Jean-Marc Ceci erzählt in seinem Debütroman »Herr Origami« von der Kraft der Liebe und der japanischen Kunst des Papierfaltens – Origami. Die Schlichtheit des kurzen Textes verströmt eine angenehme Mischung aus Poesie und Philosophie, die zum Langsamlesen und zum Nachdenken einlädt.
Inhalt (dem Verlagstext entnommen): Ein junger Japaner reist auf der Suche nach seiner großen Liebe nach Italien. Als er sie nicht finden kann, wählt er ein Leben in Abgeschiedenheit. In der Toskana widmet er sich ganz der Meditation und der Herstellung von Washi, traditionellem japanischem Papier, das zum Falten von Origami benötigt wird. Jahrzehnte später besucht ihn ein junger Uhrmacher. Der Mann arbeitet an einer hochkomplizierten Uhr, die sämtliche Zeitmessungen abbilden soll. Die Begegnung gibt dem Leben beider Männer eine völlig neue Richtung. Ein verzaubernder, poetischer Roman, so klar und formvollendet wie ein Origami.
Der junge Meister Kurogiku, dessen Name Schwarze Chrysantheme bedeutet, die aufgrund ihrer sehr langen Blütezeit als Sinnbild für Glück und Wohlstand gilt, hat die italienische Touristin nur ein einziges Mal gesehen und doch ist er überzeugt davon, in ihr seine große Liebe gefunden zu haben. Diese Gewissheit ist ihm Grund genug, seine Familie, all seine Güter und Privilegien hinter sich zu lassen und von heute auf morgen mit nur drei Baumsetzlingen nach Italien zu reisen. Obwohl er seine Traumfrau nicht findet, lässt er sich in der Toskana in einer Ruine nieder.
Nach fünfzehntägiger Reise kommt Meister Kurogiku völlig mittellos in Italien an, in der Toskana.
Er findet eine Ruine für die Nacht. Er pflanzt drei Baumsetzlinge und schläft ein.
Teil 1 / Washi / Seite 19
Vierzig Jahre verbringt Meister Kurogiku in der Ruine, die inzwischen von mehreren Alleen von Kōzo-Bäumen (Papiermaulbeerbaum) umgeben ist. In Geduld und Vertrauen auf sein Schicksal wartet er hier auf den Tag, der ihn mit der schönen Unbekannten wieder zusammenführt. Meister Kurogiku stellt in dieser Zeit Papier aus den Kōzo-Bäumen her, wie er es daheim in Japan gelernt hat. Aus den schönsten Seiten faltet er Origami-Kraniche, die anderen Blätter verkauft er. Schließlich entfaltet er seine Kraniche wieder und meditiert in Zazen-Haltung in Betrachtung der entstandenen Faltlinien, die so einzigartig wie Fingerabdrücke sind. So verstreichen die Jahre in Ruhe, Harmonie und Meditation.
Eines Tages erreicht der junge Uhrmacher Casparo die Ruine und trifft dort auf Elsa, die ihm den Weg zu Meister Kurogiku weist. Casparo wird schließlich einige Zeit bleiben und mit viel Geduld gelingt es ihm, immer weiter in Meister Kurogikus geschlossene Welt einzudringen. Er vertraut dem alten Mann an, dass er die komplizierteste Uhr der Welt erschaffen möchte, die alles anzeigt, was der Mensch an wichtigen Zeiteinteilungen ersonnen hat.
Meister Kurogiku: »Wenn man sich ausgehend von den Faltlinien eines kleinen Papierquadrats von zehn mal zehn Zentimetern nicht vorstellen kann, welche Form sie ergeben, ist es sinnlos, verstehen zu wollen, woher wir kommen und wohin wir gehen. […]
Sie haben mir gesagt, Sie suchen nach dem Maß der Zeit. Der Mensch versteht die Zeit nicht. Der Mensch hat ihre Messung erfunden. Er hat die Zeit um ein Ziffernblatt gewickelt und dann gefaltet. […] In Sekunden. In Minuten. In Stunden. In Tage. In Wochen. In Monate. In Jahre. In Jahrhunderte. In Jahrtausende. In Zeitalter. In Ewigkeit. Der Mensch weiß, was die Sekunde und das Jahrtausend sind. Eine Kratzspur in der Zeit. Eine Falte in der Linie der Zeit. Aber die Zeit, die Zeit selbst, die Linie, die keine Falte hat, die weder Anfang noch Ende noch Maß noch Tiefe kennt, versteht der Mensch nicht.«
Teil 3 / Zen / Seite 99 + 100
Auch Meister Kurogiku beginnt, sich langsam zu öffnen und staunend lauscht Casparo seiner ungewöhnlichen Lebensgeschichte zwischen Japan und Italien. Bald müssen die beiden unterschiedlichen Männer feststellen, dass das Schicksal sie nicht grundlos zusammengeführt hat.
Kuroguki und Casparo sind wie zwei Waagschalen, die einander erst durch ihre Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Gegenüber in wahre innere Balance gelangen lassen. Der eine lebt die Zeit, der andere versucht, die Zeit in Uhren zu bannen. Erst gemeinsam erkennen sie im anderen das fehlende Glied ihrer Überlegungen.
Kann die Zeit ergründet werden? Wird Meister Kuroguki die Frau finden, zu deren Suche er einst aufgebrochen ist oder hat er die wahre Signorina Tschão eventuell schon vor Jahrzehnten gefunden und es vielleicht nicht einmal gemerkt?
Und während der alte und der junge Mann sich unterhalten, aber meist schweigend gegenübersitzen, streicht ihnen die Katze Ima um die Beine, die immer dem gehört, der sich um sie kümmert. Kein Mensch ist wohl je so frei wie eine Katze, insbesondere wenn ihr Name Ima (zu deutsch: Jetzt) lautet.
Auf der ganzen Welt bekannt ist die Geschichte von Sadako Sasaki, die auch in »Herr Origami« nacherzählt wird: Im Alter von neun Jahren erkrankte das Mädchen an Leukämie – eine Spätfolge der Atombombe, welche die USA auf Hiroshima abwarfen. Irgendwann wurde sie an die Legende der tausend Kraniche (千羽鶴, Sembazuru) erinnert. Diese besagt, dass demjenigen, dem es gelingt, tausend Origami-Kraniche zu falten, ein Wunsch erfüllt wird. Obwohl Sadako trotz ihres schwachen Zustands Kraniche faltete, erfüllte sich ihr größter Wunsch, die Krankheit zu besiegen, nicht. Am 25. Oktober 1955 starb Sadako Sasaki im Alter von zwölf Jahren. Diesem tapferen Mädchen sind weltweit viele Anti-Kriegsdenkmäler gewidmet, die alle das Symbol des Origami-Kranichs teilen.
Wie die Geschichte von Sadako ist »Herr Origami« eine Geschichte voller Hoffnung und dem Glauben daran, dass alles zum Guten führt. Solange wir nur mutig unseren Weg gehen, so wie es Meister Kuroguki getan hat, als er alles aufgab, um seine große Liebe zu finden und als Erklärung für sein Verhalten nur sagt:
»Was nützt uns alles Haben, wenn es uns an Sein fehlt.«
Teil 4 / Ima / Seite 139
Jean-Marc Cecis Roman »Herr Origami« gleicht in seiner Konstruktion wirklich einem Meisterwerk der japanischen Papierfaltkunst. Das Buch, so wie es sich dem Leser entfaltet, ist in die vier Teile WASHI (Papier des Friedens und der Harmonie), ORIGAMI (Papier falten), ZEN und IMA (Jetzt) gegliedert, die durch Kapitelüberschriften mit Kanji-Schriftzeichen gekennzeichnet sind. Die Schriftzeichen wiederholen sich auf jeder Seite des jeweiligen Buchteils.
Jede Seite ist mit sehr wenig Text bedruckt, aber mit genug, um mindestens einen komplexen Gedankenprozess anzustoßen. Tatsächlich trägt der minimalistische Charakter des Buches zu dem Sogfaktor bei, den die Geschichte auslöst.
Auf nur 160 Seiten entfaltet der Autor in seinem Debütroman eine ganz besondere Lebensgeschichte, die weder in zu wenigen noch in zu vielen Worten erzählt ist. Gerade diese Schlichtheit, die hohe Kunst des Weglassens ist es, die Jean-Marc Ceci als Zen-Meister der Worte entlarvt und »Herr Origami« zu einem Buch macht, das in der Hektik unserer Tage immer wieder gelesen werden sollte. Die wundersame Philosophie der Origami-Kunst wird durch zarte Bilder und eine langsame Erzählweise erklärt und durch viele Wiederholungen, die wie die Falten der Geschichte wirken. An Weisheiten und Vieldeutigkeiten ist das Buch so reich wie es dünn ist. Am Ende bleiben nur zwei Wege, entweder das Buch zuklappen und in Ruhe über das Gelesene nachdenken oder gleich wieder am Anfang beginnen, um den Zauber nochmals zu erleben und um das bisher am Wegesrand Versäumte beim zweiten Mal aufzulesen.
Casparo: »Der Tag und das Jahr sind die einzigen Realitäten der vergehenden Zeit und die Maße, die der Mensch erfassen kann: die Drehung der Erde um sich selbst. Und die Drehung der Erde um die Sonne. Der ganze Rest ist Literatur. Mathematik. Falten.«
Teil 4 / Ima / Seite 145
Fazit: »Herr Origami« ist ein bemerkenswerter Debütroman. Jean-Marc Ceci erweist sich als ein Autor, der mit wenigen Worten und leisen Gesten große Weisheit vermitteln kann. Auf seiner Reise zwischen Japan und der Toskana, zwischen östlicher und westlicher Kultur und besonders zwischen Poesie und Philosophie folgen die Leser ihm wie bei einem meditativen Spaziergang, der die Sinne schärft, so dass am Ende des Weges beim Zuklappen des Buches der Blick auf die Welt klarer ist als zuvor.
Machmal ist das Kleine wirklich groß und weniger in der Tat mehr. »Herr Origami« ist ein wunderschön gestaltetes Büchlein, das ich jedem empfehle, der sich der Ruhe der literarischen Meditation hingeben will und das sich bestens als Geschenk auch für gestresste Menschen eignet, denn die Lesezeit beträgt etwa eine Stunde, wenn man keine allzu großen Denkpausen macht.
Jean-Marc Cecis Roman »Herr Origami« (Originaltitel »Monsieur Origami«) ist im September 2017 in der Übersetzung von Claudia Kalscheuer für EUR 18,00 im Hoffmann und Campe Verlag erschienen – gebunden, 160 Seiten, ISBN 978-3455001518.
Eine Leseprobe finden Sie hier.
Über den Autor: Jean-Marc Ceci, geboren 1977, hat die italienische und belgische Staatsbürgerschaft. Er lehrt Rechtswissenschaften und lebt mit seiner Familie in Südbelgien. »Herr Origami« ist sein erster Roman.
Laila Mahfouz, 9. Oktober 2018
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Weitere Informationen finden Sie auf der Seite des Hoffmann und Campe Verlages hier.