29. August 2015: Zum zweiten Mal wurde in Hamburg die Lange Nacht der Literatur gefeiert. Die Veranstalter haben Rolf Lappert, dessen aktueller Roman „Über den Winter“ für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, zu einer Lesung in die Freie Akademie der Künste eingeladen. Mit Dr. Antje Flemming vom Literaturhaus Hamburg sprach der Schweizer über den Roman und seine Entstehung.
Handlung des Romans: Der fast 50jährige Installationskünstler Lennard Salm, der seit Jahren den Kontakt zu seiner Familie meidet, bekommt im Ausland die Nachricht vom Tod seiner älteren Schwester Helene. Nur aus Pflichtgefühl kehrt er nach Hamburg zurück, versucht, sich vor der Beerdigung zu drücken, aber kann sich dem Sog der Familie nicht entziehen. Eigentlich will er so schnell wie möglich in sein eigenes Leben zurück, doch er stellt fest, dass er nicht mehr weiß, was das ist und dass er keinen Sinn mehr in seiner Arbeit entdecken kann. Seine jüngere Schwester Bille und vor allem sein Vater verlangen nach seiner Unterstützung und so zieht er erst einmal zurück in die väterliche Wohnung und lernt seine Familie ganz neu kennen. Doch der Winter in Hamburg ist kalt und es dauert lange, bis das Eis schmilzt und Salm erkennt, dass die Enge einer Familie mit allen Anforderungen an ihn dennoch bereichert.
Der NDR hat Rolf Lapperts Roman „Über den Winter“ zum Buch des Monats September gekürt. Julia Westlake stellt das Buch im Interview mit Rolf Lappert vor, den Link dazu finden Sie hier oder indem Sie auf das Bild klicken. Ein ausführliches Porträt zu Rolf Lappert von Heide Soltau, NDR, finden Sie hier.
Rolf Lappert begann seine Lesung mit einem Auszug aus dem Prolog, der mit „Lost Baggage“ überschrieben ist und in dem Lennard Salm angespülte Habseligkeiten an einem Mittelmeerstrand einsammelt und sortiert. Er plant eine neue schockierende Installation, deren Kern das Strandgut bilden soll. Das, was sein Leben nachhaltig verändert, ist der Fund eines toten Säuglings, festgebunden an einem Bootswrack. Diesen Anblick kann Salm nicht vergessen, er begleitet ihn, taucht im Verlauf des Romans immer wieder auf und führt ihm die Sinnlosigkeit seiner Kunst vor Augen. Den Gedanken an eine Ausstellung, da Menschen mit Sektgläsern sich einen Moment von dem erschüttern lassen, was vom Leben der Flüchtlinge übriggeblieben ist und dann wie gewohnt in ihren Alltag zurückkehren, wird ihm unerträglich.
Schon länger steckt Lennard Salm in einer künstlerischen Krise, deren Ursache ihm erst durch den grausigen Fund klargeworden ist. In seine spärlich eingerichtete und ungemütliche Atelierwohnung in New York zieht ihn nichts zurück und als die Nachricht des Todes seiner Schwester ihn erreicht, fügt er sich dem Schicksal, das seinen Weg offenbar schon bestimmt hat. Er kommt im eiskalten Hamburger Winter an – sein Koffer bleibt allerdings verschollen. Zentraler Punkt im Roman ist das Haus, in dem sein Vater wohnt und in dem auch Lennard Salm einen Teil seiner Kindheit verbrachte. Lennard Salm blickt mutig zurück in seine Vergangenheit und bekommt dadurch erst die Chance auf eine Zukunft. Fast scheint das Haus ein Eigenleben zu führen. Im Gespräch betont Rolf Lappert, dass er unbedingt den größten Teil der Handlung in einem Haus stattfinden lassen wollte, um einmal die eigenwillige Dynamik der Nähe und Distanz der Menschen zu zeigen, die unter einem Dach leben.
«Wenn er die Augen schloss und eine Weile wartete, konnte er das Radio in der Küche hören,
seinen Vater, dessen Stimme beim Telefonieren so viel lauter als üblich war, und Bille, die sich aus ihrem Fenster lehnte und die Katze vom dürren Baum im Hof verscheuchte, in dessen Ästen ein dummer Vogel sein Nest gebaut hatte. Über sich konnte er die Schritte von Armin hören, dem Sohn des Hausbesitzers, der in seinem Alter und ein Stotterer war, als habe Gott, an den Salm damals glaubte, den Jungen mit einer Hasenscharte noch nicht hart genug bestraft.
Er stand in der Zeitkapsel seines Zimmers und hörte die Geräusche aus der Wohnung nebenan, in der die Dahlmanns lebten, der Bruder mit seiner blinden Schwester, die Geige spielte, hörte von unten Frau Hinrichsen, die ihren Mann zum Abendessen rief, und das leise Rasseln der Schlüsselbünde an den Wohnungstüren, das Summen der Staubsauger, das Klacken von Geschirr im Wasser der Spülbecken, die einsamen Monologe der Fernseher.»
In Hamburg lernt Lennard Salm seine Familie noch einmal ganz neu kennen, aber auch die Menschen, die mit seinem Vater das Mehrfamilienhaus in Wilhelmsburg teilen. Da ist sein jüngerer Bruder, zu dem er eigentlich nie eine Beziehung aufbauen konnte, seine Schwester Bille, der er einst sehr nah stand, deren Beziehung nun aber nur noch aus glorifizierten Erinnerungen zu bestehen scheint, seine Mutter, der er die Vergangenheit nicht verzeihen kann, sein Vater Albert, der für die Familie auf seine Träume verzichtet hat und Lennard jetzt im Alter dringend braucht und seine polnische Pflegerin Bascha, der junge Lorenz, der mit seiner attraktiven Mutter heimlich im Haus wohnt, Armin Blohm, der Sohn des Besitzers, der ebenfalls ein Geheimnis verbirgt, die alte Frau Hinrichsen, deren Leben mit dem Tod ihres Ehemannes seinen Sinn verloren hatte.
Besonders sind aber auch die immer wieder eingestreuten und doch nur scheinbar unbedeutenden Begegnungen mit Fremden, die Lennard Salm einen kleinen Einblick in ihr Leben gewähren. Der Concierge im Hotel, der türkische Schneider, die Kellnerin oder der Obdachlose mit Erfindungsgeschick – alle Begegnungsperlen glänzen warm aus dem Winterroman hervor und tauen Lennard Salm Stück für Stück auf, geben ihm einen Platz im Leben, den er noch nie hatte, aber immer suchte.
«Lennard Salm, der wieder die schmutzige Hose und das alte Hemd trug, um den Anzug zu schonen
für den nächsten Tag, an dem seine ältere Schwester beerdigt werden würde,
und Demir Mìrkelam, der tadellos gekleidete Schneider, dem vielleicht die Frau davongerannt war
und den seine Kinder für verrückt hielten, lauschten schweigend dem Gesang
eines aus freien Stücken in einem Käfig lebenden Vogels, während draußen
der Verkehr brandete, Leute vorbeihasteten und die Abenddämmerung hereinbrach.»
Die regelmäßigen Meldungen von Alitalia zum Verbleib des vermissten Koffers durchziehen den Roman ebenso wie die Graffiti-Sprüche, die Salm überall entdeckt, die Musik, die er hört und die gut ausgewählten Zitate vor jedem Kapitel. Die Handlung mag erst einmal sehr düster und kalt wirken, aber der Roman hat durchaus auch seine komischen Momente. Eine Szene im Theater, die ich nicht näher beschreiben kann, um dem Leser die Spannung nicht zu nehmen, bringt mich immer noch zum Lachen. Berührt haben mich in erster Linie die Szene auf der zugefrorenen Alster und die liebevollen Rückblicke in die Kindheit, insbesondere die Beschreibungen von Lennards Schwester Bille, die ein ganz besonderer Charakter ist. Über einen weiteren Roman mit Bille als Hauptperson würde ich mich jedenfalls sehr freuen! An der Qualität der sehr authentisch wirkenden Dialoge ist zu erkennen, dass Rolf Lappert weitreichende Erfahrungen als Drehbuchautor hat. Trotz all der Verbindungen, die wie ein feingesponnenes Netz das Buch durchziehen, wirkt die Handlung nicht konstruiert. Lennard Salm lässt sich treiben, ist für alle da, die ihn brauchen und findet auf diese Weise mehr und mehr zu einer inneren Zufriedenheit.
Am besten gelungen sind in meinen Augen die Begegnungen zwischen dem pubertierenden Lorenz und Lennard Salm. Rolf Lappert fängt diese besondere Stimmung zwischen Aufruhr, Freiheitsdrang und Anlehnungsbedürfnis eines Jugendlichen fantastisch ein. Schönstes Element des Buches ist die Pflege des ausgesetzten Pferdes, das eines Tages fast schon zu Eis erstarrt hinter dem Haus steht und für das Lennard Salm fortan mit Lorenz sorgt. Mir schien dieses Pferd für Salm selbst zu stehen, der auch erst nach und nach auftaut und zu Kräften kommt. Im gleichen Maße in dem sich das Pferd erholt, findet auch Salm seinen Platz im Leben. Eine wunderbare Metapher und eine gelungene Ergänzung des übrigen Geschehens.
Rolf Lappert versetzt seine Haupthandlung ins winterliche Hamburg, weil er endlich einen Roman schreiben wollte, dessen Handlung sich nicht im Sommer abspielt und weil er Hamburg sehr liebt. Für die Recherche zu „Über den Winter“ hat er immer wieder einige Wochen in der Hansestadt gelebt und diese Nähe ist in jedem Detail spürbar. Auf die Frage von Antje Flemming, warum keiner seiner Romane bisher sein Heimatland zum Handlungsort habe, erklärte der Schweizer, dass es sich um ein sehr enges Land handle und er sich mit Geschichten außerhalb des Landes stets wohler gefühlt hätte. „Auf meinen Schweiz-Roman muss man wohl noch eine Weile warten“, scherzte er und in der Freien Akademie der Künste freuten sich alle, dass unsere Herzstadt Hamburg die Kulisse für „Über den Winter“ bilden durfte.
Fazit: Das mit „Found Baggage“ überschriebene sechste und letzte Kapitel des Buches schließt eine elegante Klammer um die Handlung und verdeutlicht, dass Salm selbst ein Flüchtling war, einer der immer davonlief und nun gefunden wurde. Als sein Koffer eintrifft, ist auch er endlich in seinem Leben angekommen. Obwohl mich die Darstellung des ausschließlich düsterkalten Hamburgs bekümmerte, waren es die kleinen Dinge, die mich begeisterten: die schrulligen Charaktere und ihre Lebensgeschichten, die vom Erfindungsreichtum des Autors zeugen, hatten es mir besonders angetan und ebenso die Art und Weise wie sich die Lebenswege von Vater und Sohn anzugleichen beginnen. „Über den Winter“ ist ein feinfühliger Familien- Gesellschafts- und Entwicklungsroman, der die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis 2015 verdient hätte! Die zweite Hürde, die Shortlist, ist genommen und es winkt bereits der Gewinn! Ich drücke die Daumen!
Aus gegebenem Anlass: Gestern wurde „Über den Winter“ im Literaturclub des Schweizer Fernsehens besprochen und obwohl es sehr positiv aufgenommen wurde, möchte ich noch eine Anmerkung dazu loswerden, weil sie mir auf der Seele brennt: Was ist mit dieser Gesellschaft passiert, in der der Begriff „Gutmensch“ zu einem Schimpfwort geworden ist? Warum ist es schlimm, wenn ein Mensch nach Kräften versucht, gut zu sein? Ich kann mich von so einer Ansicht nur distanzieren und freue mich sehr über den positiven und hoffnungsvollen Ton, der von Lennard Salm und seiner Denk- und Handlungsweise ausgeht! Aus diesem Grund lasse ich hier ein Gedicht des leider viel, viel zu jung verstorbenen Hamburger Autors Wolfgang Borchert für mich sprechen:
VERSUCH ES
Stell dich mitten in den Regen,
glaub an seinen Tropfensegen,
spinn dich in das Rauschen ein
und versuche gut zu sein!
Stell dich mitten in den Wind,
glaub an ihn und sei ein Kind –
laß den Sturm in dich hinein
und versuche gut zu sein.
Stell dich mitten in das Feuer –
liebe dieses Ungeheuer
in des Herzens rotem Wein
und versuche gut zu sein!
Rolf Lapperts Roman „Über den Winter“ ist im August 2015 im Hanser Verlag erschienen – gebunden, 384 Seiten, EUR 22,90, ISBN 978-3446249059.
Über den Autor: Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschien 2008 der Roman Nach Hause schwimmen, der 2008 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, und Auf den Inseln des letzten Lichts (Roman, 2010). Pampa Blues ist im Frühjahr 2012 erschienen.
Tipp: Am 2. Oktober sendet die ARD um 20:15 die Verfilmung von Rolf Lapperts erfolgreichem Jugendroman „Pampa Blues“ als Erstausstrahlung im deutschen Fernsehen. Den Trailer möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:
Unseren Bericht zur Premierenlesung von Rolf Lapperts „Pampa Blues“ finden Sie hier.
Unsere Rezension zu Rolf Lapperts „Pampa Blues“ finden Sie hier.
Laila Mahfouz, 16. September 2015
Links:
Weitere Informationen zu Rolf Lappert auf der Seite des Hanser Verlages
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Informationen zu Laila Mahfouz