Lesung am 18. April 2018 in der Buchhandlung Lüders in Hamburg: Laetitia Colombani stellte ihren ebenso gelungenen wie verschlungenen Roman »Der Zopf« vor, der nach seinem Riesenerfolg in Frankreich auf Anhieb auch die deutsche Bestseller-Liste stürmte und immer noch den 11. Platz belegt. Sandra Quadflieg begeisterte mit der deutschen Lesung das Publikum.
Verlagstext: Die Lebenswege von Smita, Giulia und Sarah könnten unterschiedlicher nicht sein. In Indien setzt Smita alles daran, damit ihre Tochter lesen und schreiben lernt. In Sizilien entdeckt Giulia nach dem Unfall ihres Vaters, dass das Familienunternehmen, die letzte Perückenfabrik Palermos, ruiniert ist. Und in Montreal soll die erfolgreiche Anwältin Sarah Partnerin der Kanzlei werden, da erfährt sie von ihrer schweren Erkrankung.
Ergreifend und kunstvoll flicht Laetitia Colombani aus den drei außergewöhnlichen Geschichten einen prachtvollen Zopf.
Laetitia Colombani hat für ihren Debütroman »Der Zopf« nicht nur umfassend recherchiert und ist in alle drei Länder gereist, die sie im Roman beschreibt, sie hat auch erfolgreich versucht, für ihre drei Hauptfiguren jeweils einen ganz eigenen Ton zu finden. So wirkt Smitas Sprache ruhig und bedacht, Giulias traditionell, aber dennoch mit einem melodischen und verspielten Rhythmus und Sarahs durch die relativ kurzen Sätze stets wie auf dem Sprung, als hetze sie durch ihr Leben. Die Autorin hätte aber keine Lieblingsfigur, sagte Laetitia Colombani bei der Lesung in der Buchhandlung Lüders. Vielmehr verkörpere jede der Figuren Teile von ihrer eigenen Persönlichkeit. Auf die Frage nach der doch im Großen und Ganzen recht positiv dargestellten Globalisierung erwiderte Laetitia Colombani, sie habe beschreiben wollen, dass alle drei Frauen einem Schicksal unterlägen und dennoch ihre eigenen positiven Energien an den Energiestrom weitergeben könnten, der um die ganze Welt gehe.
Dass alles mit allem verbunden ist, veranschaulicht dieser Roman auf wundersame Weise, denn obwohl sich die drei Frauen nie begegnen werden, sind ihre Leben am Ende miteinander verknüpft.
Smita ist eine Dalit, eine Unberührbare. Sie lebt mit ihrem Mann Nagarajan und ihrer sechsjährigen Tochter Lalita in Badlapur, Uttar Pradesh, Indien und muss als letztes Glied der Kasten-kette tagtäglich mit bloßen Händen die Exkremente der Nachbarn einsammeln, wie es schon ihre Mutter vor ihr getan hat. Den Gedanken, dass ihre Tochter, Lalita, ihr in dieser Aufgabe folgen soll, erträgt Smita allerdings nicht und begehrt auf, versucht alles, damit Lalita es eines Tages besser hat.
»Fortgehen. Dieser Gedanke hat sich Smita aufgedrängt wie eine Weisung des Himmels. […] Sie weiß, dass Vergewaltigungsopfer hierzulande immer als die Schuldigen gelten. Frauen genießen keinerlei Respekt, umso weniger, wenn sie als unberührbar gelten. Diese Kreaturen, mit denen man nicht in Kontakt kommen, ja die man nicht einmal ansehen darf – man vergewaltigt sie völlig ohne Scham. Einen Mann, der seine Schulden nicht begleicht, straft man, indem man sich an seiner Frau vergeht. Einen Mann, der einer verheirateten Frau nachsteigt, straft man, in dem man seine Schwester missbraucht. Die Vergewaltigung ist eine äußerst wirkungsvolle Waffe, eine Massenvernichtungswaffe. […] Jedes Jahr werden in Indien zwei Millionen Frauen ermordet. Zwei Millionen Opfer männlicher Barbarei – und alle Welt schaut gleichgültig zu.«
Smita / Badlapur, Uttar Pradesh, Indien / Seite 109, 114 + 115
In Palermo, Sizilien, hingegen wird Giulia plötzlich mit der Leitung des Lanfredi-Familienbetriebes konfrontiert, einer fast hundert Jahre bestehenden Manufaktur von Perücken aus ausgefallenen oder abgeschnittenen Haaren der Sizilianer, die gesammelt, gewaschen, entfärbt, gefärbt und zu Perücken zusammengesetzt werden, wie es dem alten sizilianischen Brauch der Cascatura entspricht. Giulia ist erst zwanzig Jahre alt und obwohl sie eine durchsetzungsstarke junge Frau ist und an dem Betrieb hängt, ist diese Aufgabe allein kaum zu bewältigen. Unstandesgemäß verliebt sich Giulia zeitgleich auch noch Hals über Kopf in den geheimnisvollen Kamal, einen Sikh. Als ihre Werkstatt vor dem Bankrott steht und ihre Mutter sie zwingen will einen reichen Mann zu heiraten, scheint alles verloren.
»Manchmal hat Giulia den Eindruck, dass die Zeit an diesem Ort stehengeblieben ist. Während sie draußen, vor den Toren der Fabrik, ihren gewohnten Lauf fortsetzt, fühlt man sich hier drinnen vor ihr gefeit. Ein angenehmes, beruhigendes Gefühl, vermittelt es doch die Gewissheit, dass die Dinge von wundersamer Dauer sind. […] Manchmal verfängt Giulia sich in Tagträumereien über die Frauen, für die diese Perücken bestimmt sind.«
Giulia / Palermo, Sizilien / Seite 27 + 29
Die letzte der drei Hauptfiguren, deren Schicksal der Roman erzählt, ist Sarah. Sie lebt in Montreal, Kanada, hat drei Kinder, ist geschieden und versucht unentwegt, ihre berufliche Karriere als Top-Anwältin in einer renommierten Anwaltskanzlei nicht durch ihr Privatleben stören zu lassen. Sie überlässt ihre Kinder lieber anderen, um viel Geld zu verdienen, was ihre Familie und ihre Gesundheit viel kosten wird. Als sie schließlich schwer erkrankt, merkt sie, wie entsetzlich ersetzbar sie ist und wie die Menschen, mit denen sie sich umgeben hat, auf Schwäche reagieren.
»Es braucht mehrere Wochen, in denen man sie nicht um ihre Teilnahme an Geschäftsterminen und an Konferenzen bittet, ihr keine großen Fälle mehr anvertraut oder neue Mandanten vorstellt, bis sie die Gewissheit hat: Man ist dabei, sie kaltzustellen.
Diese Form der Gewalt trägt einen Namen, es fällt ihr schwer, ihn laut auszusprechen: Diskriminierung. […] Sie ist stigmatisiert. In einer Gesellschaft, die Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit preist, haben Kranke und Schwache keinen Platz. Sie, die zur Welt der Mächtigen gehörte, ist ins Wanken geraten und im Begriff, sich auf der anderen Seite wiederzufinden. […]
Sie hätte sich lieber ohrfeigen oder beleidigen lassen, dann wäre die Sache zumindest klar gewesen. Aber diese Art des Mobbings, diese ganz allmähliche Liquidation ist unerträglich.«
Sarah / Montreal, Kanada / Seite 203, 204 + 209
Wie die drei Haarsträhnen, die zum Flechten eines Zopfes benötigt werden, sind die drei miteinander verflochtenen Frauenschicksale zu einem Roman verbunden. Laetitia Colombani wählte daher als Form angenehm kurze Kapitel, in denen sich die drei Handlungsstränge wie die Haarsträhnen eines Zopfes immer in derselben Reihenfolge abwechseln. Anfangs hatte sie noch versucht, den Roman auf eben diese Weise zu schreiben, ging aber dann dazu über, die drei Geschichten einzeln aufzuschreiben und am Ende zu verflechten, wie sie bei der Lesung erzählte. Interessanterweise ist es gerade diese meisterhafte Romankonstruktion, die trotz der Themen und der spannenden Geschichten dafür sorgte, dass in Frankreich vier Verlage den Roman ablehnten, wohingegen gerade die gewählte Form, die unvergleichlich den Inhalt und das Thema des Romans wiedergibt, von der deutschen Kritik gelobt wurde.
Hörbuch: Der Argon Verlag brachte ebenfalls im März 2018 die Hörbuchausgabe von »Der Zopf« (ISBN: 978-3839816196) in zum Glück ungekürzter Form heraus. Sie finden das Hörbuch (5 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 5 Stunden und 40 Minuten) samt Hörprobe hier oder mit Klick aufs Bild. Eine fast dreißig-minütige Hörprobe, die einen noch besseren Eindruck vom Buch vermittelt, finden Sie hier.
Die drei Erzählstränge des Romans werden von drei großartigen Frauenstimmen vorgetragen. Andrea Sawatzki begeistert ihr Publikum schon lange als Schauspielerin und Sprecherin. Ihre mehrfach ausgezeichnete Stimme hat sie bereits vielen Hörbuchbestsellern geliehen. Seit ein paar Jahren ist sie auch als Autorin eigener Romane erfolgreich. Andrea Sawatzki schenkt Sarah genau die richtige Mischung aus Verzweiflung und Wut, so dass sie die Hörer mitfühlen und Anteil nehmen lässt, auch wenn Sarah nicht der sympathischste der drei Charaktere ist.
Eva Gosciejewicz ist neben ihrer gelegentlichen Arbeit als Schauspielerin umfangreich als Sprecherin tätig, sowohl in Hörspielen verschiedener Sender als auch in der Produktion von Hörbüchern. Hervorzuheben sind »Ich bin Malala« über das Leben der Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai und die mit dem als Hörbuch des Jahres 2002 ausgezeichnete Lesung des Jugendromans »Malka Mai« von Mirjam Pressler. Die Figur der Giulia wird von Eva Gosciejewicz einfühlsam und mit leidenschaftlich mediterraner Stimme gelesen.
Valery Tscheplanowa studierte Tanz und Puppenspiel, bevor sie zur Schauspielerei fand. Die Schauspielerin des Jahres 2017 wurde auch mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis, dem Bayerischen Kunstförderpreis sowie dem Kunstpreis Berlin ausgezeichnet.
Sie liest Smita in einer Art Flüsterton, der allerdings um so eindringlicher wirkt und die Stärke der Figur besonders gut ausdrückt. Es wirkt fast, als wollte Smita, die aufbegehrt, sich mit den Gegebenheiten nicht abfindet, auf diese Weise heimlich ihr Tun schildern und gleichzeitig vor der Außenwelt verbergen.
Die Vierte in diesem außergewöhnlichen Bunde ist Vera Teltz, die den Prolog und den Epilog liest, der Giulias eigene Stimme verkörpert. Außerdem liest sie noch die beinahe poetischen „Tagebuch-Einträge“ von Sarah, die die Romanhandlung ab und an unterbrechen.
Der Chor dieser Frauenstimmen setzt den Roman von Laetitia Colombani auf phänomenale Weise um. Trotz all der Kontraste verbinden sich die drei Hauptstimmen auf wundersame Weise zu dem titelgebenden Zopf und werden von Vera Teltz Stimme wie von einer Schleife zusammengebunden.
Ein sehr aufwändig erstelltes, absolut gelungenes Hörbuch!
Achtung – Mini-Spoiler: Das gewollt vorhersehbare Ende der Haare, die diese drei Frauen verbinden, da sie Smita abgeschnitten werden, Giulia sie weiterverarbeitet und Sarah die Perücke letztlich in Anspruch nimmt, ist jedoch nicht der einzige Zusammenhang. Viel subtiler wirkt, wie sich Sarah irgendwann aufgrund ihrer Krankheit in ihrem Job „geächtet“ fühlt, wie jemand, den man nicht ansieht, wie eine Unberührbare. Auch Giulia entdeckt, als sie für ihre Überzeugungen, ihre Ideen eintreten muss, dass sie sich wie eine Anwältin fühlt. Die Frauen tauschen zwar nicht die Rollen, aber verschmelzen auf diese Weise immer mehr miteinander. So deckt Laetitia Colombani die Illusion des Getrenntseins mit der globalen wie spirituellen Verbundenheit auf.
Für ein Buch über die Sehnsucht nach Selbstbestimmung, die Gleichberechtigung der Frauen, die Freiheit einer jeden, ist es ungewöhnlich und besonders schön, dass alle wichtigen Männer im Leben dieser drei Frauen freundlich und unterstützend sind. Sei es Smitas Mann Nagarajan, der unter den gegebenen Umständen sicher ein Geschenk des Himmels ist, oder Kamal, der für die sizilianische Giulia einen ungewöhnlich einfühlsamen Mann darstellt und sie respektiert, oder Sarahs männlicher Babysitter Ron, auf den sich die Anwältin immer verlassen kann – die Männer werden hier nicht als Feindbild beschrieben. Es ist die Gesellschaft an sich, die Politik, die Gesetze, die einer Veränderung bedürfen. Das wird nicht nur im indischen Teil hervorgehoben. Gerade Giulia unterliegt in Sizilien noch sehr dem traditionellen Patriarchat und Sarah muss sich mit den nach wie vor bestehenden Vorurteilen Frauen und insbesondere Müttern gegenüber herumschlagen.
Der Roman »Der Zopf« wurde bereits in 29 Sprachen übersetzt und wird nach einem Drehbuch und unter der Regie von Laetitia Colombani, die in Frankreich als Schauspielerin und Regisseurin bekannt ist (siehe die Einträge in der Internet Movie Database), verfilmt. Der Roman erreichte bereits kurz nach seinem Erscheinen Platz 1 der französischen Bestseller-Liste und ebenso Platz 1 bei Amazon Frankreich. Eine Fortsetzung des Romans ist bisher nicht geplant, aber die Autorin, die, wie sie zugab, offene Enden liebt, schreibt bereits an ihrem zweiten Buch.
Fazit: Laetitia Colombanis Debütroman ist ein besonders schön glänzender Zopf, der aus drei Lebenssträngen starker Frauen geflochten wurde, die alle ihren Weg hin zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung gehen und sich aus alten Mustern befreien. Doch jeden Schicksalsschlag als Chance auf Wachstum, innere Reife und Neubeginn zu begreifen, ist eine schwere Lektion. Laetitia Colombani schafft es, ihre Leser in jeder der drei Romanhandlungen mitfiebern zu lassen. »Der Zopf« ist ein lebensbejahender, Hoffnung spendender Roman über Gleichberechtigung und den Mut, für sich selbst und seine Rechte zu kämpfen. Ein wirklich schönes Buch – nicht nur für Frauen.
Laetitia Colombanis Roman »Der Zopf« (Originaltitel »La Tresse«) ist im März 2018 für EUR 20,00 in der Übersetzung von Claudia Marquardt im S. Fischer Verlag erschienen – gebunden, 288 Seiten, ISBN 978-3103973518.
Wer mehr lesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Laetitia Colombani wurde 1976 in Bordeaux geboren. Sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. »Der Zopf« ist ihr erster Roman und steht seit Erscheinen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die Autorin lebt in Paris.
Laila Mahfouz, 7. Juni 2018
Links:
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Weitere Informationen zu Laetitia Colombanis Roman »Der Zopf« auf der Seite des S. Fischer Verlages.
Informationen zu Laila Mahfouz