Lesung am 3. April 2018 im Literaturhaus Hamburg: Peter Stamms aktueller Roman »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« ist ein raffiniertes, psychologisches und philosophisches Vexierspiel, in dem der Schweizer das literarische Motiv des Doppelgängers aufgreift und an seinen Erfolgsroman »Agnes« anknüpft.
Verlagstext: Das eigene Leben noch einmal erleben. Soll man sich das wünschen?
Christoph verabredet sich in Stockholm mit der viel jüngeren Lena. Er erzählt ihr, dass er vor zwanzig Jahren eine Frau geliebt habe, die ihr ähnlich, ja, die ihr gleich war. Er kennt das Leben, das sie führt, und weiß, was ihr bevorsteht. So beginnt ein beispiellos wahrhaftiges Spiel der Vergangenheit mit der Gegenwart, aus dem keiner unbeschadet herausgehen wird.
Können wir unserem Schicksal entgehen oder müssen wir uns abfinden mit der sanften Gleichgültigkeit der Welt? Peter Stamm, der große Erzähler existentieller menschlicher Erfahrung, erzählt auf kleinstem Raum eine andere Geschichte der unerklärlichen Nähe, die einen von dem trennt, der man früher war.
Das literarische Motiv des Doppelgängers hat eine lange Tradition. Ob Fjodor Dostojewski, E.T.A. Hoffmann, José Saramago, Jean Paul, Hugo von Hofmannsthal, Oscar Wilde, Edgar Allan Poe oder Jorge Luis Borges – viele Literaten haben sich mit dem philosophischen Thema bisher auseinandergesetzt. Peter Stamms Version ist ebenfalls sehr geglückt und schafft trotz aller Melancholie eine Leichtigkeit, die aus der allmählichen Auflösung des Ichs herrührt. Dass der Doppelgänger nur vom jeweils älteren erkannt wird, hat eine unbestechliche Logik. Dieser kennt sein jüngeres Ich, dem Jüngeren jedoch ist es vermutlich unvorstellbar, sich selbst alt zu denken.
»Während er am Schloss herumhantierte, sah ich sein Gesicht neben der Spiegelung meines eigenen, aber erst als er mir die Tür aufhielt, erkannte ich, dass er ich selbst war.«
Kapitel 3 / Seite 23
Peter Stamm erzählt eine Liebesgeschichte und eine Entwicklungsgeschichte – mit philosophischen Betrachtungen und Fragen auf jeder Seite. Sein Alter-Ego ist ein Beobachter der anderen und damit gleichzeitig ein Beobachter seines eigenen Lebens in der Vergangenheit und in der Zukunft. Leider vergisst er dabei, in der Gegenwart zu leben, so dass es nicht verwunderlich ist, dass seine Beobachtungsobjekte sein eigenes Leben immer mehr aufzulösen scheinen. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« hat etwas Schwebendes, etwas Filigranes. Transparent wird der Roman allerdings nie ganz, denn auch dem Ich-Erzähler selbst bleibt sein Leben ein Rätsel, das er bis zum Ende nicht lösen kann.
Vor nunmehr zwanzig Jahren wurde Peter Stamms sehr erfolgreicher Roman »Agnes« veröffentlicht, der 2016 von Johannes Schmid mit Stephan Kampwirth und Odine Johne in den Hauptrollen für das Kino verfilmt wurde. In Baden-Württemberg ist der Roman seit 2013 sogar Pflichtlektüre für das Abitur. Hier erzählt Peter Stamm von einem desillusionierten Romanautor, der beginnt, über die Beziehung zu seiner Freundin Agnes zu schreiben, bis irgendwann das fiktive Leben wichtiger wird, lebendiger, realer erscheint als das wahre und daran die Beziehung zerbricht. Eben dieser Roman erscheint jetzt wie ein Vorspiel zu Stamms neuem Roman »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« oder wie das Buch im Buch (ein Motiv der phantastischen Literatur). Obwohl »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« für sich allein bestens funktionert, wird, wer »Agnes« gelesen hat, bei der Lektüre des aktuellen Werks auf jeden Fall einen großen Mehrwert spüren. Die männlichen Hauptpersonen sind fast durchtauschbar. Ganze Szenen und Sätze aus »Agnes« tauchen wieder auf und verschmelzen zu einem neuen Hintergrund. Für Hobby-Detektive ist es ein Vergnügen, diese Stellen zu finden. Nebenbei lassen sich auch einige Parallelen zu Peter Stamms Biographie entdecken.
Im Gespräch mit der Moderatorin des Abends, Katrin Schumacher, sagte Peter Stamm schmunzelnd, die neue Lena sei fast eine feministische Version von Agnes, denn während Agnes immer Objekt des Autors geblieben wäre, würde sich Lena gegen eine solche Vereinnahmung wehren. Letztendlich ist dies wohl ein aussichtsloser Kampf und irgendwie erinnert ihr Verhalten an ein Kind, das sich die Augen zuhält, um die Welt verschwinden zu lassen, aber Lena erscheint dennoch stark, optimistisch und sympathisch.
Ob Peter Stamm selbst seine Figuren mochte, beantwortete er folgendermaßen:
»Die wichtigsten Figuren muss ich immer mögen. Ich kann mich nicht zwei Jahre mit einer Figur beschäftigen, die ich nicht mag. […] Ein Autor sollte seine Figuren wie lebende Menschen behandeln, sie mit Mitgefühl begleiten und nicht einfach sagen „Pech gehabt“, wenn etwas Schlimmes passiert.«
Und so handelt Peter Stamm im Gegenteil für seine Figuren in einem Leben viele mögliche Leben heraus. Wie schon in »Weit über das Land« können die Leser sich nicht sicher sein, was passiert ist. Dieses Spiel mit Realität und Wahrheit kennzeichnet das neue Werk des Vertreters der Postmoderne. Peter Stamms Werke wurden in letzter Zeit schon mit denen von Thomas Pynchon oder Albert Camus verglichen.
»Ich habe vor Ihrem Hotel gewartet, aber als ich Sie gesehen habe, war ich so überwältigt, dass ich es nicht geschafft habe. Es war ein noch größerer Schock als meine erste Begegnung mit meinem Doppelgänger. Ich bin Ihnen den ganzen Nachmittag lang gefolgt, wenigstens ein paar Stunden wollte ich in der Illusion leben, ich sei noch einmal jung und könne meinem Leben eine andere Wendung geben.«
Kapitel 16 / Seite 70 + 71
Gelungen sind vor allem die philosophischen Betrachtungen des Autors, von der Infragestellung der Realität bis hin zu ihrer Auflösung. Peter Stamm spielt auf literarische Weise mit den Themen Alter und Tod sowie insbesondere mit Realität und Zeit. Wer sich bereits ein wenig mit Quantenphysik beschäftigt hat, ahnt ohnehin, dass so etwas wie Zeit nicht auf eine Weise existiert, wie unsere Wahrnehmung uns es nahelegt. Auch der leider in diesem Jahr verstorbene Stephen Hawking beschäftigte sich unter anderem in seinem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit« mit dem Phänomen und der Illusion der Zeit. Oft wird auch diskutiert, ob alle Zeiten, also dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig stattfinden und sich beeinflussen, so dass alles immer in Bewegung, im Fluss ist (Filmerisch ist dies auch großartig in »Interstellar« gezeigt worden.) Auch die Viele-Welten-Interpretation Hugh Everett ist wissenschaftlich anerkannt. Die vierte Dimension ist ein beliebtes Romanmotiv, das auch schon in Peter Stamms vorherigem Roman »Weit über das Land« thematisiert wird.
»Während ich Lena gefolgt war, hatte ich mich gefragt, ob wohl auch meiner Magdalena vor sechzehn Jahren jemand nachgegangen war, ob ich nicht nur einen Doppelgänger hatte, sondern selbst einer war, Teil einer endlosen Kette immer gleicher Leben, die sich durch die Geschichte zog.«
Kapitel 17 / Seite 77
An einer Stelle sitzt der Ich-Erzähler mit der jüngeren Version von Lena in einer Kneipe, als ein alter Mann hereinkommt, auf ihn zugeht und ihm leise eine unheimliche Mitteilung macht, die ihn ahnen lässt, dass er mit seiner Vermutung, in einer Endlosschleife gefangen zu sein, Recht haben könnte. Lena bekommt von all dem nichts mit, da sie sich gerade mit ihrem Smartphone beschäftigt hat. Die Szene ist ebenso schaurig wie grandios, philosophisch wie gesellschaftskritisch. Wie viel Relevantes dieser jungen Lena-Generation entgeht, wenn sie sich nur noch mit ihrem Mobiltelefon (oder einem anderen digitalen Medium) beschäftigt, ist einfach erschreckend.
Das Gehen ist in Peter Stamms Prosa ein wiederkehrendes Element. In »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wandert der Ich-Erzähler einen Tag lang mit der jungen Lena durch Stockholm und erzählt in Rückblicken seine Geschichte und die Problematik, die sich aus der Doppelgänger-Situation ergibt. Das Gehen selbst ist für Peter Stamm sehr wichtig, denn es ist ihm von jeher Inspiration, wie er sagte:
»Gehen und Ideen haben auf jeden Fall eine Verbindung. […] Man geht in eine Landschaft hinein und weiß nicht, wohin es führt. Je offener man ist, desto mehr erlebt man.«
Die angenehm kurzen Kapitel wechseln immer zwischen einem Teil in der Gegenwart mit Lena in Stockholm und einem Kapitel Erzählung der Vergangenheit. Gerade die Kürze des Romans ist, in Anbetracht seiner Themenschwerpunkte, bewundernswert. Wenn er beim Schreiben einmal einen Pfad eingeschlagen hat, steht die Form des Buches fest, erklärte Peter Stamm. Im Gespräch mit Katrin Schumacher sagte er dazu auch:
»Intuition ist ein starkes Erkenntnisphänomen. […] Ich arbeite langsam und an der Struktur ändert sich kaum was. Ich kann das mit einer Pflanze vergleichen, die eben so wächst, wie sie wächst und die ich nicht ändern kann.«
Spätestens seit seinem letzten Roman »Weit über das Land«, der 2016 veröffentlicht wurde und für den Peter Stamm mehrere Auszeichnungen erhalten hat, fand der Magische Realismus in einer milden Form Einzug in sein Schreiben. In »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« gelang dies durch das Spiel mit der Zeit und der Realität auf ganz besondere Weise. Das phantastische Element hat ihm beim letzten Buch viel Spaß gemacht, so war er auf den Geschmack gekommen und habe dies Spiel mit der Realität auch bei seinem aktuellen Buch sehr genossen, bekannte Peter Stamm im Literaturhaus.
»Es war seltsam, mein jüngeres Ich zu beobachten. Ich merkte, wie vieles ich vergessen hatte und wie ich manches anders erinnerte, als es tatsächlich gewesen sein musste. Oft war ich bestürzt darüber, wie naiv ich gewesen war, und nicht selten war ich versucht, ihm einen Schubs zu geben oder ihm einen Rat ins Ohr zu flüstern. Aber ich tat es nie, vielleicht aus Angst, bei einer direkten Konfrontation mit ihm könne etwas Unvorhersehbares geschehen.«
Kapitel 20 / Seite 87
Fazit: Die Kunstfertigkeit, mit der es Peter Stamm schafft, auf nur knapp 160 Seiten diese großartige Romanstruktur aufzubauen, ist einfach bewundernswert. Die Leser sollten einer guten Portion an Melancholie allerdings nicht abgeneigt sein, denn die zwischen den Zeilen augenzwinkernd aufblitzende Selbstironie entdeckt wohl nur, wer sich mit dem Werk von Peter Stamm beschäftigt hat. Der Roman ist weniger ein emotionales als vielmehr ein hoch geistiges Vergnügen, das nach der Lektüre noch viel Stoff zum Nachdenken liefert. Empfehlen möchte ich »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« auf jeden Fall allen, die bereit sind, sich auf dieses philosophische Gedankenspiel einzulassen. Meiner Meinung nach ist dies Peter Stamms bisher bester Roman. Ich bin gespannt, was noch folgen wird.
Peter Stamms Roman »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« ist im Februar 2018 für EUR 20,00 im S. Fischer Verlag erschienen – gebunden, 160 Seiten, ISBN 978-3103972597.
Eine Leseprobe finden Sie hier.
Über den Autor: Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählbände und diverse Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land« und »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« sowie unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« seine Bamberger Poetikvorlesungen. Unter seinen zahlreichen Auszeichnungen sind folgende: Rheingau Literatur Preis 2000, Bodensee-Literaturpreis 2012, Friedrich-Hölderlin-Preis 2014, Johann-Friedrich-von-Cotta-Literatur 2017, ZKB-Schillerpreis 2017, Solothurner Literaturpreis 2018.
Laila Mahfouz, 29. Mai 2018
Links:
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz. Die Rechte am Titelfoto auf unserer Startseite liegen bei Gaby Gerster.
Die Website von Peter Stamm finden Sie hier.
Informationen auf den Seiten des S. Fischer Verlages finden Sie hier.
Alle Termine für weitere Lesungen finden Sie hier.
Hörbuch: Der Argon Verlag brachte ebenfalls im Februar 2018 die Hörbuchausgabe von »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« (ISBN: 978-3839871072) in zum Glück ungekürzter Form heraus. Gelesen wird das Hörbuch von Christian Brückner. Sie finden es (3 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 3 Stunden und 30 Minuten) samt Hörprobe hier oder mit Klick aufs Bild.
Hier findet sich eine Videoaufzeichnung der Premierenlesung am 26. Februar 2018 aus dem Frankfurter Literaturhaus.
Weitere Informationen zu Peter Stamm finden Sie hier.