Lesung am 20. März 2018 in der Buchhandlung Christiansen in Hamburg: Anja Kampmann stellte ihren Roman »Wie hoch die Wasser steigen« vor, der zu den Finalisten des Preises der Leipziger Buchmesse 2018 zählte und von einem Mann handelt, der nach einem traumatischen Ereignis seine Arbeit auf einer Ölplattform verlässt und sich sinn- und heimatsuchend auf eine Reise durch Europa begibt.
Handlung (Verlagstext):Wenzel Groszak, Ölbohrarbeiter auf einer Plattform mitten im Meer, verliert in einer stürmischen Nacht seinen einzigen Freund. Nach dessen Tod reist Wenzel nach Ungarn, bringt dessen Sachen zur Familie. Und jetzt? Soll er zurück auf eine Plattform? Vor der westafrikanischen Küste wird er seine Arbeitskleider wegwerfen, wird über Malta und Italien aufbrechen nach Norden, in ein erloschenes Ruhrgebiet, seine frühere Heimat. Und je näher er seiner großen Liebe Milena kommt, desto offener scheint ihm, ob er noch zurückfinden kann. Anja Kampmanns überraschender Roman erzählt in dichter, poetischer Sprache von der Rückkehr aus der Fremde, vom Versuch, aus einer bodenlosen Arbeitswelt zurückzufinden ins eigene Leben.
Mit dem plötzlichen Unfalltod seines besten Freundes Mátyás verliert Waclaw (deutsch Wenzel) nach zwölf Jahren auf der Bohrinsel den Boden unter den Füßen. Aus dem Gleichgewicht bringt den Ölbohrarbeiter aber auch, dass die Betreiber der Plattform nicht einmal versuchen, nach Mátyás zu suchen. Waclaw übergibt die Habseligkeiten seines Freundes an dessen Hinterbliebene in Ungarn. Doch er ist nicht bereit, wieder auf die Bohrinsel zurückzukehren. Scheinbar ziellos irrt er durch Europa von Ungarn über Malta, die Alpen bis hin zum Ruhrgebiet, wo seine große Liebe Milena lebt. Anja Kampmann führt in ihrem Debütroman tatsächlich tiefe Bohrungen durch. In die Emotionen und auch in die Erinnerungen, denn je näher Waclaw Bottrop kommt, desto mehr Erinnerungen stürzen auf ihn ein, lassen sich nicht länger verdrängen. So treten die äußeren Handlungen Waclaws hinter der Schichtabtragung seines Innenlebens zurück, bis er schließlich in dem polnischen Dorf in der Nähe von Poznań (Posen) ankommt, aus dem seine Familie stammt.
»Anderson […] gab ohne Zögern die Meldung von dem Verlust an die Zentrale. […]
Er nannte Mátyás‘ Namen inmitten von Sätzen, die klangen wie eine Liste von Dingen, die man nicht mehr benötigt. Vielleicht verstand er nicht, was er sagte, vielleicht versuchte er, sachlich zu sein. […]
Er kannte nicht die Tränen, die Alexej vergoss, der hier draußen die Geburt und das kurze Leben seines Sohnes versäumte, er wusste nichts von den Sprachen, in denen jeder für sich träumte.«
1. Kapitel / Westwind / Seite 25
Die gebürtige Hamburgerin Anja Kampmann erzählt in ihrem Roman eine Geschichte von Freundschaft, Einsamkeit und Heimatlosigkeit. Ihre Figuren sind verloren in dieser modernen Welt, in der jeder ersetzbar ist und sich alles nur um den Profit dreht. »Wie hoch die Wasser steigen« ist durchaus ein gesellschaftskritischer, politischer Roman, wobei auf den Folgen der Globalisierung das Hauptaugenmerk liegt.
Wie sie schon mit ihrem Lyrikdebüt »Proben von Stein und Licht« 2016 bewies, ist Anja Kampmann eine Dichterin. Auch ihr Romandebüt strotz vor poetischer Kraft, was sich schon während der Lesung offenbart hat. Die Wahl-Leipzigerin war von den begeisterten Mitarbeitern der Buchhandlung Christiansen und dem Literaturzentrum Hamburg in ihren Heimatort eingeladen worden, wo sie ihr Publikum bei der ausverkauften Lesung in ihren Bann zog.
Waclaw Groszak sei eine Figur gewesen, die ihr beim Schreiben einer Kurzgeschichte begegnet sei und sie nicht mehr losgelassen habe, erzählte Anja Kampmann bei der Lesung. Sich in eine Figur des anderen Geschlechts hineinzuversetzen, fiele auch nicht schwer, wenn man diese Figur ernst nehme, so die Autorin, die fünf Jahre an dem Roman arbeitete. Vor allem die Recherche führte Anja Kampmann sorgfältig durch, auch wenn sie keinen Fuß auf eine Bohrinsel setzen durfte. Zwanzig Firmen habe sie um die Erlaubnis zur Recherche gebeten, aber stets nur Absagen bekommen. Stattdessen habe sie Gasbohrungen an Land besucht und mit vielen Menschen gesprochen, die auf Bohrinseln arbeiten oder gearbeitet haben. Für »Wie hoch die Wasser steigen« war es nötig, sich mit unzähligen Quellen auseinanderzusetzen.
»Die See war leiser geworden. Die Sonne sank hinter den Horizont, das letzte Licht, in dem er saß, war nur eine Annahme, ein Nachbild von etwas, das es schon längst nicht mehr gab.«
2. Kapitel / Tanger / Seite 46
»Wie hoch die Wasser steigen« bewegt sich in einer klaren Männerwelt. Während die Jagd nach der Kohle von der Jagd nach dem Erdöl abgelöst wurde und die Arbeiter sich vom Ruhrgebiet auf die ganze Welt verteilen mussten, wurde für diese Menschen die Distanz zwischen den Menschen auf der Bohrinsel und denen in der Welt, die sie zurücklassen, immer größer. Fast scheint es vergleichbar mit einem Arbeitsplatz auf dem Mond, denn die Arbeiter sind so sehr ab von allem, so sehr rausgerissen aus der „normalen“ Welt, dass sie den Bezug dazu und auch zu sich selbst immer mehr verlieren. Wie weit Waclaw auch fahren mag, er bleibt daher immer ein Fremder und kommt nie wirklich an.
»Der Morgen kam, als hätte jemand mit dem Fuß aufgestampft, als wären die Städte, Budapest, Grand Socco, die Gässchen, die Mauern nichts anderes als das Land, das er vom Wasser aus gesehen hatte; ganz aus Licht und Wind und einem Sand, der sich um- und umschichten ließ, ohne Spur.«
13. Kapitel / Brent / Seite 132
Die Suche nach Identität ist ein Leitmotiv des Romans. Anja Kampmanns Protagonist Waclaw ist wie aus der Welt gefallen und versucht doch, sich irgendwie auf ihr zu halten. Diesen leisen Kampf hat die Schriftstellerin auf gekonnte Weise eingefangen. Innerlich atemlos lässt sich Waclaw durch unsere immer schneller werdende Welt treiben. Anja Kampmann schafft es, daraus ein sehr entschleunigtes Leseerlebnis zu machen, dem vielleicht nicht jeder gewachsen ist. Dank Kampmanns guter Beobachtungsgabe ist es ihr gelungen, detailliert zu erzählen und ihren Lesern die Geschichte mit allen Sinnen spürbar zu machen.
Fazit: Anja Kampmanns Roman »Wie hoch die Wasser steigen« ist ein intelligentes, virtuos komponiertes Debüt, das in melancholischer Stimmung und in poetischer Sprache seine Leser auf eine Reise durch Europa und ins Innere von Waclaw mitnimmt. Meisterhaft gelang es der Autorin, Themen wie Umweltzerstörung oder wirtschaftliche Habgier in ihre Geschichte einzuflechten. Und wer sich auf diese zumeist innere Reise einlässt, kommt auf jeden Fall in den Genuss einer ganz besonderen neuen Stimme.
Wer die Autorin einmal live erleben möchte, hat heute in Hamburg erneut die Gelegenheit. Alle Lesungstermine finden Sie hier.
Anja Kampmanns Roman »Wie hoch die Wasser steigen« ist im Januar 2018 für EUR 23,00 im Hanser Verlag erschienen – gebunden, 352 Seiten, ISBN 978-3446258150.
Eine Leseprobe finden Sie hier.
Über die Autorin: Anja Kampmann wurde 1983 in Hamburg geboren. Sie studierte an der Universität Hamburg und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie veröffentlichte in Zeitschriften, u.a. in Akzente, Neue Rundschau, Wespennest, und im Jahrbuch der Lyrik. 2013 wurde sie mit dem MDR Literaturpreis und 2015 mit dem Wolfgang Weyrauch-Förderpreis beim Literarischen März in Darmstadt ausgezeichnet.
Anja Kampmann debütierte im Frühjahr 2016 mit ihrem Gedichtband »Proben von Stein und Licht« in der Edition Lyrik Kabinett, welche ebenfalls im Hanser Verlag erscheint. Vom Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl wurde »Proben von Stein und Licht« zu den besten Lyrikdebüts des Jahres 2016 gezählt. Der Roman »Wie hoch die Wasser steigen« war 2017 für den Alfred-Döblin-Preis sowie 2018 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nominiert.
Laila Mahfouz, 3. Mai 2018
Links:
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Informationen auf den Seiten des Hanser Verlages finden Sie hier.
Hier liest Anja Kampmann zehn Seiten aus ihrem Roman »Wie hoch die Wasser steigen«:
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Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.