Lesung am 6. April 2016 im Literaturhaus Hamburg: Peter Stamms Roman »Weit über das Land« lässt sich auf vielfache Weise lesen und verstehen. Auf jeden Fall lässt er immer wieder innehalten und über das Gelesene nachsinnen. Ein großartiges Werk.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Ein Mann steht auf und geht. Einen Augenblick zögert Thomas, dann verlässt er das Haus, seine Frau und seine Kinder. Mit einem erstaunten Lächeln geht er einfach weiter und verschwindet. Astrid, seine Frau, fragt sich zunächst, wohin er gegangen ist, dann, wann er wiederkommt, schließlich, ob er noch lebt.
Jeder kennt ihn: den Wunsch zu fliehen, den Gedanken, das alte Leben abzulegen, ein anderer sein zu können, vielleicht man selbst.
Peter Stamm ist ein Meister im Erzählen jener Träume, die zugleich locken und erschrecken, die zugleich die schönste Möglichkeit und den furchtbarsten Verlust bedeuten.
›Weit über das Land‹ ist ein Roman, der die alltäglichste aller Fragen stellt: die nach dem eigenen Leben.
Wenn ein geliebtes / geschätztes Wesen verschwindet oder stirbt, bleibt eine Trauer zurück, die nie ganz geht, aber auf unbestimmte Weise finde eine größere Auseinandersetzung mit dem Verlorenen statt, sagt Peter Stamm. Er selbst hat diese Erfahrung mit seinem im August 2014 verstorbenen, spanischen Verleger Jaume Vallcorba Plana gemacht, der sein gesamtes literarisches Werk in Spanien publiziert hat und dem Stamm nun seinen Roman »Weit über das Land« gewidmet hat.
Im Literaturhaus Hamburg erzählte der schweizer Autor, dass die Idee zum Roman bereits vor dreißig Jahren entstand, er sich vor etwa fünfzehn Jahren eine Notiz von dem Mann machte, der nachts durch das Land geht und erst vor zwei Jahren mit dem Schreiben am Roman begann. „Nachts zu wandern, ist schon etwas Besonderes. Das sollte man mal gemacht haben“, sagte Stamm. (Leider ist dies für die Hälfte der Menschheit aus Gründen der persönlichen Sicherheit, die durch spezielle Exemplare der anderen Hälfte der Menschheit gefährlich sein könnte, nicht so leicht getan, wie gesagt. Schade, dass Freiheit und Gleichberechtigung nicht in jedem Bereich des Lebens lebbar scheinen…) Wie bei einer Wanderung ins Ungewisse, lässt Stamm auch seinen Roman entstehen. Ohne alles bis ins Detail zu planen, entwickelt die Handlung sich beim Schreiben, sobald der erste Satz steht und am Ende wird dann stark überarbeitet, erzählte der Autor. „Ich habe gemerkt, dass meine Sätze immer länger werden von Buch zu Buch.“
»Thomas ging jetzt schneller, es war ihm, als habe er das Gravitationsfeld des Dorfes verlassen und bewege sich ungebremst durch den Raum, hinein in das unerforschte Gebiet der Nacht.«
(Seite 14)
Sätze wie der gerade zitierte leuchten und funkeln überall auf den Seiten des Romans, lassen einen Moment innehalten und die Schönheit des Augenblicks genießen.
Seit Erscheinen seines Buches wird Peter Stamm häufig gefragt, ob wegzugehen und alles zurückzulassen auch seinem eigenen Wunsch entspräche. Wie er schon seinen Kindern versichern musste, ist dies nicht der Fall. „Meine Freundin hat sich daran gewöhnt, dass es zwei von mir gibt, einer schreibt komische Bücher und einer ist ganz normal. Im Grunde genommen ist es so, dass Thomas das Leben führt, das ich hätte leben können. Es ist irgendwie auch ein Spiel.“
Peter Stamms Roman ist so vielschichtig, lädt ein zu so unterschiedlichen Perspektiven und Lesarten, dass die Beschreibung schwer fällt. Schön ist, dass Thomas und seine Wanderung in gleichem Maße wie Astrid und ihr Zurückbleiben beschrieben werden. Astrid ist anfangs fassungslos und versucht, für die Familie, Arbeitskollegen, Freunde jeweils die richtige Notlüge zum Verschwinden ihres Mannes zu erfinden, weil sie annimmt, dass er bald zurückkommt. Sie zeigt großes Verständnis für sein Verhalten und glaubt zu wissen, warum er gegangen ist, dass er „einfach mal weg“ musste.
»[…] sie hatte manchmal für Momente das Gefühl, sie drehe durch, sie habe sich alles nur eingebildet und Thomas habe nie hier gewohnt, habe nie existiert. […] Astrid wiederholte die Lüge, die auszusprechen ihr schon leichter fiel, als würde sie durch die Wiederholung wahrer. Sie wurde zu Thomas‘ Komplizin, und es war ihr, als sei sie dadurch mit ihm verbunden in einer heimlichen Verschwörung.«
(Seite 37)
Die Ehe von Thomas und Astrid ist gut, sie lieben einander sehr, denn Peter Stamm war es wichtig, dass Thomas‘ Weggang nicht mit einer zerrütteten Beziehung erklärt werden kann. Gerade kam die Familie aus einem gemeinsam sehr harmonisch verlebten Urlaub zurück. Es ist, als ginge Thomas aus diesem Leben, als es am schönsten ist. Darin kann eine Angst stecken, dass es von diesem Gipfel nur mehr abwärts gehen kann. Es kann einfache Angst vor dem Altwerden sein, davor, die Kinder erwachsen werden zu sehen, die schlimmen Seiten des Lebens von ihnen nicht fernhalten zu können, die schönen Jahre der Kindheit nicht festhalten zu können. Als Qual empfindet Thomas auch, wie festgelegt sein Leben verläuft und sobald er unterwegs mit der Ungewissheit des kommenden Tages konfrontiert ist, scheint er sich wesentlich lebendiger zu fühlen. Dies alles sind jedoch nur äußere Gründe, die zum Impuls des Weggehens geführt haben können, mit der inneren Entwicklung aber weniger zu tun haben.
»Thomas würde bald zurückkommen und sie würden weiterleben wie bisher, nur etwas verunsichert durch das Wissen, dass dieses Leben nicht selbstverständlich war, dass irgendwann wieder einer von ihnen abhandenkommen könnte für einige Zeit oder für immer.«
(Seite 66 / 68)
„So was tut man einfach nicht“ lässt Stamm den Polizisten sagen, der aufgrund von Astrids Vermisstenmeldung nach Thomas sucht. Schmunzelnd sagt Stamm, er wollte mit der Empörung des Polizisten etwaigen Prozessen entgegenwirken, sollte es zum Verschwinden von Menschen kommen, von denen es hieße, sie hätten zuletzt seinen Roman gelesen.
Allerdings empfindet der Autor Thomas‘ Bedürfnis, aus den Konventionen auszubrechen, als durchaus verständlich. „Es ist wie der Traum des Kindes, einfach wegzulaufen“, sagt Stamm und wirft folgende Frage in den Raum: „Ist das nicht das natürlichere Leben, allein im Wald, unabhängig und aus allem herausgezogen zu sein?“ Und natürlich liegt unser Ursprung im Wald, ist unsere Sesshaftigkeit nur ein künstlischer Zustand, an den wir uns zwangsgewöhnt haben. Peter Stamm lässt seinen Protagonisten daher darüber nachsinnen, ob es auf der Welt viele Menschen wie ihn gäbe, „eine verstreute Bruderschaft von Wanderern“. Die Sehnsucht nach dem Unterwegssein, dem wunderbar beschriebenen Rhythmus der Schritte durch die Natur ergriff beim Lesen dann auch sofort von mir Besitz.
Auch verhält sich Thomas vom ersten Moment seines Aufbruchs so, als gehöre er nicht mehr zu unserer Gesellschaft und als gelten die Regeln, denen wir in ihr unterliegen, für ihn nun nicht mehr. Mit größter Selbstverständlichkeit und ohne eine Spur des schlechten Gewissens wird er zum Einbrecher und Dieb, nimmt sich alle Dinge, die er gerade braucht (übrigens eine wesentlich mildere Form der Gesetzlosigkeit als Martin Suters „Held“ in »Die dunkle Seite des Mondes« sie praktiziert) und ernährt sich dadurch wie jedes Tier es tut. Auf diese Weise wird Thomas‘ errungene Unabhängigkeit und Freiheit, die mit dem Verzicht auf jeglichen Luxus einhergeht, mehr unterstrichen als durch seinen Weggang ansich.
»[Astrid] setzte sich an Ellas kleinen Schreibtisch und betrachtete gedankenverloren den Krimskrams, der dort herumlag, […] die Spuren eines Lebens, das noch kaum Konturen hatte und vielleicht gerade deshalb diese materiellen Versicherungen brauchte.«
(Seite 47)
Je weiter Thomas sich von großen Ortschaften entfernt, um so unwirklicher erscheint ihm die Welt, die er als eine »Topographie aus Pappmaché« bezeichnet und in der die Menschen nur Statisten sind, die wie auf ein Stichwort erscheinen. Während Thomas sein altes Ich immer mehr verliert und dabei zu sich selbst findet, ist ihm, »als habe er keine Vergangenheit und keine Zukunft«.
»[Sie] würden Geschichten über ihn erzählen. […] einfache Geschichten, die ihn ins Gedächtnis zurückholen, ihn am Leben erhalten sollten und ihn doch mit den Jahren ersetzen und erst wirklich zum Verschwinden bringen würden. Astrid dachte sich eine andere Geschichte aus.«
(Seite 175 / 176)
ACHTUNG SPOILER (kursiv): Ab diesem Moment auf Seite 176 tauscht Peter Stamm die anfängliche Geradlinigkeit des Romans gegen Möglichkeiten der Wahrheit, die nur im Plural zu existieren scheint. Thomas ist in eine Felsspalte gefallen. Astrid erhält die Nachricht seines Todes. Von Beginn an nutzt Peter Stamm den Konjunktiv so geschickt, dass die Geschichte rätselhaft bleibt. Möglich ist, dass Thomas sich seinen Weggang nur ausgedacht hat, während er die ganze Zeit bei einem Glas Wein auf der Bank sitzt. Möglich ist auch, dass Astrid sich alles nur ausgedacht hat. Möglich ist, dass Thomas nach zwanzig Jahren zurück nach Hause kommt. Möglich ist auch, dass er gestorben und begraben ist und Astrid sich sein Weiterleben nur ausdenkt. Wer sich allerdings mit Nahtoderfahrungen und/oder mit dem Thema der Erleuchtung beschäftigt hat, dem kann eine weitere Lesart nicht verborgen bleiben. Vielleicht ist der Tod also ein mystischer Tod und Thomas hinterher tatsächlich innerlich ein Anderer?
»Nach Monaten des Stillstands empfand Thomas endlich wieder das Hochgefühl des Unterwegsseins, die Freude an einer Zukunft, die nicht vorgegeben war und die mit jedem Schritt eine andere Wendung nehmen konnte.«
(Seite 210)
Vielleicht ist es aber auch ein richtiger Tod und Thomas merkt es selbst nicht, daher klettert er aus der Felsspalte, nachdem er sich unten tot hat liegen sehen, trägt sich ins Gipfelbuch ein und geht einfach weiter. Dafür spräche auch, dass er nach zwanzig Jahren wieder zu Hause auftaucht und Astrid als »verschwommene Silhouette im hellen Mittagslicht« erscheint. Am Vortag verlebte Astrid einen schönen Tag mit ihrer Tochter und Enkeltochter, so dass auch für sie das Ende auf dem Höhepunkt käme, wenn man es so interpretieren will, dass Thomas gekommen ist, um nun auch Astrid ins Licht zu holen… Auffällig ist, dass Thomas beim Betreten seines Gartens bemerkt, dass der Holunderbusch fehlt. Dazu muss man wissen, dass den Kelten und Germanen der Holunder als heiliger Baum galt, der vor Schaden bewahrt. Das Umhauen eines Holunders brächte daher Unglück oder gar den Tod. Wie schon angemerkt, ist dieser wunderbare Roman auf viele verschiedene Weisen lesbar. Mir persönlich behagt es, daran zu glauben, dass mehrere Wirklichkeiten nebeneinander existieren können. Damit wäre alles wahr und gleichzeitig auch alles Fiktion. Siehe dazu auch die Viele-Welten-Interpretation von Hugh Everett. (Wollen wir hoffen, dass auch Jaume Vallcorba Plana eine parallele Wirklichkeit geschenkt wurde.) Wem das alles zu verschwurbelt erscheint, kann den Roman auch ganz einfach als richtig gutes Stück Prosaliteratur lesen und wird nicht enttäuscht werden.
»[…] und es war Thomas, als lasse der Regen nach und brächen die Wolken auf, als falle er hinein in den Himmel in das gleißende Licht.«
(Seite 221)
Fazit: Peter Stamm hat mit seinem Roman »Weit über das Land« etwas geschafft, was ich nicht für möglich gehalten hätte: er hat mich einen Gipfel erklimmen lassen, noch dazu bei frostigen Temperaturen, etwas, das ich, so hatte ich gedacht, unter keinen Umständen zu tun bereit wäre. Noch erstaunlicher, der Aufstieg hat mir Freude bereitet und mich immens bereichert. »Weit über das Land« ist ein wunderbarer Roman und das beste, was ich bisher von Peter Stamm gelesen habe. Ich bin gespannt, was noch kommen mag.
Peter Stamms Roman »Weit über das Land« ist im Februar 2016 für EUR 19,99 im S. Fischer Verlag erschienen – gebunden, 224 Seiten, ISBN 978-3100022271.
Über den Autor: Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen vier weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt der Roman »Nacht ist der Tag« und unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« seine Bamberger Poetikvorlesungen.
Laila Mahfouz, 27. April 2016
Links:
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Weitere Informationen zu Peter Stamm auf der Seite des S. Fischer Verlages. Vielleicht liest Peter Stamm ja auch bald in Ihrer Nähe. Die nächsten Lesungenstermine von Peter Stamm finden Sie hier.
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Alle Fotos sind von Laila Mahfouz.
Die Website von Peter Stamm finden Sie hier.
Die Facebook-Seite von Peter Stamm finden Sie hier. Dort hat Peter Stamm auch ein paar Fotos von den Recherchen zu »Weit über das Land« gepostet.
Mehr Informationen zu Peter Stamm finden Sie hier.
Die lesenswert-Sendung mit Peter Stamm vom 14. April 2016 ist noch in der Mediathek verfügbar.
Informationen zu Laila Mahfouz