Benefiz-Lesung am 22. Januar 2017 im Ledigenheim Hamburg: Hannah Dübgen las aus ihrem im August 2016 erschienenen Roman »Über Land«. Die Geschichte einer besonderen Freundschaft zwischen einer irakischen Asylbewerberin und einer Ärtzin aus Berlin bewegte die Zuhörer. Eine engagierte Schriftstellerin, die wirklich etwas zu sagen hat.
Handlung (der Verlagsseite entnommen):
Berlin im Sommer 2013. Ein Fahrradunfall führt sie zusammen: Clara, eine junge Ärztin, und Amal, eine 21-jährige Studentin, die aus dem Irak geflohen ist und in Deutschland Asyl beantragt hat. Die beiden Frauen freunden sich vorsichtig an, gerade als Claras Freund Tarun, ein Architekt, durch ein Bauprojekt zum ersten Mal seit Jahren mit seiner Geburtsstadt Kolkata konfrontiert wird. Als Amals Großmutter stirbt, beschließt Clara spontan, an Amals Stelle nach Bagdad zu deren Mutter zu fliegen. Bei ihrer Ankunft in Bagdad weiß Clara noch nicht, dass sich ihr und Taruns Leben wie auch das von Amal entscheidend verändert hat.
Nachdem ihr Debütroman »Strom« Israel, Frankreich, Japan, Deutschland und eigentlich die ganze Welt im Strom unserer globalisierten Zeit verbindet und mit Nähe und Ferne spielt, erzählt Hannah Dübgen in ihrem zweiten Roman »Über Land« eine Geschichte von Freundschaft und Fremdsein. Da ist Clara, eine Ärztin aus Berlin, Amal eine Asybewerberin, die aus dem Irak geflohen ist, und Claras Freund Tarun, ein indischer Architekt, der durch seinen Berliner Auftraggeber ein ganz besonderes Bauwerk in Indien nach seinen Plänen bauen lässt. Diese drei Menschen stammen aus gänzlich unterschiedlichen Welten, finden Parallelen, wollen Gleichheit und stoßen sich doch immer wieder die Köpfe an den kulturellen Unterschieden.
Hannah Dübgen hat viel mit Flüchtlingen gesprochen und die Thematik habe sie nicht mehr losgelassen, sagte die Schriftstellerin während der Veranstaltung im Ledigenheim Hamburg. Die Grundidee des Romans war, aus zwei Perspektiven erzählen zu wollen und so entschied sie sich für eine junge deutsche Ärztin als Gegenpart zu Amal, die in einem Flüchtlingsheim auf die Annahme ihres Asylantrags wartet. Sie wollte auf jeden Fall zwei Menschen zeigen, die sich auf Augenhöhe begegnen, so Dübgen.
Dass sich Amal und letztlich auch Tarun in Deutschland zwar sicher, aber doch fremd und auch entwurzelt fühlen und Clara so eine Erfahrung, wenn auch nicht für lange Zeit, im Irak selbst durchlebt, spiegelt Hannah Dübgen durch das im ganzen Roman auf eigenartige Weise stets präsente Ischtar-Tor Babylons, das im Pergamon-Museum in Berlin wieder aufgebaut wurde und dort „wie eingesperrt“ wirkt. Die gewaltige Größe des babylonischen Baus kann das Museum nicht fassen, weshalb es dort nicht in seinem vollen Umfang aufgebaut werden konnte. Die Begrenzungen des Raums sind wie ein Gefängnis für die einst unter freiem Himmel atmenden Steine und die von der Sonne beschienenen bunten Ziegel. Da Amals Mutter Archäologin in Bagdad ist, erfährt der Leser viel über die Ausgrabungen und die Bedeutung dieses beeindruckenden Bauwerks. Für den Roman ist das Tor von zentraler Bedeutung, wodurch sich die Detail-Abbildung auf dem Buchcover erklärt. (Wer das Ischtar-Tor auf der Museumsinsel noch nie besucht hat, dem sei dazu unbedingt geraten, denn es ist ein unvergesslicher Anblick.)
Amal stellt sich auf die Zehenspitzen, sie will das Relief, die aus der Wand geradezu herauslaufenden Löwentatzen anfassen, will das furchige Fell befühlen und mit ihren Fingerkuppen über die glasierten, glatten Ziegel fahren, über das Lapislazuliblau und das zarte Türkis. Die ausgebleichten weißen Stellen auf den Reliefs […] haben die Restauratoren meist in Ruhe gelassen, haben eher die Ornamente, die Margeriten und das orangefarbene Band, über das die Löwen marschieren, mit frischen Farben ausgebessert. Doch selbst diese wenigen Reparaturen, diese vielleicht etwas zu bunt, im Vergleich zu Saddams Ungetüm jedoch dezent »gestopften Löcher« sind zu verschmerzen, sind vielleicht sogar notwendig, tritt so doch die Fragilität der Originale noch deutlicher hervor. Und das ist es, was Amal rührt, dass man den Steinen ansieht, was sie erlebt haben, dass sie gezeichnet sind von den Jahrhunderten, sich gewehrt und bewährt haben und doch Verletzungen tragen. All das unterscheidet sie von der knallblauen Fassade mit den zitronengelben Tieren im heutigen Babil, dieser Replik, die nicht weiß, dass Zeit die vierte Dimension des Bauens ist.
Seite 187
Die sensible Darstellung der beiden Frauen, die gute Recherche über die Verhältnisse in Kolkata und Bagdad sowie die behördlichen Wege des Asylrechts in Deutschland und die feine Beobachtungsgabe Hannah Dübgens machen den Roman lesenswert. Leider sind der Autorin die Dialoge nicht immer geglückt, denn durch ihren erkennbaren Wunsch immens viele Fakten zu vermitteln, wirkt der Roman streckenweise wie ein Sachbuch. Das politische und gesellschaftliche Engagement Dübgens ist auf jeden Fall zu loben, schade nur, dass dafür an vielen Stellen die Fabulierkunst geopfert wird, statt sich mit dem Inhalt zu verbinden. Obwohl diese Autorin wirklich etwas zu sagen hat, stellt sich aufgrund dieser erzählerischen Schwäche leider selten ein wirklicher Lesefluss ein.
Eine weitere Schwäche des Buches sind seine Charaktere selbst. Zwar kann man ihre Handlungsweisen jederzeit nachvollziehen, doch ist dies am Ende unbefriedigend, da sie keinerlei Schattenseiten zu haben scheinen. Seltsamerweise ist die Großmutter Amals, die fast nur in Erinnerungen beschrieben wird, plastischer als die im Vordergrund Agierenden. Clara, Amal und Tarun sind sehr nette Menschen, die man ins Herz schließt, doch authentisch wirken sie nicht. Ihre stets korrekten Umgangsformen, ihre Rücksichtnahme, die Sorge um die Befindlichkeiten aller anderen, geben Schwächen keinen Raum, was sie leider alle drei zweidimensional bleiben lässt. Hannah Dübgen verspielt durch das Fehlen von wirklichen Reibungsflächen ihre Trümpfe, denn die Figuren hätten mehr hergeben können.
Sehr gelungen sind hingegen die starken Bilder des Romans: Amals Flucht in Begleitung einer merkwürdigen „Familie“, ihre Angewohnheit, Menschen in Tierform zu zeichnen, die Szenen mit ihrer Mutter und besonders die Beschreibung des Turms, den Tarun in Indien errichten lassen will und die Motivation und Absicht, die hinter diesem Projekt steckt. Diese symbolisch aufgestellten zwei Türme, majestätisch und unerreicht der eine im alten Babylon, offen und frei für alle der andere in Kolkatas Nachbarstadt Haora, bilden mit ihren Parallelen und Gegensätzen das Fundament des Romans. Taruns Traum von einem „Ort zum Durchatmen“, dem „Saal der Stille“ hoch über der Stadt ist eine wunderbare Vorstellung, denn wie der Architekt so richtig sagt, wünscht sich doch jeder ab und an Ruhe, ob im lauten Haora oder im hektischen Berlin.
Fazit: »Über Land« ist ein Roman über Fremde und Nähe, Ähnlichkeit und Unterschiede, Freundschaft und Liebe, Sicherheit und Willkür, Identität und Konformität. Hannah Dübgen erzählt auf eine leise, unaufdringliche Weise. Die Handlung, die Schauplätze, die wunderbaren Ideen, die einprägsamen Bilder, die gute Beobachtungsgabe der Erzählerin und die emotionale Tiefe der Figuren machen »Über Land« zu einer lohnenden Lektüre und trösten über die Schwachstellen in Dialogen und Charakteren hinweg, die diesen Roman hindern, ein ganz großer Wurf zu sein. Auf jeden Fall macht dieser zweite Roman schon neugierig auf Hannah Dübgens nächstes Werk.
Hannah Dübgens Roman »Über Land« ist im August 2016 für EUR 20,00 im dtv Verlag erschienen – gebunden, 272 Seiten, ISBN 978-3423280945.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman ›Strom‹, ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.
Laila Mahfouz, 9. März 2017
Links:
Unsere Fotostrecke finden Sie hier. Die Rechte aller Fotos zur Lesung liegen bei Laila Mahfouz.
Hier liest Hannah Dübgen zehn Seiten aus ihrem Roman »Über Land«:
Ein Interview mit Hannah Dübgen finden Sie hier.
Informationen zur Autorin auf den Seiten des dtv Verlages finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Hannah Dübgen finden Sie hier.
Einen Spiegel-Bericht zum Ischtar-Tor finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.