Lesung am 24. April 2018 in den Hamburger Kammerspielen: Bernhard Schlink las aus seinem Roman »Olga«. In seinem aktuellen Roman führt der Schriftsteller seine Leser durch das Leben seiner wissbegierigen und willensstarken Titelfigur und erzählt das letzte Jahrhundert aus drei sehr unterschiedlichen Perspektiven.
Verlagstext: Die Geschichte der Liebe zwischen einer Frau, die gegen die Vorurteile ihrer Zeit kämpft, und einem Mann, der sich mit afrikanischen und arktischen Eskapaden an die Träume seiner Zeit von Größe und Macht verliert. Erst im Scheitern wird er mit der Realität konfrontiert – wie viele seines Volks und seiner Zeit. Die Frau bleibt ihm ihr Leben lang verbunden, in Gedanken, Briefen und einem großen Aufbegehren.
Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« war vor Jahren der erste deutschsprachige Roman auf Platz 1 der Bestsellerliste der New York Times. Das Buch wurde in 51 Sprachen übersetzt und auch Stephen Daldrys gleichnamige Verfilmung des Romans mit David Kross, Ralph Fiennes und Kate Winslet in den Hauptrollen war sehr erfolgreich. Für die literarische Auseinandersetzung mit Opfern und Tätern der Nazi-Diktatur wurde Bernhard Schlink mit nationalen und internationalen Preisen sowie mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet.
Sein neuer Roman »Olga« erschien im Januar 2018 und erzählt eine fiktive Biographie und damit fast das ganze letzte Jahrhundert. Seine Hauptfigur Olga ist ein sehr kluges und wissbegieriges Mädchen. Nachdem ihre Eltern sterben, muss sie im ländlichen Pommern bei ihrer Großmutter aufwachsen, wo ihre Chancen auf Bildung sehr schlecht stehen und sie sich noch einsamer fühlt, als sie es schon vorher war.
Alles war Olga fremd: nach der großen Stadt das kleine Dorf und das weite Land, nach der Mädchenschule mit vielen Klassen die Schule für Jungen und Mädchen in einem Raum, nach den lebhaften Schlesiern die ruhigen Pommern, nach der herzlichen Nachbarin die abweisende Großmutter, nach der Freiheit zu lesen die Arbeit auf dem Feld und im Garten. Sie fügte sich, wie arme Kinder es von früh an tun. Aber sie wollte mehr als die anderen Kinder, mehr lernen, mehr wissen, mehr können. […] Sie sehnte sich nach anderen, die ebenfalls nicht dazugehörten.
Erster Teil / Kapitel 2 / Seite 11 + 12
Tatsächlich findet Olga in dem sich am liebsten rennend fortbewegenden Herbert, dem Sohn reicher Gutsbesitzer, ihren Gegenpart im Leben. (Das reale Vorbild, das Bernhard Schlink für Herbert verwendet, ist übrigens der Polarforscher Herbert Schröder-Stranz.) Auch Herbert fühlt sich unverstanden und allein, auch er ist ein Sonderling und Einzelgänger. Und obwohl die beiden immer eine gegensätzliche Ideologie verfolgen, verlieben sie sich ineinander.
Olga träumt vom staatlichen Lehrerinnenseminar in Posen. Gern würde sie vierzehn Kilometer täglich gehen, um die Höhere Mädchenschule in der Kreisstadt zu besuchen, doch sowohl ihr Lehrer, der Pfarrer als auch ihre Großmutter empfinden Weiterbildung für eine junge Frau als überflüssig. Doch Olga lässt sich nicht aufhalten. Vor den absichtlichen Störungen der Großmutter flüchtet sie sich täglich an den Waldrand, um für die Aufnahmeprüfung zu lernen.
Herbert bewundert Olga für ihre Klugheit und ihre Willensstärke, aber kann ihren Wissenshunger nicht verstehen. Er will alle Dinge selbst erfahren. Obwohl er die Treffen mit Olga am Waldrand liebt, träumt er von der Unendlichkeit der Welt.
»Was willst du mit der Unendlichkeit, wenn du sie erreichst?«
Herbert schwieg und richtete den Blick in die Ferne. Olga setzte sich auch auf. Was sah er? […] Der Himmel war wolkenlos, die Sonne stand in Olgas und Herberts Rücken und ließ alles für sie leuchten, das Grün der Pflanzen und Bäume und auch das Braun des Bodens. […]
Er wandte ihr das Gesicht zu und lächelte verlegen, weil er nicht weiterwusste, obwohl er sicher war, es müsse für seine Frage eine Antwort, für seine Sehnsucht eine Erfüllung geben. Sie hätte ihn in den Arm nehmen und ihm über den Kopf streichen mögen, traute sich aber nicht.
Seine Sehnsucht berührte sie wie die Sehnsucht eines Kindes nach der Welt. Aber weil er kein Kind mehr war, spürte sie in seiner Sehnsucht, seiner Frage, seinem Rennen eine Verzweiflung, von der er nur noch nichts wusste.
Erster Teil / Kapitel 7 / Seite 33 + 34
Alle Figuren in Bernhard Schlinks Roman sind auf der Suche. Olga versucht, alles zu wissen und sie sucht einen Ort, den sie Zuhause nennen kann. Herbert sucht einen Hafen, von dem er immer wieder hinausfahren kann. Er sucht die Weite, die sich dem nie ganz zeigt, der mit Brettern vor dem Kopf auf die Suche geht.
Für Olga leuchtet und strahlt Herbert mit seinen Visionen, obwohl sie diese nicht mit ihm teilt. Sie liebt seine Begeisterung, sein Feuer und kann es dennoch nicht verstehen.
Er redete von den zwei Kasten, ohne die es keine Kultur gebe, einer höheren und einer niederen, von der Stärke und Schönheit reiner Rassen, von der Fruchtbarkeit der Einsamkeit, vom auserlesenen Menschen und vom vornehmen Menschen und vom Übermenschen, der zugleich ins Große und ins Tiefe und Furchtbare wächst. Er beschloss, ein Übermensch zu werden, nicht zu rasten und nicht zu ruhen, Deutschland groß zu machen und mit Deutschland groß zu werden, auch wenn es ihm Grausamkeit gegen sich und gegen andere abverlangte. Olga fand die großen Worte hohl. Aber Herberts Wangen glühten und Augen leuchteten, und sie konnte nicht anders, als ihn verliebt anzuschauen.
Erster Teil / Kapitel 9 / Seite 43
Olga besteht die Aufnahmeprüfung in das staatliche Lehrerinnenseminar in Posen mit Auszeichnung und bekommt ein Stipendium. Herbert freut sich für sie und ist stolz auf sie, fühlt sich aber auch minderwertig. Erst der Eintritt ins Garderegiment bewirkt, dass er auch auf sich selbst wieder stolz sein kann. Seine Sehnsucht nach Weite aber bleibt.
Anfangs sucht Herbert die Weite in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) im Kampf gegen die Herero, die sich den deutschen Besatzern widersetzen. Doch er zog nicht aus, um in der Wüste Brunnen zu graben oder Fabriken aufzubauen. Sein Ziel war die Wüste selbst.
Er wollte sich in die Weite verlieren. Aber die Weite ist nichts.
Er wollte sich ins Nichts verlieren.
Zweiter Teil / Kapitel 6 / Seite 134
So beteiligt sich Herbert aber an der Niederschlagung von Aufständen der Herero gegen die deutsche Kolonialmacht. Dieser Völkermord kostete schätzungsweise 65.000 bis 85.000 Herero das Leben (etwa 80 Prozent des Hererovolkes). Nach Deutschland zurückgekehrt, plant Herbert eine Expedition in die Arktis, was selbst der geduldigen Olga zu viel ist.
Nie erkennt Herbert, dass er in all seinem Streben, Rennen, Kämpfen eigentlich immer nur versucht, dem Feind in seinem Innern davonzurennen, zu entkommen. Als er eine Ahnung davon bekommt, flieht er vor der Erkenntnis und stürzt sich in ein neues Abenteuer. Immer muss er sich im Außen beweisen und betäubt dabei zusehens sein Inneres.
Seine Hand fuhr nach der Waffe, und er richtete sich auf und starrte in die Nacht, voller Angst vor den Schakalen, die er hörte, und den Leoparden, von denen er wusste, und den Herero, gegen die er kämpfte. Aber er sah nichts, keinen Schakal, keinen Leoparden, keinen Herero. Er sah nur das Dunkel der Nacht, so undurchdringlich, als wäre eine Decke über ihn gebreitet, und er wusste nicht, ob er vor dem da draußen Angst hatte, oder vor etwas in ihm selbst.
Erster Teil / Kapitel 13 / Seite 59
Bernhard Schlink hat zwei äußerst starke Figuren für seinen neuen Roman entwickelt. Wie er bei der Lesung erzählte, haben ihn Frauen dieser Generation immer fasziniert und seine Olga setzt sich aus verschiedenen Personen zusammen, denen der Autor in seinem Leben begegnet ist. Die politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit macht »Olga« natürlich zu einem typischen Schlink-Roman und am Ende gibt es zwei Enthüllungen, die ich beim Lesen zwar schon durchschaut hatte, die sich aber, wie ich anderen Rezensionen entnehme, für viele auch als Überraschungen entpuppen.
Wie das Leben von Olga und Herbert weitergeht, soll hier gar nicht verraten werden. Aber auf die besondere Struktur des Buches muss noch hingewiesen werden:
Das Buch ist in drei Teile und insgesamt 84 angenehm kurze Kapitel gegliedert, wobei der letzte Teil aus Briefen und einer Nachbemerkung besteht.
– Der erste Teil wirkt noch etwas distanziert, denn die Geschichte wird von einem auktorialen Erzähler aufgeschrieben.
– Der zweite Teil, der nach 1945, nach der Flucht Olgas in ihre neue Heimat Heidelberg beginnt, rückt Herbert und vor allem Olga dann schon viel näher heran. Ferdinand, der Ich-Erzähler dieses Buchteils, ist ein durchschnittlicher Mensch, in dessen Familie Olga als Näherin arbeitet, was zu einer lebenslangen Freundschaft zwischen ihr und Ferdinand führt. Ferdinand, wohl das Alter-Ego Schlinks, wird als langweilig beschrieben und sieht sich selbst als Chronist.
– Der dritte Buchteil besteht aus Briefen, die Olga über die Jahrzehnte an Herbert schreibt. Dieser Teil ist vielleicht der schönste, weil er uns erlaubt, Olga und ihren Gedanken ganz nah zu sein.
So löst Schlink nach und nach die Distanz auf – passend zur Verabschiedung der gestärkten Kragen und konventionellen Verhaltensweisen.
»Olga« ist die Geschichte einer klugen und willensstarken Frau, die selbstbewusst ihren Weg geht und sich von Niederschlägen und Widerständen nicht aufhalten oder verbittern lässt, die ihrer großen Liebe trotz all der Wut, die sich über die Zeit aufstaut, treu bleibt und selbst die größte Einsamkeit in Kauf nimmt. Dabei geht Olga aber auch mit sich selbst immer hart ins Gericht wirft sich vor, zweimal den gleichen Fehler begangen und ihre Meinung gerade dann nicht gesagt, ihren Einfluss gerade dann nicht geltend gemacht zu haben, als es am nötigsten gewesen wäre. Sie ist eine Sozialdemokratin der alten Schule, die mit rechtsradikalen, nationalistischen und rassistischen Ansichten nie etwas anfangen konnte und die sich stets gegen die Diskriminierung der Frauen gewehrt hat.
Doch ihre große Liebe Herbert hat sie immer warten und damit schließlich ein einsames Leben leben lassen.
Auf einmal klangen ihr das Rauschen des Winds und das Schnauben des Pferds und der Gesang der Nachtigall traurig. Als würde ihr bedeutet, dass ihr Leben Warten sei und dass das Warten kein Ziel, kein Ende habe. Der Gedanke schüttelte sie.
Erster Teil / Kapitel 19 / Seite 84
Fazit: Bernhard Schlink hat sich mit »Olga« viel vorgenommen. Immer entlang ihres Lebenspfades erzählt er die deutsche Geschichte zur Kaiserzeit, der Weimarer Republik, des Nazi-Regimes, zweier Weltkriege und der Nachkriegszeit. „Alles Schreiben ist Schreiben über die Vergangenheit“, sagt Bernhard Schlink und auch wenn ich ihm in diesem Fall nicht hundertprozentig zustimme, so trifft es auf jeden Fall auf ihn zu. Und diese vom Patriarchat geprägte Zeit, die wir hoffentlich endlich hinter uns lassen, hat er nochmals in aller Deutlichkeit und mit all ihren grotesken, übersteigerten Wertvorstellungen aufgezeigt. Schlink erzählt in »Olga« von glühendem Patriotismus und Rassen- und Kriegswahn, aber auch von der gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Schuld, diese nicht angemessen verurteilt und verhindert zu haben. Ich stimme anderen Rezensenten zu, dass dieses Buch unbedingt verfilmt werden sollte und sich dafür bestens eignen würde. Es wäre wieder einmal an der Zeit, einem großen Publikum zu zeigen, wohin übersteigerter Größenwahn führen kann. Schlink spart jedenfalls in seinem Antikriegs-Roman nicht an Gesellschaftskritik, was das Buch allein schon lesens- und empfehlenswert macht.
»Olga« ist eine Ehrung, eine Hommage an die Frauen, wenn nicht sogar ein Emanzipationsroman, dem ich viele – besonders auch männliche – Leser wünsche.
Bernhard Schlinks Roman »Olga« ist im Januar 2018 für EUR 19,95 im Rowohlt Verlag erschienen – gebunden, 208 Seiten, ISBN 978-3498064372.
Wer mehr lesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Der Diogenes Verlag brachte ebenfalls im Januar 2018 die Hörbuchausgabe von Bernhard Schlinks Roman »Olga« (ISBN: 978-3257803914) in zum Glück ungekürzter Form heraus.
Gelesen wird das Hörbuch von dem beliebten Schauspieler Burghart Klaußner, der mit seiner ruhigen Stimme stets den richigen Ton trifft und sich mit gutem Gespür auf die Geschichte einlässt.
Sie finden das Hörbuch (5 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 5 Stunden und 54 Minuten) samt Hörprobe hier oder mit Klick aufs Bild.
Über den Autor: Bernhard Schlink, geboren 1944 bei Bielefeld, ist Jurist und lebt in Berlin und New York. Der 1995 erschienene Roman »Der Vorleser«, 2009 von Stephen Daldry unter dem Titel »The Reader« verfilmt, in über 50 Sprachen übersetzt und mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, begründete seinen schriftstellerischen Weltruhm.
Laila Mahfouz, 2. Oktober 2018
Links:
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Mehr zu Bernhard Schlink auf der Seite des Diogenes Verlages.
Weitere Informationen zu Bernhard Schlink finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz