Mit »Meine geniale Freundin« ist Elena Ferrante wahrhaft Großes gelungen. Ihre Bücher haben ein regelrechtes FerranteFever auf der ganzen Welt entfacht. Der vorliegende erste Band ist ebenso Gesellschaftsportrait Neapels der 50er und 60er Jahre wie auch die Geschichte einer tiefen Freundschaft. Es ist ein Bildungsroman im besten Sinne sowie eine Reflexion über Freundschaft, Emanzipation, Armut und Bildung.
Handlung: Eingebettet in Schilderungen eines armen, primitiven und oft auch brutalen Neapels der 1950er und 60er Jahre, entwirft Elena Ferrante die Geschichte einer Freundschaft, wie sie spannender nicht erzählt werden kann. Die leicht verwahrloste, aufmüpfige Lila und die zurückhaltende, ehrgeizige Elena entdecken ihre Gemeinsamkeiten und entwickeln eine einzigartige Freundschaft. Sie werden unzertrennlich, auch wenn sie seit ihrer Kindheit um den höchsten Bildungsstand wetteifern, der leider allzu oft mit Klugheit verwechselt wird. Auch wenn sich die beiden aufgrund ihrer verschiedenen Lebenswege immer weniger sehen können, wird ihre Freundschaft sechs Jahrzehnte lang bestehen.
Obwohl Elena rasch merkt, dass Lila klüger ist als sie selbst, versucht sie immer, ihre Freundin durch mehr Bildung zu überholen. Im Gegensatz zu Lila wird Elena der Besuch der höheren Schule erlaubt. Doch während Elena hart für ihre außergewöhnlich guten Noten arbeiten muss, bringt Lila sich in ihrer spärlichen Freizeit alles selbst bei, so dass sie Elena sogar noch beim Lernen helfen kann. Natürlich bringen die Unterschiede oft Spannungen mit sich, doch Lila missgönnt Elena ihren Erfolg nicht und unterstützt sie darin stets.
Der Roman beginnt damit, dass Elena, inzwischen eine erfolgreiche Schriftstellerin, vom Verschwinden ihrer Freundin Lila unterrichtet wird. Nach sechs Jahrzehnten Freundschaft hat sich Lila scheinbar in Luft aufgelöst. Sie hat kein Foto, keine Notiz, keine Urkunde oder Rechnung, kein Kleidungsstück oder Kosmetikutensil zurückgelassen – sie ist verschwunden, als habe sie nie existiert! Elena weiß, dass die gänzliche Auflösung schon immer der Traum der Freundin war, doch sie lässt sie nicht entkommen und erzählt in dieser Saga die Geschichte von Lila und ihrer wunderbaren Freundschaft.
Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält, sagte ich mir.
Ich schaltete den Computer ein und begann, unsere Geschichte aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist.
Prolog / Seite 22
Zur Sprache des Romans möchte ich die Übersetzerin Karin Krieger zitieren:
»Für mich als Übersetzerin ist es schwer, mich genauso zu kontrollieren, keine feurigeren Wörter zu verwenden, als die Autorin dies tut, und mich nicht von der Heftigkeit des erzählten Inhalts zu einer heftigen Form hinreißen zu lassen. Elena Ferrantes große Stärke ist ihre sehr klare, beherrschte Sprache, die nahezu schmucklos, aber nicht unscheinbar ist, ganz im Gegenteil. Sie ist von einer energiegeladenen Leichtigkeit, die viel leichter zu lesen als zu übersetzen ist.«
Das Gute an Ferrantes Sprache ist, dass sie direkt ins Herz trifft. Die Worte werden umgehend in Bilder verwandelt und die Leser können so ungehindert durch die Romanwelt streifen.
Es lag etwas Unerträgliches in den Dingen, in den Menschen, in den Wohnhäusern und in den Straßen, etwas, das nur annehmbar wurde, wenn man wie in einem Spiel alles neu erfand. Entscheidend war aber, dass man auch fähig war zu spielen, und sie und ich – nur sie und ich – waren dazu fähig.
Frühe Jugend / Kapitel 6 / Seite 128
Ende des ersten Bandes: Nachdem eines der Mädchen versucht hat, sich durch Heirat der bedrohlichen Gesellschaft zu entziehen, wird die andere zur Musterstudentin, muss aber feststellen, dass ihre akademische Bildung in der neapolitanischen Welt kaum etwas gilt. Dennoch versucht jede auf ihre Weise, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Wie genau es mit den beiden weitergeht, ist nun im zweiten Band der Neapolitanischen Saga »Die Geschichte eines neuen Namens« zu lesen, der seit dem 10. Januar 2017 erhältlich ist. Auch die nächsten Bände werden in rascher Folge in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden. Der italienische Illustrator Emiliano Ponzi entwarf die Cover der im Suhrkamp Verlag veröffentlichten Saga. Die Cover der nächsten Bände stehen bereits fest:
Mit dem Aufschreiben von Lilas bewusst gelöschtem Leben tut Elena genau das, was die Autorin selbst zu vermeiden versucht, denn sie hat sich entschieden, ihre Identität geheim zu halten. Den Wunsch nach Anonymität der Autorin verstehen und respektieren wir und beteiligen uns daher nicht an den Spekulationen um ihre Person. Wichtig ist das Werk und nicht der Autor, denn er ist Erschaffer der Kunst, nicht sein Aushängeschild. Dieses Buch und vermutlich die gesamte Neapolitanische Saga ist wahrlich bemerkenswert und bedarf keiner billigen Effekthascherei oder eines wie auch immer gearteten Personenkults. Elena Ferrante sagt daher in Interviews auch:
»Ein Autor ist die Summe seiner literarischen Entscheidungen, aus denen sich seine fiktive Welt zusammensetzt. Der Rest ist banales Privatleben.«
»Meine geniale Freundin« ist ein Buch über Frauen aber bitte nicht nur für Frauen. Es ist ein Buch für alle, die eine spannende Geschichte des vorherigen Jahrhunderts lesen möchten und sich nicht scheuen, der Wahrheit zum Thema Emanzipation ins Auge zu sehen. Dass Elena Ferrante das patriarchalische System angreift, das in seinem archaischen Geschlechterverständnis Frauen immer noch abwertet, macht sie im zehnseitigen SPIEGEL-Interview deutlich. In vielen Teilen der Welt entsprechen die im Roman geschilderten Zustände auch heute noch der Realität. (Ohne solch mutige, starke Frauen wie Lila und Elena wären auch wir heute noch keinen Schritt weiter!)
Wenn Frauen in Rollen gezwängt (ja, das kommt von Zwang!) werden, dann heißt es: wieder und wieder kämpfen, solidarisch für andere Frauen eintreten und ihnen bei ihrem schwierigen Weg zur Seite stehen!
Ich muss an dieser Stelle allerdings anmerken, dass ich im Gegensatz zu Elena Ferrante durchaus Männer zu meinen Freunden und Bekannten zählen darf, die ohne Herablassung die Leistungen von Frauen ebenbürtig anerkennen. Ich glaube, dass die neue Generation der westlichen Welt auf diesem Gebiet einen großen Schritt in die richtige Richtung geht! An alle Männer: Lasst uns gegenseitig voneinander lernen und unsere Unterschiede wie unsere Gemeinsamkeiten und unsere jeweiligen Talente ohne Neid und ohne Rückschluss auf das Geschlecht feiern. Alles auf der Welt hat Vor- und Nachteile – es kommt nur darauf an, die Talente eines jeden zu erkennen und jedem dann die Möglichkeit der freien Entfaltung zu geben. Wer an der für ihn/sie richtigen Stelle eingesetzt wird, kann und wird die besten Leistungen erzielen – egal auf welchem Gebiet!
DerHörverlag brachte am 1. September die Hörbuchausgabe von »Meine geniale Freundin« in zum Glück ungekürzter Fassung heraus. Gelesen wird das Buch von der fabelhaften Eva Mattes, die auch bei den Lesungen Teile aus dem Buch vorlas. Mit der vertrauten Stimme der bekannten Schauspielerin in die Handlung einzutauchen, bringt dem Hörer die Mädchenfreundschaft von Lila und Elena noch näher.
Sie finden das Hörbuch hier. Eine Hörprobe finden Sie ebenfalls dort oder mit Klick aufs Bild.
Das Hörbuch hat eine 1 MP3- CD mit einer Laufzeit von 11 Stunden und 43 Minuten – ISBN: 978-3844523522 – EUR 22,99.
Ein weiterer Ausschnitt aus dem Hörbuch, ist hier zu finden.
Fazit: Elena Ferrantes vollkommener Tanz durch ihr ganz persönliches italienisches Zeitpanaroma macht »Meine geniale Freundin« zu einem Roman der Superlative. Spannend, feinfühlig jedoch nie kitschig, dramatisch, unerschütterlich ehrlich und in höchstem Maße geeignet, um sich mit den Hauptfiguren zu identifizieren – »Meine geniale Freundin« macht von Anfang an süchtig, entwickelt solch einen Sog, dass Lesepausen praktisch unmöglich scheinen. Eine Personenübersicht zu Beginn des Buches erleichtert das Lesen jedoch dem, der das Buch nicht am Stück verschlingen kann. Hier finden sich literarische Figuren, die unvergesslich bleiben. Eine klare Empfehlung für alle Leser.
Elena Ferrantes Roman »Meine geniale Freundin« (Originaltitel: »L’amica geniale«) ist in der Übersetzung von Karin Krieger im August 2016 für EUR 22,00 im Suhrkamp Verlag erschienen – gebunden, 422 Seiten, ISBN 978-3518425534.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga – bestehend aus Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes – ist ein weltweiter Bestseller. Ab Herbst 2017 erscheinen im Suhrkamp Verlag auch Ferrantes frühere Romane Lästige Liebe, Tages des Verlassenwerdens und Frau im Dunkeln.
Laila Mahfouz, 11. Januar 2017
Links:
Hier ein Buchtrailer zu Elena Ferrantes »Meine geniale Freundin«:
Die Website zur Neapolitanischen Saga finden Sie hier.
Die Facebook-Seite zum FerranteFever finden Sie hier.
Mehr Informationen über Elena Ferrante finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.