In ihrem autobiografisch geprägten Debütroman »Die Dame mit dem blauen Koffer« erzählt die Schauspielerin Valérie Perrin die Liebes- und Lebensgeschichte zweier Frauen in zwei Zeitebenen. Dabei geht es um den Mut, sich den offenen Fragen und klaffenden Wunden im Leben zu stellen. Die junge Hauptfigur muss sich fragen, ob sie weiter in schmerzlicher Ungewissheit leben will oder eine vielleicht unangenehme Wahrheit erfahren möchte. Die faszinierende Hélène inspiriert sie zu einer Spurensuche, die für Justine einige Veränderungen mitbringt.
Verlagstext: Die quirlige Justine arbeitet als Altenpflegerin im Haus Hortensie. Besonders fasziniert ist sie von der 90-jährigen Hélène, die die meiste Zeit glaubt, mit ihrem blauen Koffer am Strand auf ihren Geliebten zu warten. Nach und nach erzählt sie der 21-jährigen Justine die bewegende Geschichte ihrer großen Liebe, die während des Zweiten Weltkriegs durch Verzweiflung und Verrat gefährdet war. Dadurch inspiriert, begibt sich Justine schließlich auf Spurensuche in ihrer eigenen Familie und kommt einem tragischen Geheimnis auf die Spur.
Die junge Justine Neige ist Altenpflegerin. Neben der Musik sind es besonders ihre Senioren im Haus Hortensie, die ihr viel bedeuten. Sie geht liebevoll mit ihnen um, denn sie ist gewiss: alte Menschen hüten einen Schatz: ihre persönliche Lebensgeschichte. Justine nimmt sich die Zeit, um zuzuhören und macht dafür sogar viele Überstunden. Inspiriert von der Biografie einer besonderen alten Dame, die im Haus Hortensie lebt, macht sie sich auf, ein eigenes, lang gehütetes Familiengeheimnis zu erkunden.
So anstrengend die Arbeit mit den Senioren auch ist, Justine hört sich einfach gern die Geschichten an, die die älteren Menschen erzählen können. Seit dem Tag, an dem sie mit ihrer Schulklasse eine Aufführung in einem Seniorenheim veranstaltete, liebt sie den Kontakt mit alten Menschen und ihren Geschichten, die oft sehr berührend sind.
An diesem Tag habe ich verstanden, dass man einen Alten nur anzufassen, seine Hand zu nehmen braucht, und schon erzählt er. Wie wenn man am Strand ein Loch in den Sand gräbt: Irgendwann steigt immer das Wasser hoch.
Kapitel 5, Seite 16
Vor allem liebt sie die 90-jährige Hélène, deren sanfte Art und besondere Lebensgeschichte Justine fasziniert und an einem harten Tag beruhigt. Hélène lebt in ihrer eigenen Welt, die einer Wartestation gleicht, wenn auch einer wunderschönen. In ihrer Fantasie wartet sie an einem Strand auf Lucien, die Liebe ihres Lebens. An diesem Strand ist immer Sommer.
Hélène ist die Dame in Zimmer neunzehn. Sie ist die Einzige, die mir echte Ferien schenkt, und wenn man den Alltag einer Altenpflegerin kennt, kann man sagen, dass das echter Luxus ist. Beim Personal ist sie »die Dame vom Strand«. […]
Hélène ist die einzige Bewohnerin, die ich beim Vornamen nenne.
Jeden Morgen nach der Grundpflege setzen wir sie auf ihren Sessel am Fenster. Und ich schwöre es, sie schaut gar nicht auf die Dächer von Milly, sondern auf etwas fabelhaft Schönes, wie ein blaues Lächeln.
Kapitel 5, Seite 17
In Rückblenden erzählt die Autorin aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, als Hélène und ihre große Liebe Lucien jung waren. Ihre gemeinsame Zukunft wird jäh durch den Krieg durchbrochen, der die beiden und ihre Freunde vor große Schwierigkeiten stellt.
Justine hört Hélènes Lebens- und Liebesgeschichte Stück für Stück und ist fasziniert von der Zartheit und Zuversicht der alten Dame, die Tag für Tag geduldig am Strand wartet. Ein verbindendes Element zwischen früher und heute ist eine Möwe, die auf dem Dach des Hauses Hortensie sitzt, obwohl es in der Gegend normalerweise keine Möwen gibt.
Eine Möwe gab auch der jungen Hélène neue Zuversicht, die große Probleme beim Lesenlernen hatte.
Nie hat sie etwas so Schönes gesehen wie diesen weißen Vogel mit orangefarbenem Schnabel. […] Nichts ist schöner als dieser Vogel. Hélène öffnet das Fenster und lässt ihn frei. […] »Du berührst ja den Himmel — kannst du Gott bitten, dass er meine Augen heilt und mich lesen lernen lässt?«
Kapitel 12, Seite 38 + 39
Die Ich-Erzählerin Justine wirkt manchmal etwas verloren, was auch an einem tragischen Verlust in ihrer Kindheit und der unterkühlten Beziehung ihrer Großeltern, die auch ihre Ersatzeltern sind, liegt. So lenkt sie sich von ihrem ältlichen Umfeld ab, indem sie samstags in der Dorfdisko die Nacht durchtanzt und in den Armen austauschbarer Männer aufwacht. Wenn sie traurig ist, heitert sie der Kontakt zu den Senioren wieder auf.
Durch das Eintauchen in Hélènes Biografie beginnt die junge Frau, sich über ihre eigene Familie Gedanken zu machen und Dinge zu hinterfragen. Das tragische Ereignis, das sie und ihren jüngeren Cousin so nachhaltig geprägt hat, wirft immer noch viele Fragen auf. Wird sie diese Fragen beantworten und endlich inneren Frieden finden können? Und welche Rolle spielt dabei der attraktive Enkel von Hélène, der Justine immer wieder begegnet?
Den charismatischen Romanfiguren gelingt es, trotz der Widrigkeiten früher und heute, ihren Lebensmut nicht zu verlieren. So durchleben sie Legasthenie, die man damals noch nicht erkannt hat, geschweige denn behandeln konnte, drohende Krankheit, Krieg und Verfolgung. Valérie Perrin schafft es, diese Widrigkeiten immer durch eine gewisse Leichtigkeit auszubalancieren. Diese Leichtigkeit zeigt sich auch auf dem in meerblau gehaltenen Buchumschlag, dessen sehr passendes Titelbild einen sommerlichen Strand und eine junge Frau mit blauem Koffer zeigt.
Nicht zuletzt ist die Geschichte auch eine Liebeserklärung an ältere Menschen, von denen viele keinen Besuch mehr bekommen, nicht einmal sonntags. Der französische Originaltitel »Les oubliés du dimanche«, wörtlich »Die Vergessenen des Sonntags«, in der deutschen Übersetzung im Buch deutlich harmloser als »Sonntagsblümchen« bezeichnet, betont diesen Aspekt im Gegensatz zum deutschen Buchtitel.
Fazit: Valérie Perrin erzählt mit Ihrem teils autobiografischen Roman »Die Dame mit dem blauen Koffer« in zwei kunstvoll verknüpften Zeitebenen eine symbolreiche und angenehm zeitlose Geschichte, die trotz aller Tragik mit Zartheit, schöner Bildersprache und Poesie angefüllt ist – wie etwa das „blaue Lächeln“ (Zitat oben). Dieser sinnliche, emotionale und auch humorvolle Roman, der den Leser in Rosenduft hüllt und an einen schönen Sandstrand am Meer versetzt, aber auch schwierige Themen anpackt, erinnert mit seiner quirlig-lebendigen Hauptfigur ein wenig an den wunderschönen und sehr empfehlenswerten Film »Die fabelhafte Welt der Amélie«.
Es geht um Beziehungen in all ihren Facetten: den wunderschönen, komplizierten, abgekühlten, siedend heißen und tragischen — auf partnerschaftlicher wie auch freundschaftlicher Ebene. Die Menschen aus beiden Zeitebenen handeln auf der Basis dieser Gefühle und müssen mit den teils schmerzlichen Konsequenzen leben. Valérie Perrin gelingt es, Tragik und Komik, Schwere und Leichtigkeit in gutem Gleichgewicht zu halten.
»Die Dame mit dem blauen Koffer« ist eine Sommerempfehlung und kann auch wunderbar einem älteren Menschen vorgelesen werden (nicht nur sonntags).
Valérie Perrins Roman »Die Dame mit dem blauen Koffer« (Originaltitel »Les oubliés du dimanche«) ist im April 2017 in der Übersetzung von Elsbeth Ranke für EUR 18,00 im Knaur Verlag erschienen – gebunden, 352 Seiten, ISBN 978-3426654057.
Eine Leseprobe finden Sie hier.
Über die Autorin: Valérie Perrin ist Fotografin, Schauspielerin und Drehbuchautorin. Sie lebt und arbeitet mit dem Regisseur Claude Lelouch.
»Die Dame mit dem blauen Koffer« ist ihr erster Roman. Die Geschichte ihrer eigenen Großeltern diente in mancherlei Hinsicht als Inspiration für diesen Roman.
Miriam K., 3. Juli 2018
Links:
Mehr zu Valérie Perrin auf der Seite des Knaur Verlages.
Mehr Informationen zu Valérie Perrin finden Sie hier auf den Seiten der Internet Movie Database.
Die Facebook-Seite von Valérie Perrin finden Sie hier.
In diesem Video liest Valérie Perrin aus »Die Dame mit dem blauen Koffer« (französisch):
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