Lesung am 23. März 2017 – Leipziger Buchmesse: Ada Dorian erzählt in ihrem Debütroman »Betrunkene Bäume« von den verschiedenen Arten der Isolation – ob allein inmitten der undurchdringlich scheinenden Taiga Sibiriens, monatelang sprachlos aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten oder eben auch direkt unter uns als alter Mensch in einer Stadt oder als junger Mensch, der sich unverstanden fühlt und dies nicht auszudrücken weiß. Ein gelungenes Debüt.
Handlung (Verlagstext): Erich ist über achtzig und verliert Stück für Stück seine Unabhängigkeit. Außerdem trauert er um die Liebe seines Lebens.
Als junger Forscher hatte Erich eine Expedition in die Taiga unternommen. In jener Zeit hat er Schuld auf sich geladen, die bis heute nachwirkt und Erich vereinsamen lässt.
Dann jedoch tritt Katharina in sein Leben. Sie ist von zu Hause ausgerissen, als ihr Vater die Familie verlassen hat.
Der Roman »Betrunkene Bäume« bildete im Frühjahr 2017 den Auftakt zu einer ganz neuen Reihe im Ullstein Verlag. Anfang des 20. Jahrhunderts gründeten die fünf Brüder Ullstein den modernsten Verlag seiner Zeit. Mit deutschsprachigen Autoren, deren Romane am Puls der Zeit lagen, feierten sie Erfolge. Nun will der Ullstein Verlag an diese Tradition anknüpfen. Pro Halbjahr sollen vier Titel bei Ullstein fünf veröffentlicht werden.
Das durch die Klimaerwärmung im Allgemeinen und die Infrastruktur vor Ort im Besonderen stetig fortschreitende Auftauen des Permafrostbodens, der fast ein Viertel der Landfläche der nördlichen Hemisphäre bedeckt, löst das Phänomene der Betrunkenen Bäume aus:
Bäume, deren Wurzeln im schmelzenden Permafrostboden den Halt verlieren, kippen im getauten Matsch und wachsen krumm weiter. Ganze Wälder oder auch Städte können in Zentralsibirien und anderen Gegenden, die über dem Polarkreis liegen, wie betrunken aussehen.
Auch Ada Dorias Romanfiguren haben den Boden unter den Füßen teilweise verloren, sie geraten in Schieflage, taumeln durchs Leben und versuchen, sich aneinander festzuhalten. Doch können zwei Schwankende einander Halt geben?
Wie die Autorin auf der Buchmesse in Leipzig 2017 erzählte, ist »Betrunkene Bäume« ihr zweiter Roman, wenn auch der erste, der veröffentlicht wurde. Die Geschichte über Menschen, die wie versteinert an ihrem Permafrostboden festgehalten haben und die sich nun neu orientieren müssen, als es in ihrem Innern zu tauen beginnt, ist wirklich gelungen.
Der Forscher Erich ist alt geworden. Obwohl er noch immer akribisch Klimawerte notiert und auswertet, merkt er doch schmerzlich, wie schwer ihm die alltäglichen Tätigkeiten fallen und wie sehr ihm seine Frau Dascha fehlt. Einst hatte er sie bei einer Forschungsreise in Sibirien kennengelernt und dorthin ist sie nun auch zurückgekehrt. Erich vermisst sie so sehr, dass allein die großen Bäume, die er in sein Schlafzimmer gepflanzt hat und von denen niemand wissen darf, ihn trösten können.
»Erich schloss die Augen und lauschte für einige Sekunden dem leisen Knistern, das die Äste an der Tapete erzeugten. Er schlug die Augen wieder auf und überlegte, wie lang der Ahorn schon in diesem Zimmer stand. […] Nun reichte der Stamm bis zur Decke und sorgte dafür, dass die Krone nicht ihre natürlich runde Form annehmen konnte, sondern sich fächerförmig unter der Decke ausbreitete. Die längeren Triebe reichten bis weit in den Raum hinein, so dass vor allem im Herbst mitunter einzelne Blätter auf Erichs Seite des Bettes herabsegelten. Die Birke und der Weißdorn waren wenige Monate später dauerhaft hier eingezogen. Erich liebte den Geruch der Pflanzen, er erleichterte ihm den Schlaf. In ihrer Mitte fühlte er sich wie unter Freunden.«
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In der Wohnung neben Erich findet die junge Katharina Unterschlupf. Sie hat die Schule abgebrochen, ist von zu Hause weggelaufen, weil sie ihrer Mutter nicht verzeihen kann, dass der Vater die Familie verlassen und eine Arbeit in Sibirien angenommen hat. Sie schlägt die Heringe ihres Zeltes direkt in das alte Parkett der verwahrlosten Wohnung. Obwohl sie jung ist und ihr die Welt offensteht, ist sie in ihrem Zelt ebenso einsam und isoliert wie Erich in seinem viel zu großen Ehebett unter seinen geliebten Bäumen.
Die Unfähigkeit, die eigenen Gefühle anderen mitzuteilen, haben wohl alle Figuren aus »Betrunkene Bäume« gemeinsam. Die selbstgemachte Isolation wird beim Lesen spürbar. Das Ende des Buches ist auf gewisse Weise zwar unvermeidlich und traurig, aber andere Aspekte daran sind beruhigend und hoffnungsvoll. Ada Dorian lässt dabei viele Fragen offen. Wirklich klar ist die Zukunft keiner Figur, was einerseits Spielraum für Spekulationen gibt, andererseits aber auch ein etwas unsicheres Gefühl zurücklässt.
Die Autorin hat sich besonders gut in Erich, der seiner Jugend nachtrauert und seine Schuld zu verdrängen versucht, hineinfühlen können. Die junge Katharina, die von zu Hause davon läuft, um ihren Vater in Sibirien zu finden, ist zwar auch gelungen, bleibt aber in der Authentizität hinter Erich zurück. Auch Wolodja, den Erich in Sibirien als Waldführer kennenlernt, ist eine durch und durch spannende Figur. Nur die Person, um die sich eigentlich alles dreht, Erichs Tochter Irina, bleibt – vermutlich absichtlich – nebelhaft und unklar.
Eine der Hauptcharaktere in diesem Buch ist aber auf jeden Fall Sibirien selbst. Die Gewaltigkeit der Natur, der der Mensch kaum etwas entgegenzusetzen hat, die Weite der Tundra, die Taiga, dieses scheinbar unendliche Waldgebiet, aus dem nur mit viel Geschick und einer Portion Glück herauszufinden ist. Der viel zu kurze sibirische Sommer, der es kaum ermöglicht, den Wald rechtzeitig zu durchqueren. Die Szenen in Russland sind so stark geschrieben, das sie allein schon eine Empfehlung wert sind.
Fazit: Ada Dorian erzählt von Menschen, die ihren Halt, ihre Wurzeln verloren haben und versuchen, sich an etwas oder an einander festzuhalten. »Betrunkene Bäume« lässt Figuren, Bilder, Szenen entstehen, die noch lange im Kopf bleiben. Ich bin gespannt, welcher Art die Geschichten sein werden, die von dieser Autorin noch kommen mögen!
Ada Dorians Roman »Betrunkene Bäume« ist im Februar 2017 für EUR 18,00 im Ullstein Verlag erschienen – gebunden, 272 Seiten, ISBN 978-3961010011.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Ada Dorians erster Roman »Schlick«, den Sie bereits vor dem Roman »Betrunkene Bäume« geschrieben hat, wurde im Herbst 2017 ebenfalls im Ullstein Verlag veröffentlicht.
Über die Autorin: Ada Dorian, geboren 1981, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie. Sie forschte in Osnabrück über Erich Maria Remarque, wo sie – nach langem Aufenthalt in Hamburg – lebt. Sie gewann den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg 2009, ist Trägerin des Literaturstipendiums des Landes Niedersachsen 2016 und war nominiert für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2016.
Laila Mahfouz, 25. Februar 2018
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