Owen Sheers‘ Roman »I Saw A Man« ist weit mehr als ein unterhaltsamer, spannender Roman. Hier vereint Sheers Themen wie Krieg, Verlust, Trauer, Schuld und Verantwortung. Alles so geschickt verpackt und vernetzt, dass der Leser am Ende des Buches weiß, einem großen Erzähler gelauscht zu haben, von dem noch viel zu erwarten ist.
Inhalt (dem Verlagstext entnommen): Nach dem tragischen Tod seiner Frau Caroline, die als Journalistin bei einem Auslandsdreh in Afghanistan ums Leben gekommen ist, erträgt Michael es nicht länger im gemeinsamen Heim in Wales. In dem Versuch, ein neues Leben zu beginnen, zieht er nach London, wo er auf die Nelsons trifft: Josh, Samantha und ihre zwei Töchter wohnen im Haus nebenan, und aus einer Zufallsbekanntschaft wird schnell – allzu schnell? – eine intensive Freundschaft. Michael geht bei den Nelsons wie selbstverständlich ein und aus, bis er eines Samstagnachmittags ihre Hintertür halb offen stehend vorfindet. In dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt, betritt er das augenscheinlich leere Haus … und setzt damit eine Folge von Ereignissen in Gang, die ihrer aller Leben schlagartig und auf immer verändern wird.
Der erste Satz des Romans lautet:
»Der Vorfall, der ihrer aller Leben veränderte, ereignete sich an einem Samstagnachmittag im Juni, kurz nachdem Michael Turner – in der Annahme, es sei niemand da – das Haus der Nelsons durch die Hintertür betreten hatte.«
Wie schon das gelungene Buchcover baut Owen Sheers mit diesem ersten Satz große Spannung auf. Der Leser weiß nicht, was passieren wird, was der Vorfall ist, der so entscheidend in die Leben dieser Menschen eingreift. Bis zur Hälfte des Buches ist nun Geduld gefragt, denn erst einmal wird Michael Turner in Rückblenden vorgestellt und der Leser lernt auch die anderen Personen kennen, wobei der schicksalhafte Moment immer wieder erwähnt wird. Ohne Längen wird die Spannung bis zum Schluss gehalten. Die glaubwürdigen Charaktere tun ein Übriges, um den Leser gänzlich in die Romanhandlung hineinzuziehen.
Als Inspiration für den Roman und titelgebend ist das Gedicht »Antigonish« von William Hughes Mearns. Ein Auszug, der dem Roman vorangestellt wurde, lautet:
»Yesterday, upon the stair,
I saw a man who wasn’t there.
He wasn’t there again today,
I wish, I wish he’d go away.«
Ohne mehr als nötig zu verraten, sei gesagt, dass denen, die den Roman gelesen haben und sich hinterher an diese Zeilen erinnern, ein Schauder über den Rücken laufen wird, denn dieses Zitat bezieht sich auf die schicksalhafte Schlüsselszene des Romans. Und eben darum geht es, wie ein einziger Moment, eine Entscheidung das eigene und verschiedene andere Leben nachhaltig verändern kann.
Drei Männer bestimmen die Handlung des Romans, allen voran Schriftsteller Michael Turner, der für seine Arbeit tief in die Leben realer Personen eintaucht, sich mit ihnen anfreundet, so dass er ihre Geschichte für eines seiner Bücher „ausnutzen“ kann, ohne sie um eine Erlaubnis gefragt zu haben. Dann Major Daniel McCullen, der von der Creech Air Force Base in Nevada eine Drohne in Pakistan steuert, die aufgrund einer menschlichen Fehleinschätzung eine Rakete abfeuert, die Michaels Ehefrau, die Journalistin Caroline, tödlich trifft. Dieses Ereignis stürzt den Soldaten in tiefe Verzweiflung und veranlasst ihn, sein Leben zu ändern. Und schließlich Joshua Nelson, ein Londoner Broker, der sich, wie alle anderen in dem Geschäft, an Kriegen bereichert. Hier schließt sich der Kreislauf des Lebens, denn auch wenn es uns nicht immer klar ist, so können unsere Handlungen irgendwo in der Welt ein anderes Ereignis verursachen, das dann wie ein Bumerang zu uns zurückkommt und uns niederstreckt, wenn wir es am wenigsten erwarten. Täter werden Opfer und die Ereigniskette geht weiter und immer weiter, ohne dass wir je alle Zusammenhänge erfassen könnten.
Was die männlichen Figuren dieses Romans angeht, passt das biblische Zitat „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“. Owen Sheers gelingt es, die Leben seiner Figuren meisterhaft miteinander zu verflechten und schafft eine greifbare Entsprechung der Wahrheit, dass alles mit allem verbunden ist.
»Dicht vor dem Fenster blieb er stehen und musterte den Mann, der ihm daraus entgegenstarrte. […] Hier würden sie noch einmal ganz von vorn anfangen, er und dieser Mann im Fenster. […] Hier würde er seinen Frieden machen müssen, mit seiner Vergangenheit und mit dem Mann im Fenster, der es hatte geschehen lassen.«
Kapitel 4 / Seite 55
Die weiblichen Hauptpersonen sind Michaels Frau Caroline, Joshs Frau Samantha und ihre beiden Töchter Rachel und Lucy und die Themen, um die sich alles in diesem Buch dreht sind Krieg, Verlust, Trauer, Schuld, Verantwortung, der Wunsch, das Richtige zu tun und die Erkenntnis, wie schwierig das ist. Owen Sheers hatte sich vorgenommen, einen Roman zu schreiben, in dem alle Themen gleichberechtigt existieren und das ist ihm wirklich perfekt gelungen.
Für die Handlung war es wichtig, einen genauen Blick auf das Konstrukt der Familie zu werfen. Wie gehen die Mitglieder einer Familie mit einander und ihrer Trauer um. Wie fühlt sich Michael, der mit Caroline nie eine Familie gründen konnte und nun praktisch in die Familie seiner Nachbarn, den Nelsons, aufgenommen wurde. Diese Gedankenexperimente fielen Owen Sheers nicht leicht, denn nach eigener Aussage fühlte er sich zu Beginn des Manuskripts sehr weit entfernt von der Vorstellung, eine Familie zu gründen. Spannenderweise hat der Roman auch sein eigenes Leben verändert, denn er heiratete seine Freundin Katherine, kaum dass sein Manuskript fertig war. Inzwischen ist Sheers Tochter Anwyn Beweis für seinen Glauben an das, was Familie bedeuten kann.
»Dass bei dieser Hitze Fleisch augenblicklich schmolz, Knochen verdampften und der Mensch, den man liebte, in Bruchteilen von Sekunden vom Sein zum Nichtsein befördert wurde. Denn auch wenn sie die Bezeichnung »Fire and Forget« trug – war eine Hellfire [-Rakete] erst einmal abgefeuert, gab es immer jemanden, der sie niemals vergessen würde.«
Kapitel 10 / Seite 160
Für mich ist das Buch vor allem eine Anklage an den Krieg im Allgemeinen und eine Warnung, dass er mehr auslöst und tiefer in unser aller Leben einzudringen vermag, als uns bewusst ist. Owen Sheers ist im englischen Sprachraum unter anderem als Dichter bekannt und auch seine Lyrik könnte man als Anti-Kriegslyrik bezeichnen. Für sein Versdrama »Pink Mist« (Ein Begriff für das sprühende Blut, das jemand sieht, wenn ein anderer von einem Geschoß getroffen wird.) über drei junge Männer im Krieg in Afghanistan und deren psychische Zerstörung gewann Owen Sheers den Preis Wales Book of the Year. In »I Saw A Man« schafft er es ganz nebenbei, die moderne Kriegführung in all ihrem unmenschlichen Grauen, wie auch die Verfolgung dieser Taten in den Seelen der Betroffenen auf einfühlsame und doch sachliche Weise aufzuzeigen.
»Die verschwiegene Wahrheit ist wie ein riesiger Müllberg. Den kannst du zuschütten, so viel zu willst, beim nächsten Regen kommt alles wieder zum Vorschein.«
Kapitel 3 / Seite 41
»Er wollte ihr die Wahrheit sagen […] die verschwiegene Wahrheit war wie ein riesiger, zugeschütteter Müllberg, unsichtbar und doch da, der langsam den Erdboden vergiftete. Weshalb Michael vor einem halben Jahr beschlossen hatte, nach einer Möglichkeit zu suchen, wie er zu seinem Wort stehen und zugleich die wahre Geschichte dieser verhängnisvollen Minuten im Haus der Nelsons erzählen konnte.«
Kapitel 24 / Seite 295
Fazit: Owen Sheers‘ »I Saw A Man« ist ein Roman, der sich jeder Kategorisierung entzieht. Wundersamer Weise ist er keinem Genre zuzuordnen, doch ich bin überzeugt, dass Leser von Psycho-Thrillern ihn ebenso gebannt lesen werden wie Leser anderer Romane. Das walisische Universaltalent Owen Sheers hat sein psychologisches Puzzlespiel virtuos komponiert. Mit scheinbar leichter Hand erschafft er ein Panorama an Geschichten und verbindet viele wichtige Themen so geschickt miteinander, dass der Leser erst im Nachhinein merkt, wie gut das Buch wirklich ist. Das Ende des Romans lässt auf die ersten Seiten zurückblättern und mächtig schlucken, denn nur die Wahrheit macht frei. »I Saw A Man« ist ein intelligenter, spannender und aufwühlender Roman, der sich dem Gedächtnis einbrennt.
Die englische Ausgabe des Romans lag mir bis gestern leider nicht vor, so dass ich keinen Vergleich ziehen und die Übersetzung nicht werten kann. Allerdings ist mir eine gewisse Freiheit in der Auslegung schon in dem Satz aufgefallen, den ich über dem Fazit auf deutsch zitiert habe: »The untold story […] it’s like landfill. We can bury it all we like, but in time it’ll catch up with us.«
In diesem Video erzählt Owen Sheers von der Idee und der Arbeit für »I Saw A Man«:
Owen Sheers‘ Roman »I Saw A Man« ist im Februar 2016 in der Übersetzung von Thomas Mohr für EUR 19,99 im DVA Verlag erschienen – gebunden, 304 Seiten, ISBN 978-3421046697.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Owen Sheers, geboren am 20. September 1974 in Fidschi, lebt nach einer Zeit in London heute mit seiner Frau und seiner Tochter in Wales, wo er auch aufgewachsen ist. Vielseitig talentiert, lässt er sich nur schwer auf eine Form festlegen – zu seinen publizierten Werken zählen Romane, Dramen, Libretti, Gedichte und ein Sachbuch. Sein Debütroman »Resistance«, um den Einmarsch der Wehrmacht in Wales wurde in zehn Sprachen übersetzt und 2011 mit Andrea Riseborough und dem deutschen Schauspieler Tom Wlaschiha (internatioal bekannt durch seine Rolle in der Serie »Game of Thrones«) verfilmt. (Warum im Handel nur eine DVD als UK-Import verfügbar ist, kann ich wahrlich nicht nachvollziehen!) Sheers wurde u.a. mit dem Somerset Maugham Award, der Hay Festival Poetry Medal und dem Amnesty International Freedom of Expression Award ausgezeichnet. »I Saw A Man« ist sein zweiter Roman, dessen französische Übersetzung u. a. für den Prix Femina Étranger 2015 nominiert war.
Laila Mahfouz, 16. Juni 2017
Links:
Die Website des Autors finden Sie hier.
Informationen zum Autor auf den Seiten des DVA Verlages finden Sie hier.
Der Audiobuch Verlag brachte ebenfalls im Februar 2016 die Hörbuchausgabe von »I Saw A Man« für EUR 19,99 (ISBN: 978-3844521207) leider in gekürzter Fassung heraus.
Spannend, einfühlsam und kurzweilig gelesen wird das Buch von Devid Striesow.
Sie finden das Hörbuch hier. Das Hörbuch besteht aus 1 mp3-CD mit einer Gesamtlaufzeit von 7 Stunden und 30 Minuten.
Ein Interview des Guardian mit Owen Sheers aus dem Juni 2015 finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Owen Sheers finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.