Das Pfingstwochenende läutete für mich Sibylle Lewitscharoffs Roman »Das Pfingstwunder« auf ganz besondere Weise ein. Der Roman, in dem sich alles um Dante Alighieris »Die göttliche Komödie« dreht, ist ein wissensreiches, hochliterarisches, poetisches und humorvolles Vergnügen, dessen Lektüre zum Nachdenken mehr auffordert als einlädt.
Sibylle Lewitscharoff entwirft in ihrem Roman »Das Pfingstwunder« den idealen Kongress, dem sicher viele Leser und gewiss jeder Freund von Dante Alighieris »Die göttliche Komödie« gern beigewohnt hätten.
Der Universitätsprofessor Gottlieb Elsheimer aus Frankfurt nimmt mit dreiunddreißig Kollegen aus aller Herren Länder auch 2013 an dem regelmäßig stattfindenden Dante-Symposium teil, welches in besagtem Jahr im historischen Saal der Malteser auf dem römischen Aventin stattfindet.
Canto für Canto werden die Höllenkreise aus Dantes Meisterwerk von den Konferenzteilnehmern vorgestellt, wobei die Redner immer blumiger, ausschweifender, mitreißender und vom Geiste Dantes durchdrungen vortragen. Alle sind sich einig, nie ein anregenderes, lebhafteres und interessanteres Symposium erlebt zu haben.
»Die Commedia verwandelte sich von einem auf Distanz gehaltenen Gegenstand der Forschung in ein Wirkwesen der wahren Poesie: sie hielt uns in ihrem Bann, verzauberte uns […]«
Kapitel IV / Seite 45 + 46
Schon auf den ersten Seiten erfährt der Leser, was in dem Augenblick geschieht, da die Glocken des Petersdoms das Pfingstfest einläuten: Dreiunddreißig der Professoren und drei Mitglieder des Personals fliegen in den Abendhimmel über Rom in himmlische Gefilde davon, nachdem sie zuvor in einen Verzückungstaumel verfallen sind und in ihrer Euphorie die Fensterbänke stürmten.
Obgleich Dantes Divina Commedia in einen Prolog und dreimal dreiunddreißig Gesänge aufgeteilt ist, endet Lewitscharoffs Roman mit 34 Kapiteln vor den himmlischen Gesängen, welche die zum Himmel Gefahrenen zweifellos auf ihrem Weg und am Ziel ihrer Reise anstimmen werden.
Wer nicht singt, ist Gottlieb Elsheimer. Der Zurückgelassene, vom Himmel Verschmähte, kann seine Situation weder begreifen noch akzeptieren. Ist das Erlebte wirklich geschehen? Wenn es also Wunder gibt, warum ist es ihm begegnet und vor allem weshalb war er dazu verdammt, mehr Zaungast dieses Vorkommnisses als Teilnehmer zu sein?
»Davon in nüchternen Worten zu berichten fällt schwer. Wovon zu erzählen ist, vollzieht sich nicht in klassischen Proportionen, es gibt kein logisch untermauertes Schichtprinzip. Kunstreich ineinander verzahnt ist da nichts. […]
Irrwischhaft steigt’s zu Kopfe, frißt auf, hebt sich hinweg. Macht sich auf und davon, fliegt ins Universum oder hinab zum höllenhaften Glutkern der Erde.«
Kapitel II / Seite 25 + 26
Virgil führt Dante – Druck von Salvador Dalí (Foto: G. B.)
Bei diesem sowohl epiphanischen als auch hoch literarischen Höllenritt taucht Elsheimer in die Geschichte der Commedia ein und berichtet inhaltlich wie emotional von den erlebten Vorträgen. Auf diese Weise macht Sibylle Lewitscharoff auch Dante-Neulinge mit dem Werk vertraut. Vorkenntnisse sind für die Lektüre nicht erforderlich, doch ein nicht geringes Interesse an Dantes Commedia sollte nicht fehlen.
Obwohl der Roman oftmals ins Essayistische gleitet, tut dies seinem Unterhaltungswert keinen Abbruch – vor allem aufgrund des für Lewitscharoff typischen Humors. Selbst die Vergleiche der einzelnen Übersetzungen der Commedia ins Deutsche haben mich in Verzückung versetzt.
Gelungen sind ebenfalls die Passagen über Kunst (nicht nur die, welche sich mit Dantes Werk auseinandersetzen), wobei ich überrascht und enttäuscht war, von Salvador Dalís Xylographie-Zyklus nichts zu lesen. Mit dieser Auslassung wiederholt Lewitscharoff die an Dalí begangene Schmähung seiner Werke – ursprünglich zum 700. Geburtstag Dantes geplant, zog die italienische Regierung aufgrund des Volkszorns (Ein Spanier soll den großen Italiener ehren?) und des Drucks der kommunistischen Partei ihren Auftrag zurück. Ich hatte das große Glück, vor einigen Jahren eine große Ausstellung mit Dalís Aquarellen zur Commedia zu sehen und kann sie nur jedem empfehlen.
»Meine Kollegen sind oben, wo auch immer dieses Oben sein mag. Ich bin eine Art Niederwild, hocke im Frankfurter Stadtgebüsch, habe den Zug in die Höhe versäumt. Den konischen Aufbau des Purgatoriums in nach oben weisenden Rundungen geistig zu erklettern, um dann in die Höhe des Absoluten emporgerissen zu werden, habe ich nicht zugelassen.«
Kapitel XVI / Seite 157
Noch mehr als die Frage, was genau an diesem Pfingsttag geschehen ist, beschäftigt Gottlieb Elsheimer, dass ihm selbst die Himmelfahrt verwehrt blieb. War er ihrer nicht ebenfalls würdig? Was unterschied ihn von seinen Kollegen und sogar den Mitgliedern des Personals, die nur teilweise zu echten Danteanern zählten? Im Grunde beschreibt er in dem o. g. Zitat schon, was das Problem war: er hat es nicht zugelassen. Er hat sich von der Begeisterung, der Euphorie, der Verzückung, dem Wahnsinn nicht anstecken lassen, das bunte Treiben der anderen war ihm unheimlich und trotz Aufforderung konnte er es seinen Kollegen nicht gleichtun. Krampfhaft hat er die Kontrolle und damit sich im Hier und Jetzt und mit beiden Beinen auf der Erde gehalten!
Außerdem wäre eine Himmelfahrt für 37 natürlich unmöglich gewesen. Wer sich etwas mit Zahlen auskennt, weiß, dass es eben einige gibt, die gleicher sind als andere und die 12 zählt eindeutig zu den Erstrangigen. Mit 3 x 12 himmelwärts Juchzenden ist die Entsprechung des apostolischen Wunders doch unübersehbar! Und da Elsheimer sich nicht von seinem Stuhl bewegt und in Richtung Fenster begibt, wird die Nr. 36 dann eben ein anderer. Wer zuerst kommt, fliegt zuerst. (Wobei es mit dem Jack Russell Terrier Kenny natürlich doch 37 Seelen sind, die aufwärts fliegen!)
Unschön aus Sicht eines modernen Menschen mit dem Drang, die Welt besser zu machen, ist die Passage, in der Elsheimer sich ausmalt, welche Höllenstrafen für Hitler, Göbbels & Co. geeignet wären. Besonders irritierend ist der Hinweis, diese Strafen mögen eine „ewige Pein ohne die Möglichkeit der Erlösung“ sein. Das ist Denken des Alten Testaments, dem ich mich nicht anschließen kann. Nur wer vergibt, kann Wiederholungen verhindern. Jesus‘ Lehre lässt sich mit dem Verständnis einer Hölle ohnehin nicht vereinbaren.
Auch zeugt die Quasi-Anbetung einer Person (Dante) oder eines Werks (»Die göttliche Komödie«) und deren wörtliche Auslegung nicht von allzu viel Klugheit. Bei allem Respekt vor der literarischen Bedeutung des Werks, bin ich sehr froh, dass die Anzahl der Menschen stetig wächst, die die Welt von Schuld und Strafen längst hinter sich gelassen haben. So sind viele heutige Menschen wie der Philosoph (er ist vieles, aber hier sei dies erwähnt) Robert Gwisdek um ein Vielfachers klüger, da um Längen weiter in ihrer Entwicklung.
Dadurch, dass Gottlieb Elsheimer ein Zweifler ist, der alles in Frage stellt, beweist Sibylle Lewitscharoff wieder einmal ihre überragende Intelligenz und reicht somit die Fackel an ihre nachdenklichen Leser weiter. (Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche!) Verhaftet im ewigen Gestern ist diese Autorin sicher nicht. So teilt sie bestimmt mit ihrem Protagonisten Elsheimer die Meinung, dass bei aller Verurteilung des Verrats an sich (für Dante die größte Sünde), in Fällen von Graf Stauffenberg oder Edward Snowden ein „Verrat“ mehr mit der Wahrheit und dem Wohl aller zu tun hat als das Schweigen und Wegschauen.
Das (leere) Grabmal Dantes in der Kirche Santa Croce in Florenz. (Foto: I. K.) Das Grab Dantes befindet sich in Ravenna.
Fazit: Wer beim Lesen neues Wissen in sich aufnehmen will, dem sei jederzeit zu einem Buch von Sibylle Lewitscharoff geraten. In »Das Pfingstwunder« erfährt der Leser nicht nur viel zu Inhalt, Bedeutung und Heutigkeit von Dante Alighieris »Die göttliche Komödie« oder dass Deutschland das Land mit den meisten (über 50!) Commedia Übersetzungen ist, sondern kann sich nebenbei aus der Fülle an Wissenswertem einen hübschen Strauß für seine innere Datenbank pflücken.
Besonders gefallen hat mir die Passage kurz vor der Himmelfahrt, da Gottlieb Elsheimer all die Nachrichten sieht, wie sie tagtäglich auf uns einströmen. Vor seine Augen treten Bilder von Krieg, Folter, sinnlosem Abschlachten von Tieren, Müllbergen, Ausbeutung, Ausrottung, – kurz all das, was unsere Welt zur Hölle auf Erden macht. Und alles, wirklich alles ist MENSCHENGEMACHT! Ist Dantes Hölle da noch von Nöten? Sind wir einander so gesehen nicht schon Strafe genug? (Wenn man sich schon nicht von solchen Denkmustern lösen will… Ist es möglich, alles von Menschenhand Gemachte rückgängig zu machen oder geht es uns wie Goethes Zauberlehrling? Dann hoffe ich doch sehr, dass ein irgendwie gearteter Meister bald eingreifen und alle Besen wieder an ihre Plätze verweisen möge!)
Sibylle Lewitscharoff ist mit dem Roman »Das Pfingstwunder« selbst ein kleines Wunder gelungen. Eine Unmenge an zum Teil auf essayistische Art verpackten Informationen, gewürzt mit einer guten Portion Humor, verschnürt mit einem dünnen Romangeschenkbändchen und garniert mit vielen Verweisen auf die Zeit, in der wir leben, das ergibt einen an keiner Stelle langatmigen Hochgenuss für Seele und Geist!
Sibylle Lewitscharoffs Roman »Das Pfingstwunder« ist im September 2016 für EUR 24,00 im Suhrkamp Verlag erschienen – gebunden, 350 Seiten, ISBN 978-3518425466.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart als Tochter eines bulgarischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, studierte Religionswissenschaften in Berlin, wo sie, nach längeren Aufenthalten in Buenos Aires und Paris, heute lebt. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Buchhalterin in einer Werbeagentur. Sie veröffentlichte Radiofeatures, Hörspiele und Essays. Für »Pong« erhielt sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Es folgten die Romane »Der Höfliche Harald« (1999), »Montgomery« (2003) und »Consummatus« (2006). Der Roman »Apostoloff« wurde 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 2013 wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
»Blumenberg« (2011) stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien der Band »Vom Guten, Wahren und Schönen«, der die 2011 in Frankfurt und in Zürich gehaltenen Poetikvorlesungen versammelt. 2009 gestaltete Sibylle Lewitscharoff eine Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv Marbach zum Thema »Der Dichter als Kind«; in ihren Papiertheater-Arbeiten befaßt sie sich mit Clemens Brentano, Johann Wolfgang von Goethe, Gottfried Keller, Karl Philipp Moritz und Friedrich Schiller. Ihr letzter Roman »Das Pfingstwunder« stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
Sibylle Lewitscharoff ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Berliner Akademie der Künste. 2013/14 verbrachte sie ein Jahr als Stipendiatin in der Villa Massimo in Rom, danach war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Laila Mahfouz, 9. Juni 2017
Links:
Weitere Informationen zu Sibylle Lewitscharoff finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Dante Alighieri (1265 – 1321) finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.
Der Audiobuch Verlag brachte ebenfalls im September 2016 die Hörbuchausgabe von »Das Pfingstwunder« für EUR 24,95 (ISBN: 978-3899649475) heraus. Gelesen wird das Buch von Frank Arnold. Da es sich um eine gekürzte Ausführung handelt, kann ich dieses Hörbuch auf keinen Fall empfehlen. So ein Werk sollte nicht verstümmelt werden. In dieser Form fehlen ihm wichtige Gliedmaßen, die für die Fortbewegung des Stoffes durch die Labyrinthe des Geistes unbedingt erforderlich sind: viele persönlichen Ansichten Gottlieb Elsheimers sowie alle Einblicke in seine Kindheit wurden gestrichen und machen die Figur wesentlich farbloser als die Autorin sie gezeichnet hat. Seitenweise fehlen Ausführungen über Kunst sowie diverses weitere hilfreiche Wissen… Außerdem auch die logischerweise vorkommenden Nachfragen der Angehörigen der Entschwundenen… Das ist keine runde Sache – schade, denn Frank Arnold macht seine Sache gut und im Hinblick auf die vielen Sprachen, die er hier in Auszügen wiedergeben muss, ziehe ich den Hut vor ihm.
Sie finden das Hörbuch hier. Das Hörbuch besteht aus 6 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von über 437 Minuten.