Thea Dorns Roman »Die Unglückseligen« verknüpft die Zeit der Romantik mit unserer Gegenwart – in diesem Fall durch Genforschung. Ein zweihundertvierzigjähriger Physiker, eine überambitionierte Molekularbiologin und der Teufel wirbeln durch diesen Faust-Roman. Der Autorin gelingen alle drei Sprechweisen ausgezeichnet. Die Thematik des Romans ist zwar ernst, die Umsetzung jedoch zeugt von viel Humor und Intelligenz.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Johanna Mawet ist Molekularbiologin und forscht an Zebrafischen zur Unsterblichkeit von Zellen. Während eines Forschungsaufenthalts in den USA gabelt sie einen merkwürdigen, alterslosen Herrn auf. Je näher sie ihn kennenlernt, desto abstrusere Erfahrungen macht sie mit ihm. Schließlich gibt er sein Geheimnis preis. Er sei der Physiker Johann Wilhelm Ritter, geboren 1776.
Starker Tobak für eine Naturwissenschaftlerin von heute. Um seiner vermeintlichen Unsterblichkeit auf die Spur zu kommen, lässt sie seine DNA sequenzieren. Als Johannas Kollegen misstrauisch werden, bleibt dem sonderbaren Paar nur eines: die Flucht, dorthin, wo das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und schwarze Romantik sich schon immer gerne ein Stelldichein geben – nach Deutschland.
In ihren handelnden Personen spiegelt Thea Dorn das Trio „Ritter, Tod und Teufel“, denn mit dem Physiker Johann Wilhelm Ritter, der sich in der Tat sehr ritterlich verhält und dem Teufel höchst selbst, waren bereits zwei Teile gegeben, so dass Thea Dorn als Namen für ihre Molekularbiologin Dr. Johanna Mawet wählte, deren Nachname im Hebräischen Tod bedeutet.
Mit nunmehr drei Hauptcharakteren beleuchtet dieses Buch neue Aspekte des alten Faust-Themas, denn einst war der wahre Physiker Johann Wilhelm Ritter (geboren 1776 in Schlesien geborenen / gestorben – oder auch nicht – 1810 in München) besessen davon, alles zu verstehen und sogar bereit, grausame Experimente am eigenen Leib durchzuführen, um endlich auf Antworten zu stoßen. Da er damit kläglich scheiterte und aus unerfindlichen Gründen inzwischen bereits 240 Jahre leben muss (eventuell sogar unsterblich ist), hat er seine Meinung geändert. Heute ist er überzeugt, dass der Mensch gewisse Grenzen nicht überschreiten sollte. Dr. Johanna Mawet ist allerdings von der Wichtigkeit und Richtigkeit ihrer Zellforschung, auch in Bezug auf Humangenetik, überzeugt und geht ihren Weg eisernen Schrittes und mit Scheuklappen vor den Augen.
»Im Leben hatte er sterben, im Tode leben wollen. Jetzt wusste er weder, was das eine noch das andere war.«
(Teil 1, Kapitel II, Seite 35)
Zu Recht beklagt Ritter, Erfinder einer Vorform des Akkumulators und Entdecker der UV-Strahlung, den heutzutage nicht nur in der Forschung vorherrschenden Spezialisierungswahn, der es einem Naturwissenschaftler unmöglich mache, das Ganze zu sehen. Früher gab es mehr Menschen, die wie Goethe auf vielen Gebieten begabt waren. Und ermöglicht nicht erst der Überblick wahre Genialität? Zu seiner Zeit war Ziel der Forschung immer, „die Dinge zum Klingen zu bringen“ und mit allem in Kontakt zu treten. Aufgrund seiner unermüdlichen Forschung bewunderten ihn Humboldt, Goethe, Herder, Schlegel oder Brentano. Heute scheinen sich die Forscher von der Natur leider immer mehr zu entfernen. Über dieses Thema streitet er im Roman mit Johanna mehrfach:
»Die früheren Forscher waren blind für das Leben im Unsichtbaren. Glauben Sie nicht, dass die Natur sich freut, wenn der Mensch nun wirklich zu begreifen beginnt, wie kunstvoll sie im Innersten funktioniert?«
»Funktioniert!«, äffte er sie nach. »An dies Wort habt ihr Professionisten euer Herz gehängt! Anstatt den Weltatem zu fühlen, der alles durchströmt, seht ihr Teile bloß und meint gar noch, ihr gewönnet etwas, wenn’s immer kleinere und kleinere Teile werden, die ihr sichtbar macht. Ich sage dir, was ihr gewinnt: Den Lebenstod vollendet ihr, der mit Descartes und Newton hat begonnen. Kein Klingen von Sphären hört ihr mehr, nur eines Uhrwerks Rattern und Klappern, und seid’s erst zufrieden, wenn ihr selbst das noch zum Verstummen gebracht.«
(Teil 1, Kapitel VI, Seite 127 / 128)
Im Interview gibt Thea Dorn zu, dass auch in ihrer Brust zwei Herzen schlagen und sie sich mit der wissenschaftlichen Johanna und dem naturerhöhenden Ritter gleichermaßen verbunden fühlt. Zu dieser Ambivalenz sagte sie:
»Deshalb konnte ich über dieses existenziell verwirrende Thema keinen Essay schreiben, in dem ich eine klare Position beziehen müsste – stattdessen musste ich es literarisch erkunden, denn nur in einem Roman habe ich die Möglichkeit, in verschiedene Rollen abwechselnd zu schlüpfen.«
Die Molekularbiologin Johanna will unbedingt Ritters Genom entschlüsseln, um seinen unerklärbaren Regenerations- und Heilungsfähigkeiten auf die Spur kommen. Da der Physiker zu diesem Zeitpunkt schon in sie verliebt ist, lässt er sich überreden, mit ihr nach Deutschland zurückzukehren und ihr als Versuchskaninchen zu dienen. Der erste Teil des Romans ist daher in den USA, der zweite in Deutschland verortet.
Nach vielen Experimenten bringen der junggebliebene Greis und die Erschütterung ihres Weltbildes Johanna allerdings doch zum Umdenken.
Die von der Autorin gewählte relativ neutrale Erzählform wird vielfach von der dritten Hauptperson, dem Teufel, unterbrochen. Dieser Teufel spricht den Leser direkt an, ebenso Johanna und Ritter, die ihn allerdings wohl „leider“ nicht hören können. Einmal wird auch der Setzer des Buches angerufen, um aus der Fraktur-Schrift eine heute lesbare zu machen. Der Teufel kommentiert jederzeit die Handlung, gibt dem Leser Hintergrundwissen, um die Ereignisse ins „rechte“ Licht zu rücken und teilt unverblümt seine Meinung mit. Er liebt die Menschen und hat eine Vorliebe für Johanna, weil er vermutet, dass sie mit ihrer Forschung erfolgreich sein könnte. Für ihn käme dies dem Sieg über Gott gleich, denn er vermutet, dass dieser für die Menschen überflüssig wird, wenn die Angst vor dem Tod nicht mehr existiert. Der Teufel ist es auch, der das erste und das letzte Wort hat, doch ob er schließlich Johann Ritter oder Johanna erhört, verrate ich an dieser Stelle nicht.
»Sollte er ihr anvertrauen, dass er – im Angesicht der Erkenntnis, dass nicht allein Gott sich von ihm abgewandt, sondern auch der Teufel kein Interesse, ihm zu antworten – einst den nämlichen Zorn, den nämlichen Schmerz verspürt? Bis zu jenem Tage, da er begriffen, dass einzig der Unglückseligen Unglückseligster dahin sich verirrte, des Menschen Teufelsverlassenheit zu beklagen?«
(Teil 2, Kapitel XX, Seite 491)
Seit dreißig Jahren fasziniert Thea Dorn der Faust-Stoff und da sich seit Thomas Mann vor immerhin fast siebzig Jahren kein deutscher Schriftsteller dieses Themas angenommen hat, erschien eine aktuelle Version, die die Zerrissenheit unserer Zeit darstellt, überfällig. Als Opus Magnum wird ihr Roman bezeichnet und bei Betrachtung der Herausforderung, der sie sich gestellt hat, muss ich zustimmen. Vier Jahre hat Thea Dorn an dem Roman gearbeitet. Die naturwissenschaftliche Recherche erwies sich als Mammutprojekt. Die Autorin hat sich ihr Wissen in Zusammenarbeit mit Molekularbiologen und einem Physiker hart erarbeitet, um es im Roman so leicht aus dem Ärmel schütteln zu können. Auch die Recherche um Johann Wilhelm Ritter, dessen Biografie von seinen dreiunddreißig wirklichen Lebensjahren auf weitere zweihundertsieben Jahre erweitert werden musste, war keine leichte Aufgabe. Denn alles, was ab dem Jahr 1810 in Ritters Leben geschah, musste Thea Dorn erfinden und wollte dabei sicherstellen, dass alles außerhalb ihres Plots der Realität entspricht. Im Interview mit dem Bücherjournal sagte sie im April 2016:
»Wenn man den verstiegenen Entschluss fasst, einen Faust schreiben zu wollen, muss man eine gewisse Portion von eben dieser Besessenheit, die diese Figur auszeichnet, schon selber mitbringen.«
Trotz der Recherche zu ihrem letzten Buch »Die deutsche Seele«, das sich mit der Zeit der Romantik beschäftigt, gingen für die Recherche zu »Die Unglückseligen« zwei Jahre ins Land. Die letzten beiden Jahre hat die Autorin dann fast ausschließlich geschrieben und das auch noch in einer Sprache, vor der ich nur den Hut ziehen kann. Ihr Ritter spricht schlesisches Altdeutsch und die Sprache des Teufels bringt mich ins Schwärmen. Thea Dorn wollte der grassierenden Spracharmut unbedingt die Schönheit und den Reichtum der deutschen Sprache entgegenstellen. Das ist ihr gelungen!
Der Hörbuchverlag brachte ebenfalls im Februar die Hörbuchausgabe von »Die Unglückseligen« – zum Glück – in ungekürzter Form heraus. Gelesen wird das Buch virtuos von der Schauspielerin Bibiana Beglau.
Eine Hörprobe finden Sie mit Klick aufs Bild oder hier.
Sie spricht so leidenschaftlich, dass manchmal ein Satz nicht ganz Wort für Wort wiedergegeben wird. Dem ausgezeichneten Hörvergnügen tut dies keinen Abbruch. Der Zuhörer sollte allerdings wirklich konzentriert sein, um dem Roman auf diese Weise folgen zu können. Das Buch fordert und das Hörbuch ebenso. Aufgrund der teilweise poetischen Versform ist es zu empfehlen, das Hörbuch auch dann noch zu hören, wenn das Buch bereits gelesen wurde. Dies ist ein Text, der streckenweise (besonders die Passagen des Teufels) wirklich gesprochen werden sollte.
Das ganze Buch ist auf 2 MP3 CD’s verteilt und hat eine Laufzeit von 18 Stunden und 48 Minuten.
Thea Dorn lässt Johanna und Ritter am Ende vom ersten Teil des Buches dem 7. Weltkongress der Immortalisten in den USA beiwohnen. Die Gesellschaft der Immortalisten ist eine tatsächlich existierende Gruppe, die sich der Unsterblichkeit verschworen hat. Obwohl der Kongress eine bisweilen zermürbende Lektüre darstellt, ist dieser Teil sowohl gelungen als auch erschreckend. Der goethischen Walpurgisnacht entsprechend benehmen sich die meisten der Anwesenden sehr sonderbar – ganz besonders von Ritters Standpunkt aus betrachtet.
Die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit der Genforschung stellt dieser Roman gewiss. Nur weil wir die Mittel haben, ist eine Umsetzung nicht immer richtig. Auch Albert Einstein wünschte später, die Atombombe wäre nie erfunden worden. Nicht mehr wissen, was wir wissen, ist unmöglich, aber für unseren Umgang mit diesem Wissen, für unsere Handlungen und die Umsetzung unserer Gedanken sind wir immer noch verantwortlich.
Der Einfallsreichtum der Autorin ist faszinierend. Sie ergänzt ihren Roman um einen Brief aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, Comic-Sprechblasen, DNA-Code-Reihen und sogar um die Geschichte einer Fledermaus, die den Winterschlaf boykottiert. All diese Elemente ergeben, wenn man hinreichend gründlich darüber nachdenkt, Sinn und bereichern den Text sehr. Jeder Kapitelanfang ist außerdem eine schön gestaltete Vignette. Der Knaus-Verlag, genauer der für den Satz zuständige Oliver Schmitt, hat hier wirklich beste Arbeit geleistet. Auch hätte für diesen Roman wohl kein passenderes Titelbild ausgewählt werden können als »Death and the Maiden« von James C. Christensen. Sieht man darin die Hauptfigur Johanna Mawet und erinnert, dass ihr Name Tod bedeutet, so bekommt das Bild noch einmal eine weitere Bedeutungsebene.
»Ganz und gar verkehrte Welt, in der das Träumen begann, nachdem der Mensch erwacht!«
(Teil 2, Kapitel XXI, Seite 503)
©Peter Rigaud
Fazit: Thea Dorns Roman »Die Unglückseligen« ist eine Leistung, der man Respekt zollen muss. Das Werk komplex zu nennen, wäre eine starke Untertreibung. Einmal mehr muss ich Denis Scheck beipflichten, der »Die Unglückseligen« als „Glücksfall für die deutsche Gegenwartsliteratur“ bezeichnet hat. Allen Liebhabern der deutschen Sprache, allen, die von der heutigen Humangenetik fasziniert oder abgestoßen sind, allen, die wissen wollen, was das Faust-Thema auch heute noch oder gerade heute so spannend macht, kann ich die Lektüre von »Die Unglückseligen« empfehlen.
Thea Dorns Roman »Die Unglückseligen« ist im Februar 2016 im Knaus Verlag erschienen – gebunden, 560 Seiten, EUR 24,99, ISBN 978-3813505986.
Über die Autorin: Thea Dorn (eigentlich Christiane Scherer – der Künstlername Thea Dorn entstammt ihrer Bewunderung für Theodor Adorno) wurde 1970 in Offenbach am Main geboren, studierte Philosophie und Theaterwissenschaften in Frankfurt, Wien und Berlin und arbeitete als Dozentin und Dramaturgin. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane und Bestseller (u.a. »Die Hirnkönigin«), Theaterstücke, Drehbücher und Essays (u.a. »Die neue F-Klasse – Wie die Zukunft von Frauen gemacht wird«) und zuletzt mit Richard Wagner den Sachbuch-Bestseller »Die deutsche Seele«. Sie moderierte die Sendung Literatur im Foyer im SWR-Fernsehen und kuratierte unter dem Motto „Hinaus ins Ungewisse!« das forum:autoren beim Literaturfest München 2012. Der Film »Männertreu«, zu dem sie das Drehbuch geschrieben hat, wurde 2014 mit dem Deutschen Fernsehpreis als bester Fernsehfilm des Jahres und 2015 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Thea Dorn lebt in Berlin.
Laila Mahfouz, 10. Juni 2016
Links:
Informationen zu Thea Dorn auf der Seite des Knaus Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Der Knaus-Verlag hat eine Spezial-Seite mit Interview und Beschreibung der handelnden Personen erstellt. Sie finde diese Knaus Verlages.
Hier ein kurzes Interview mit Thea Dorn zu ihrem Roman »Die Unglückseligen«
Ein Interview aus dem Februar 2016 mit Thea Dorn zu »Die Unglückseligen« in Denis Schecks Sendung Druckfrisch finden Sie hier.
Die Besprechung von Thea Dorns »Die Unglückseligen« im Literaturclub im März 2016 finden Sie hier.
Mehr Informationen zu Thea Dorn finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.