »Will you be my mom forever?« (Seite 137 englische Ausgabe), die der Leser auf Seite 194 der deutschen Ausgabe vergebens suchen wird… Das ist ein absolut unzulässiger Eingriff in die Arbeit eines Schriftstellers und ich kann nicht verstehen, wie ein Übersetzer so etwas mit seiner Berufsehre vereinbaren kann. Nathan Hill wirbt hierzulande mit seinem Debüt-Roman um Leser oder sogar um zukünftige Stamm-Leser. Die Verantwortung eines Übersetzers ist also nicht gering…
Oftmals wird einfach wörtlich übersetzt, was zu einer sachlich-holprigen Sprache führt, die das Lesevergnügen auf jeden Fall trübt. Selbst bekannte englische Kinderreime werden wörtlich und dann noch falsch übersetzt (Seite 153 englische Ausgabe / Seite 216 deutsche Übersetzung). Richtig schade ist es um die wunderbar bildhafte, teilweise sogar poetische Sprache Nathan Hills. Ein Beispiel ist der folgende Satz:
»Only his own mental library bouncing back at him.« (Seite 146 englische Ausgabe)
»Nur seine gespeicherten Assoziationen, die ihn ansprangen.« (Seite 205 deutsche Übersetzung)
Die vielen Rechtschreibfehler, die oftmals schon eine gute Autokorrektur hätte finden können, sind ebenfalls ein Ärgernis. Ein besseres Korrektorat hätte der deutschen Ausgabe auf keinen Fall geschadet. Offenbar sollte mit Hilfe der Autokorrektur sichergestellt werden, dass der Name der Figur Harold Schwingle richtig geschrieben wurde. Das Ergebnis ist, dass das Verb schwingen an jeder Stelle mit Schwinglen ersetzt wurde. Ich könnte noch lange über die schlechte deutsche Übersetzung weiter schreiben und möchte daher auf jeden Fall zur Lektüre der Originalausgabe raten. Ich werde dem Verlag alle Fehler, die mir aufgefallen sind, mitteilen, so dass zu hoffen ist, die für den 1. Dezember geplante Taschenbuchausgabe möge in besserer Form präsentiert werden.
Fazit: Die Geister, die ich rief… Nathan Hills Protagonist Samuel kämpft gegen eine Menge Geister an. Ganz vorn steht sicherlich seine Mutter und die Tatsache, dass sie ihn verlassen hat, als der schwerste Schicksalsschlag in seinem Leben. »Die Dinge, die du am meisten liebst, […] werden dich eines Tages am schlimmsten verletzen«, sagte sie zu ihrem kleinen Sohn und ahnte wohl noch nicht, dass sie für ihn so etwas wie der Nix / »The Nix« werden sollte. Nathan Hills Debütroman »Geister« vereint vielschichtige Charaktere, eine spannende Familien- und Liebesgeschichte mit dem politischen Geschehen der letzten fünfzig in den USA. Die verschiedenen Zeitebenen werden geschickt miteinander verwoben. Starke Dialoge mit viel Humor und Intelligenz, ein Auf und Ab der Gefühle und ein geradezu musikalischer Rhythmus zeichnen »Geister« aus. Wenn diese starke Lektüre Hills Debütroman ist, dann ist noch viel von ihm zu erwarten.
Ganz sicher wird von diesem Roman nochmals die Rede sein, nämlich wenn »Lost«-Erfinder J.J. Abrams den Plan, »Geister« als TV-Serie zu verwirklichen, in die Tat umsetzt. Meryl Streep hat sich die Rechte daran jedenfalls bereits gesichert, was allein schon für die Qualität des Romans sprechen sollte.
Nathan Hills Roman »Geister« (Originaltitel: »The Nix«) ist im Oktober 2016 in der Übersetzung von Katrin Behringer und Werner Löcher-Lawrence für EUR 25,00 im Piper Verlag erschienen – gebunden, 864 Seiten, ISBN 978-3492057370.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Nathan Hill (* 1978) wuchs im amerikanischen Mittelwesten auf und lebte später auch in New York und Neuengland. Er erwarb den Bachelor in Englisch und Journalismus an der Universität von Iowa und den Master in Kreativem Schreiben an der University of Massachusetts Amherst. Nach der Arbeit als Journalist an Zeitungen und Magazinen ging Hill an die Academy of American Poets. Danach lehrte er an der Florida Gulf Coast University und der University of St. Thomas in St. Paul, Minnesota. Momentan lebt er in Chicago und St. Paul, Minnesota, wo er an der University of St Thomas Englische Literatur unterrichtet. Seine Erzählungen erschienen in zahlreichen Magazinen und Zeitungen, sie waren nominiert für den Pushcart und den Barthelme Preis. »Geister« / »The Nix« ist sein erster Roman und wird derzeit in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Laila Mahfouz, 18. Juli 2017
Links:
Unsere Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte an den Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Informationen zum Autor auf den Seiten des Piper Verlages finden Sie hier.
Kurz nach der Lesung in Hamburg präsentiert Nathan Hill seinen Roman auf der Buchmesse in Miami:
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