Lesung am 8. September 2017 im Magazin Programmkino in Hamburg: Eingeladen vom Literaturhaus Hamburg und dem NDR Kultur stellte Arundhati Roys ihren zweiten Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« vor. Auf über fünfhundert Seiten führt uns die Autorin durch die Leben fabelhafter Figuren und durch die letzten sieben Jahrzehnte der indischen Geschichte.
Nach zwanzig Jahren selbst auferlegter Roman-Abstinenz erschien im Juni (in Deutschland im August) 2017 endlich Arundhati Roys zweiter Roman, den sich viele LeserInnen ihres Debütromans »Der Gott der kleinen Dinge« herbeigesehnt hatten. Sagte jemand zu der Weltbestsellerautorin, sie habe seit ihrem Erstling nichts geschrieben, so brachte sie dies zu Recht auf, hat sie doch in den letzten zwanzig Jahren mehr als ein Dutzend Essays zu diversen gesellschaftlichen und politischen Themen veröffentlicht, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde. 2011 erhielt sie außerdem den Norman Mailer Prize für Distinguished Writing.
Nun können wir uns aber über ihre Rückkehr zum Roman freuen, denn wie sonst nur der Film bietet der Roman die Möglichkeit, seine Leser ganz nah an die Figuren heranzuführen und sie, wenn sie erst einmal gefesselt am Lese- oder Kinosessel kleben, hinterrücks mit der ganzen Heftigkeit der Welt zu überfallen. Würde ein Essay über den Kaschmirkrieg politisch oder geschichtlich interessierte Leser ansprechen, so trifft der Bericht über Massaker und politische Gewaltausübung in einem Roman so manch Unvorbereiteten und vermittelt einen Eindruck der Geschehnisse, wie es ein Sachbuch nie könnte.
In »Das Ministerium des äußersten Glücks« verwebt Arundhati Roy äußerst geschickt politische Greueltaten mit dem Schicksal ihrer Figuren. Unter anderem werden die Unruhen im Bundesstaat Gujarat thematisiert, die 2002 von Hindu-Mobs ermordeten Muslime, der Kaschmir-Konflikt aus verschiedenen Perspektiven und sogar der nach dem 11. September 2001 entstandene Hass der westlichen Welt gegen Muslime.
Das Buch ist geradezu eine Chronik der letzten siebzig Jahre indischer Geschichte und wird dennoch an keiner Stelle zum reinen Sachtext.
Wie es dazu kam, dass der S. Fischer Verlag das Buch herausbringen konnte, ist eine berührende Geschichte, die Sie hier lesen können.
Inhalt (vom Verlag übernommen): Auf einem Friedhof in der Altstadt von Delhi wird ein handgeknüpfter Teppich ausgerollt. Auf einem Bürgersteig taucht unverhofft ein Baby auf. In einem verschneiten Tal schreibt ein Vater einen Brief an seine 5-jährige Tochter über die vielen Menschen, die zu ihrer Beerdigung kamen. In einem Zimmer im ersten Stock liest eine einsame Frau die Notizbücher ihres Geliebten. Im Jannat Guest House umarmen sich im Schlaf fest zwei Menschen, als hätten sie sich eben erst getroffen – dabei kennen sie einander schon ein Leben lang.
Wie wahrscheinlich ist es, auf einem Friedhof sein Glück zu finden? Noch dazu in einem Körper, der den geschlechtlichen Normen nicht entspricht, sich im Rentenalter befindet und von großer Armut gezeichnet ist? Anjum ist eine Hijra und mit ihr wird das Thema Transgender auf indische Weise erzählt. Trotz aller Ungewöhnlichkeiten ist die Geschichte Anjums eine Geschichte der Hoffnung, denn wie schwer das Schicksal sie auch trifft, Anjum findet ein kleines Glück selbst dann, wenn andere verzweifeln. Im Laufe des Romans und über eine Handlung von siebzig Jahren stellt uns Arundhati Roy Figuren vor, die mit schweren Schicksalsschlägen leben müssen. Sie schaffen sich schließlich – aller unvorstellbaren Traumata zum Trotz – durch Wahlverwandtschaft eine neue Familie der Fallenden.
»Wenn du einmal […] vom Rand gefallen bist«, sagte Anjum, »wirst du nie wieder aufhören zu fallen. Und während du fällst, hältst du dich an anderen fallenden Menschen fest. […] Dieser Ort, an dem wir leben, den wir zu unserem Zuhause gemacht haben, ist ein Ort der fallenden Menschen. Hier gibt es keine haqeeqat [= Wirklichkeit]. […] sogar wir sind nicht real. Wir existieren nicht wirklich.«
2 / Khwabgah / Seite 113
Die Suche nach Indien-Romantik ist in diesem Buch vergeblich. »Das Ministerium des äußersten Glücks« beleuchtet die dunkle Seite Indiens und erzählt von Menschen am unteren Ende der Gesellschaft. Die Geschehnisse dieser siebzig Jahre werden aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Wie Mosaikstückchen, die allein zwar schön sind, aber keinen Sinn ergeben, macht erst ihre Gesamtheit das Bild sichtbar – dabei allerdings ebenso wahrhaftig wie trügerisch. Verschiedene Menschen, verschiedene Meinungen, verschiedene Erinnerungen an die Vergangenheit. Der Roman beinhaltet Listen, Zeugenaussagen aus einem Foltergefängnis, ein spezielles Alphabet der Verzweiflung sowie Mitschriften der letzten Worte einer Sterbenden – all das und noch viel mehr verweben die beiden Welten von Anjum und den vier Freunden aus Studientagen miteinander.
Während des Studiums waren sie Freunde: die Architektin Tilottama (genannt Tilo), der Journalist Naga, der Kashmiri Musa und der Ich-Erzähler – ein Nachrichtendienstler, der in Rückblicken von der Vergangenheit der vier berichtet. So fesselnd und wundervoll verwoben ihre Geschichten auch sind, so ist es doch Anjum, die im Zentrum des Romans steht und deren Geschichte den größten Sog ausübt. Sie ist eine so schillernde, starke und charismatische Figur, dass es kaum vorstellbar scheint, dass sie nur zwischen zwei Buchdeckeln existieren soll. Ebenso muss es wohl ihrer Erschafferin gegangen sein, denn Arundhati Roy sagte über Anjum: „She is more real to me than real people and I feel like I live in her guest house on the graveyard“ („Sie ist für mich realer als reale Personen und ich fühle mich, als lebte ich in ihrem Gästehaus auf dem Friedhof“).
Als Anjum schließlich auf den Friedhof in Delhi zieht, sitzt sie tagelang nur da und beginnt mit dem Ort zu verwurzeln wie ein Baum. Nacht für Nacht rollt sie ihre Matte zwischen den Gräbern zweier Verwandter zum Schlafen aus und nachdem ihr ein notdürftiges Dach über dem Kopf gebaut wurde, erweitert sie es mit der Zeit, breitet sich über immer mehr Gräber ihrer Familie aus, so dass in jedes Gästezimmer ein Grab integriert ist. Sie sei ein mehfil, eine Versammlung von allem und nichts, sagt Anjum und findet langsam in dem selbst erschaffenen Glücksministerium ihr wahres Zuhause. Sie lässt einen ebenso unwahrscheinlichen wie wundervollen Ort entstehen, der während der Lektüre den Wunsch nach einem Aufenthalt in eben diesem Gästehaus auslöst.
Als es heiß wurde, kehrten sie ins Haus zurück, wo sie weiter durch ihr Leben trieben wie zwei schwerelose Astronauten, beschränkt nur von den pinkfarbenen Mauern ihres Raumschiffs mit den blass pistaziengrünen Türen.
Sie hatten durchaus Pläne.
Anjum wartete darauf zu sterben.
Saddam wartete darauf zu töten.
Und Meilen entfernt wartete in einem unruhigen Wald ein Baby darauf, geboren zu werden …
2 / Khwabgah / Seite 122 + 123
Wie Arundhati Roy sagte, entschied sie sich für den Titel »Das Ministerium des äußersten Glücks«, weil so viele zerbrechliche Augenblicke des Glücks im Buch vorkommen. Es sei ein Buch über Zärtlichkeit und Poesie inmitten der schrecklichsten Geschehnisse. Die Region Kaschmir gleiche einem Friedhof, obwohl der Name Paradies bedeute, so Roy, die das Gästehaus, das Anjum auf dem Friedhof eröffnet, daher Jannat nannte, was ebenfalls Paradies bedeutet. Der Roman erzähle die Geschichte von Menschen, deren gebrochene Herzen auf dem Friedhof wieder zusammenheilen, so die Autorin im Gespräch mit Jan Ehlert. Über ihre Arbeit am Roman sagte sie: „It’s a very carefully planned and very carefully unplanned story“ („Es ist eine sehr sorgfältig geplante und sehr sorgfältig ungeplante Geschichte).
Sicher erging es Arundhati Roy wie einer ihrer Figuren, die den Wunsch äußerte, eine kultivierte Geschichte zu schreiben, in der nicht viel passiert, aber es dennoch viel gäbe, über das es sich zu schreiben lohnt. Doch ebenfalls anmerkt, es ist nicht möglich, über Kaschmir eine Geschichte zu schreiben, die kultiviert, also frei von Gewalt, Unrecht und Blutvergießen ist. Über all diesen Greueltaten die Augen zu verschließen und ihre Existenz zu leugnen, wäre ein Fall für die Psychiatrie.
Daher hat Arundhati Roy fast ein Wunder vollbracht, denn wie sie ihre über sieben Jahrzehnte gespannte Handlung, die schlimmsten Verbrechen der indischen Geschichte und die Schicksale ihrer Charaktere in wunderschöner, poetischer Sprache zum Leben erweckt, ist einfach sagenhaft gelungen. Zwar macht die Schönheit ihrer Sprache die schlimmsten Passagen des Romans erst erträglich, doch unbemerkt brennen sie sich auf diese Weise erst recht ins Gedächtnis ein.
An jedem Ort im legendären Kaschmirtal befand sich jeder, gleichgültig, was er tat – ob er ging, betete, sich wusch, Witze machte, Walnüsse knackte, mit jemandem schlief oder mit dem Bus nach Hause fuhr – in Schussweite eines Gewehrs. Und weil er sich in Schussweite eines Gewehrs befand, war er, gleichgültig was er tat – ob er ging, betete, sich wusch, Witze machte, Walnüsse knackte, mit jemandem schlief oder mit dem Bus nach Hause fuhr – , eine legitime Zielscheibe.
9 / Der Vorzeitige Tod von Miss Jebeen der Ersten / Seite 433
Es war kein Reiseführer zur Hand, der ihr erklärte, dass Albträume in Kaschmir häufig den Wirt wechselten. […] In Kaschmir konnte man Albträume nur umarmen wie alte Freunde und in Schach halten wie alte Feinde.
9 / Der Vorzeitige Tod von Miss Jebeen der Ersten / Seite 439
Übersetzung: Ich habe wieder das Original und die deutsche Übersetzung parallel gelesen und halte die Übersetzung von Anette Grube für äußerst geglückt. Es war sicher keine Kleinigkeit, dieses oppulente Werk in unsere Sprache zu übertragen und dabei diesen poetischen Stil Arundhati Roys, ihren ganz eigenen Ton zwischen Melancholie, Humor und Bitternis einzufangen. Dennoch ist es natürlich ein noch größerer Genuss, die von Arundhati Roy ausgewählten Worte der Orginalausgabe zu lesen.
Allerdings fehlt in der Originalausgabe das vierseitige Glossar mit einer Begriffserklärung der verwendeten indischen Wörter, das sich in der deutschen Ausgabe des S. Fischer Verlages findet.
Hörbuch: Der Argon Verlag brachte ebenfalls im August 2017 die Hörbuchausgabe von »Das Ministerium des äußersten Glücks« (ISBN: 978-3839815878) in zum Glück ungekürzter Form heraus. Gelesen wird das Buch von Gabriele Blum, die als Schauspielerin, Regisseurin und Autorin an zahlreichen Theaterinszenierungen mitwirkte. Nun lässt Gabriele Blum alle Figuren aus Arundhati Roys vielfarbigem Roman lebendig werden.
Sie finden das Hörbuch zu Arundhati Roys Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« hier. Das Hörbuch besteht aus 3 mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von über 15 Stunden.
Fazit: Arundhati Roys Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« ist wie ein vollmundiger Rotwein, der alle Einflüsse seiner Umgebung in sich vereint. Die letzten zwanzig Jahre der politischen Arbeit Roys haben ebenso dazu beigetragen wie die schrecklichen Dinge, die während der letzten siebzig Jahre in Indien passiert sind, und das heutige Indien, in dem das Jannat Gästehaus auf dem Friedhof in Delhi so wahrhaftig erscheint.
Arundhati Roys Kunst ist so groß, dass so großartige Figuren wie die starke Tilo, der liebenswerte Saddam Hussain und natürlich die „Versammlung“ Anjum wohl immer in der Erinnerung der Leser dieses Romans verbleiben werden.
Der Roman strotzt vor Inspiration und Hoffnung. Zwischen Verzweiflung und Freudentränen reißt er seine Leser auf jeder Seite hin und her und lässt am Ende, das sich gern noch hätte hinziehen können, viel Stoff zum Nach- und Umdenken.
Eine Hymne auf das Leben nennt der S. Fischer Verlag den Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« und dem kann ich nur von Herzen zustimmen. Und all das in einer wundervollen, bildhaften, poetischen Sprache, die süchtig macht. Dies ist ganz sicher einer der besten Romane des Jahres 2017!
Arundhati Roys Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« (Originaltitel: »The Ministry of Utmost Happiness«) ist in der Übersetzung von Anette Grube im August 2017 für EUR 24,00 im S. Fischer Verlag erschienen – gebunden, 560 Seiten, ISBN 978-3100025340.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Arundhati Roy wurde 1959 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Delhi. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Debüt »Der Gott der kleinen Dinge«, für das sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den letzten zehn Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks«. Der Roman stand auf der Longlist des Man Booker Prize 2017.
Laila Mahfouz, 9. Januar 2018
Links:
Unsere Fotostrecke zur Veranstaltung finden Sie hier. Die Rechte an den Fotos liegen bei Anders Balari.
Informationen auf den Seiten des S. Fischer Verlages finden Sie hier.
Ein Interview mit Arundhati Roy ist hier zu lesen.
Die Facebook-Seite von Arundhati Roy finden Sie hier.
Auf Twitter finden Sie Arundhati Roy hier.
Weitere Informationen zu Arundhati Roy finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.