11. April 2015: Das Literaturzentrum lud zum Hamburger LeseFrühstück mit Tobias Sommer. Der Autor las aus seinem aktuellen Roman “Jagen 135”.
Handlung: Konrad Jagen, ein erfolgreicher und anerkannter Fotograf, der mit seinen Kriegsfotografien reich wurde, soll einen versteckten Ort im Wald ablichten, an dem sich seit Jahrhunderten Lebensmüde einfinden, um den Freitod zu wählen. 132 sollen es insgesamt schon gewesen sein; der letzte Suizid liegt über ein Jahr zurück.
Aus dem ursprünglich geplanten dreitägigen Aufenthalt des Fotografen werden Wochen, denn er steigert sich in die Suche nach dem Ort mitten im Wald hinein, verliert sich. Doch der unheimliche Wald will sein Geheimnis nicht preisgeben. Jagen trifft andere Menschen, die ebenfalls auf der Suche sind und muss zusehen, wie sie in ihr Unglück laufen, ohne sie aufhalten zu können. Warum schweigen alle Dorfbewohner hartnäckig und lassen Jagen in die Irre laufen? Warum sind die teilweise sehr erfolgreichen Menschen so unglücklich gewesen, dass sie ihrem Leben ein Ende setzten?
»Ich habe mich verloren in der Vorstellung, wo der Ort sein könnte. […]
Ich befinde mich in der Nähe des Zentrums und mir bleiben wenige Stunden Tageslicht,
wenige Stunden für zwanzig brauchbare Fotos, Bilder von einem Ort,
an dem unzählige Menschen ihr freiwilliges Ende fanden.«
Von Anfang an fühlte ich mich von den Beschreibungen des Waldes angezogen, konnte darin versinken. Im Grunde ist der Wald und nicht Konrad Jagen die eigentliche Hauptperson in Tobias Sommers neuem Roman. Da der Wald aber ebenso gut für den Fotografen selbst stehen könnte, verliert er sich sozusagen in sich selbst. Der Wald ist undurchdringlich, unergründlich, verwirrend, beklemmend, gespenstisch und mit einem unheimlichen Eigenleben ausgestattet. Im Grunde glaubt Jagen nie wirklich daran, dass seine Bilder dem Betrachter eine Erklärung für die Selbstmorde geben werden. Dennoch macht er sich auf die Suche, um sich selbst das Phänomen zu erklären. Die Suche nach dem Ort, der scheinbar glückliche und zufriedene Menschen veranlasst, ihr Leben zu beenden, gestaltet sich wesentlich schwieriger als Konrad Jagen es sich vorgestellt hatte. Je tiefer er in den Wald eindringt, desto genauer erkennt er sein eigenes Leben, hinterfragt die Beweggründe seines Handelns und die Rechtfertigung seines Erfolges. Er stolpert durchs Unterholz, fühlt sich verfolgt, versteckt sich oder versucht seinen Verfolger zu verfolgen, kennt irgendwann alle Büsche, Winkel, Abzweigungen, doch geht er nur scheinbar jeden Zentimeter des Waldes ab, denn er findet doch immer nur sich selbst. Auch die Anzeichen eines aufkeimenden Weltkrieges können Konrad Jagen nicht mehr ablenken. Als er nach endlosen Wochen endlich den Ort entdeckt, der die mögliche Ursache für das magnetische Unglück sein könnte, ist das Schicksal schon nicht mehr aufzuhalten.
»Ich muss einsehen, ich habe das Gebiet unterschätzt,
es ist in seinen Ausmaßen und in seiner Dichte mächtiger, als es meine Landkarte vermittelt,
und ich begreife, die Karte ist allenfalls ein Auszug, das Puzzleteil von etwas Größerem,
in dem ich mich verlaufen kann.«
Tobias Sommer zeichnet mit seiner klaren, schönen Sprache eine detailreiche Landkarte des Waldes. Nach einer Weile fühlte ich als Leser die Dunkelheit, die Kühle des Waldes und ich hörte die Insekten summen. Manchmal habe ich mich dabei ertappt, nicht wieder in den dunklen Wald gehen zu wollen, denn die düstere Anfangsstimmung wird im Verlauf des Romans immer schwärzer. Das Umschlagbild (Jeremy Geddes) zeigt eine Person, die gelähmt in eine bodenlose Tiefe stürzt. Es vermittelt eindrücklich die Stimmung, die Konrad Jagen im Wald überfällt, ohne dass er es anfangs merkt.
»Das Insekt wird weitersummen, auch wenn du es tötest.«
Entgegen der Dunkelheit und Unheimlichkeit des Waldes, schien die Sonne in den gemütlichen Frühstücksraum des Hotels Wedina, als die Zuhörer gespannt dem von Alexander Häusser befragten Autor lauschten. Ganz bewusst hatte sich Tobias Sommer dafür entschieden, seinen Text von Raum und Zeit loszulösen – nicht festzulegen. Er wollte, dass die Romanhandlung ebensogut im Jahr 1910 wie im Jahr 2010 angesiedelt sein kann und hat daher im Text auf jede digitale Technik verzichtet. Keine Mobiltelefone, keine Faxgeräte oder Internet stören die absolute Abgeschiedenheit des Waldes, der Menschen fängt wie eine fleischfressende Pflanze.
»Der Freitod ist verwirrend wie die Krone einer hundert Jahre alten Eiche.«
Einmal versucht Konrad Jagen, den Wald und sein Projekt hinter sich zu lassen. Er steigt in einen Bus und verlässt das Dorf, nur um am Ende der Strecke wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Diese Busszene, die, wie Tobias Sommer erklärte, eine Schlüsselszene des Romans ist, wollte der Verlag ursprünglich streichen. Allerdings wird gerade durch sie deutlich, dass Konrad Jagen sich wie der Mond in einer festen Umlaufbahn um den Wald befindet, aus der es kein Entkommen gibt.
Fazit: Tobias Sommers “Jagen 135”, der für den Ingeborg Bachmannpreis 2014 nominiert war, ist ein gelungener, atmosphärisch dichter Roman, der zum Nachdenken anregt, in den Bann zieht und nicht so schnell loslässt. Verfolgungswahn und ganz reale Bedrohungen wechseln sich eben so ab wie Thrillerelemente und philosophische Betrachtungen. Für alle, die eine schöne Sprache und kafkaeske Welten mögen (und sich am Ende nicht in deren Dunkelheit ziehen lassen), ist dieser Roman eine Empfehlung.
Hinweis: Ein ehemaliger Selbstmörderfriedhof Berlins befindet sich im “Jagen 135 des Grundewaldes”.
Tobias Sommers Roman “Jagen 135” ist im Februar 2015 im Septime Verlag für EUR 21,90 erschienen – gebunden, 286 Seiten, unter ISBN 978-3902711366.
Laila Mahfouz, 8. September 2015
Links:
Website von Tobias Sommer
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Informationen zu Tobias Sommer auf der Seite des „Septime Verlages“
Meine Rezension zu den ersten beiden Romanen von Tobias Sommer finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.