Alessandro Bariccos »Mr. Gwyn« ist ein atmosphärisch dichter Roman mit originellen Ideen. Der Erzählfluss zieht hinein, lässt eintauchen in die Geschichte des Mannes, der nicht mehr sein will, wer er ist, der in jedem Menschen eine verborgene Geschichte wittert und seine eigene zu verbergen versucht. Der magische Zauber von »Mr. Gwyn« lässt staunen.
Handlung (der Verlagsseite entnommen): Jasper Gwyn, ein berühmter englischer Schriftsteller Anfang vierzig, fasst eines Tages einen weitreichenden Entschluss. In einem Zeitungsartikel listet er 52 Dinge auf, die er fortan nicht mehr zu tun gedenkt, darunter auch: Bücher schreiben. Stattdessen beschließt er, in seinem neuen Leben als „Kopist“ zu arbeiten und Porträts anzufertigen – dies allerdings nicht mit Pinsel und Palette, sondern in geschriebener Form. Er mietet ein Atelier an, wo ihm fortan Menschen Modell sitzen, die sich später in seinen Porträts gänzlich wiederfinden werden. Bis eine junge Frau auftaucht, die sich den strengen Regeln des Kopisten entzieht.
Mr. Gwyn ist nicht etwa noch eine schriftstellernde Romanfigur mit einer Schreibblockade. Alessandro Baricco lässt Mr. Gwyn erklären, dass er trotz seines Erfolgs und seines Ideenreichtums kein Schriftsteller mehr sein MÖCHTE. Die Besonderheiten des Literaturbetriebs, die Tatsache, dass ein Autor heutzutage nicht in der Anonymität bleiben, sondern sich möglichst oft der Öffentlichkeit zeigen muss, trägt dazu sein, Mr. Gwyn zu einem Neuanfang zu bewegen. Er ist dreiundvierzig Jahren alt und erfolgreich, dennoch riskiert er das Wagnis des Ungewissen. Er gibt sein sicheres Dasein als Schriftsteller auf und weiß nicht, was er nun eigentlich tun möchte. Da ihm Struktur maßlos fehlt, versucht er, sie auf anderem Wege in seinem Tagesablauf zu erhalten, doch muss irgendwann feststellen, dass er das Schreiben unendlich vermisst. Ohne seinen im Guardian veröffentlichten Vorsatz aufzugeben, gelingt es Mr. Gwyn eine schreibende Tätigkeit zu finden. Er wird Kopist und fertig schriftliche Portraits von Menschen an.
»[…] doch prompt begann wieder die bekannte Auflösung, und ihn überfiel ein unheilbares Gefühl der Leere, vor dem es kein Entrinnen gab. Andererseits unterschied sich diese obsessive Kur – diese Weise, sich die Schuhe zuzubinden – in ihrer Annäherung an die Welt nicht sehr davon, die Dinge zu schreiben, statt sie zu leben, also über Adjektive und Verben zu grübeln. Und so musste Jasper Gwyn sich eingestehen, dass der Verzicht auf Bücher eine Leere erzeugt hatte, der er nicht anders zu begegnen wusste, als mit dem Inszenieren unvollkommener, provisorischer Ersatzliturgien, wie im Geist Sätze zusammenzustellen oder sich mit der Langsamkeit eines Idioten die Schuhe zuzubinden. Er hatte Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass der Beruf des Schriftstellers für ihn unmöglich geworden war, und jetzt sah er sich gezwungen festzustellen, dass es ohne diesen Beruf sehr schwierig für ihn werden würde, weiterzumachen.«
(Kapitel 11, Seite 35)
Für sein Vorhaben ist intensive Planung von Nöten, denn Mr. Gwyn überlässt nichts dem Zufall. Wie akribisch er sein Atelier für die Erstellung der Portraits vorbereitet, zeigt deutlich, wie sehr das präzise Schreiben ihm fehlt. Er beauftragt einen Komponisten, ihm ein langes und fast unbeschreibliches Tonstück zu erstellen, das seine Arbeit als Hintergrundrauschen begleitet. Ebenso bittet er einen Mann, der Glühbirnen von Hand herstellt, ihm für jeden Auftrag ganz besondere Lampen zu anzufertigen. Diesem Mann, der Alessandro Baricco besonders am Herzen liegt, wie er sagt, ist sein Buch »Dreimal im Morgengrauen« gewidmet. Die Atmosphäre im Atelier soll intim, es selbst soll dennoch nur karg eingerichtet sein. Kabel und Rohre können gern frei aus den Wänden ragen und Feuchtigkeitsflecken an Wänden und Boden sind wie das Sahnehäubchen von Gwyns Komposition. Da er nicht recht weiß, wie die Portraits zu erstellen sind und ob er wirklich kann, was er sich vorgenommen hat, benötigt er ein Test-Modell und bittet Rebecca, die Sekretärin seines Agenten und Freundes Tom, um diesen Gefallen. Ein paar Stunden am Tag will er 36 Tage lang sein nacktes Modell intensiv betrachten, sich in diesen Menschen versenken, ihn ganz ergründen, um im Anschluss ein literarisches Portrait erstellen zu können, welches die Persönlichkeit des Menschen auf wundersame Weise zum Ausdruck bringt. Da Baricco sich sehr gründlich in diese Situation hineindenkt und ausführlich Licht, Töne, Gerüche, Bewegungen, Blicke und vieles mehr beschreibt, lässt sich »Mr. Gwyn« so mit allen Sinnen erfahren, wie einst Bariccos Erfolgsroman »Seide«.
»Er sah sie nicht mehr als dick oder schön, und was auch immer er von ihr gedacht oder an ihr entdeckt hatte, bevor er in dieses Atelier ging, es hatte sich vollständig aufgelöst oder nie existiert. Auch schien ihm dort drinnen keine Zeit zu vergehen, es war eher so, als würde sich ein gleichbleibender Moment ausdehnen. […] Der Dame mit der Regenhaube, die wissen wollte, wie es lief, erklärte Jasper Gwyn sogar, dass all das etwas Hypnotisches hatte, ähnlich der Wirkung von Drogen.«
(Kapitel 30, Seite 105)
Die männliche Hauptperson Mr. Gwyn lernt der Leser im Laufe des Romans mit seinen Eigenheiten, Vorlieben und Ängsten kennen und dennoch bleibt er immer rätselhaft. Auch für Rebecca, die zu seiner Vertrauten und Assistentin wird und die er so sehr liebt, dass er es ihr nicht sagen kann, bleibt seine Person ein Mysterium. Zwei Nebenfiguren sind Baricco ebenfalls besonders liebenswert geraten: Die alte Dame mit der Regenhaube, die Gwyn auch noch nach ihrem Tod Gesellschaft leistet und Ratschläge erteilt und sein bester Freund Tom, der auch sein Agent und entsprechend verzweifelt über seinen Entschluss ist, mit dem Romanschreiben aufzuhören.
Bei der Präsentation seines Buches in Italien sagte Alessandro Baricco:
»Bei einem Museumsbesuch kam mir die Idee für das Buch. Gelangweilt und müde saß ich auf einer kleinen Bank, von der aus ich die Besucher und Bilder betrachtete. Die besten Ideen entspringen dem Zwischenzustand der Müdigkeit und in solch einem Zustand wurde auch die Ideenzelle geboren, die zum Roman »Mr. Gwyn« wurde.«
Alessandro Baricco schreibt mit einer Erzählstimme, die in der Mitte des Buches die Perspektive wechselt. Anstatt aus Sicht von Mr. Gwyn wird fortan aus Rebeccas Perspektive erzählt. Auf diese Weise weicht Mr. Gwyn immer weiter zurück, bis er so nebulös wirkt, dass wir ihn kaum mehr erkennen können. Rebecca aber ist wild entschlossen, das Rätsel um seine Person zu lösen und so begibt sich der Leser am Ende des Buches mit der jungen Frau auf eine Art Schnitzeljagd. Während sie nach und nach der Lösung des Rätsels immer näher kommt, bleibt Mr. Gwyn selbst weiterhin in unerreichbarer Ferne.
Nach 224 Seiten endet der Roman »Mr. Gwyn« auf wunderbar Bariccosche Weise. Was dann auf weiteren 77 Seiten folgt, ist ein weiteres Meisterstück. In »Mr. Gwyn« ist unter anderem von dem Buch »Dreimal im Morgengrauen« die Rede, das ein Steinchen im rätselhaften Puzzle von Mr. Gwyns Persönlichkeit offenbart. Alessandro Baricco erklärt im Nachwort von »Mr. Gwyn«, dass er nach Beendigung seines Romans den Drang verspürte, dieses Buch tatsächlich zu schreiben. »Tre volte all’alba«, so der italienische Titel, erschien in Italien in einer separaten Ausgabe nach dem Erscheinen von »Mr. Gwyn«. Der Hoffmann und Campe Verlag hat beide Bücher netterweise in einem Band zusammengefasst, so dass der deutschsprachige Leser im Gegensatz zu der Romanfigur Rebecca die Buchhandlungen und Antiquariate nicht nach dieser Ausgabe absuchen muss. »Dreimal im Morgengrauen« erzählt in drei nicht chronologisch aufeinander folgenden Geschichten das Leben eines Mannes, dessen Schicksal stets von der Begegnung mit einer Frau in einem Hotel ausgelöst wird. Auf welche wundersame Weise sich die Schicksalsfäden berühren, wie hauchzart der Moment sein kann, der alles entscheidet, so eine Geschichte kann nur aus der Feder Bariccos stammen. »Dreimal im Morgengrauen« ist die perfekte Ergänzung des Romans »Mr. Gwyn«, obwohl beide auch sehr gut unabhängig voneinander gelesen werden können.
Alessandro Baricco
© picture alliance-ROPI
Fazit: Mit seinem Roman »Mr. Gwyn« schuf Alessandro Baricco abermals ein poetisches, philosophisches und literarisches Kunstwerk mit viel Tiefe, Sinnlichkeit und einer Hauptfigur, die ungreifbar und geheimnisvoll bleibt. Diese nur im Inneren ereignisreiche Fahrt zwischen Wirklichkeit und Fiktion berührt, bringt zum Nachdenken und lässt Träumen – ein Buch für die geduldigen Genießer unter den Lesern, denen der Weg des Lesens wichtiger ist als das Ziel des raschen und ergebnisorientierten Beendens eines Buches. Bariccos Werke erschließen sich intuitiv und intellektuell – wer sich darauf einlässt, wird beschenkt.
Wie kaum ein anderer schafft es Alessandro Baricco ein um das andere Mal, mich mit seinen Geschichten »nach Hause zurück zu bringen«. Dafür an dieser Stelle meinen herzlichen Dank!
Bei aller Faszination für die Figur des rätselhaften Mr. Gwyn bleibt die bange Hoffnung, Alessandro Baricco möge uns, seinen Lesern, nie den Kummer bereiten, seiner Berufung, des Schreibens, nie müde werden und falls er je verschwinden sollte, dann sicher auf die Weise der Pension Almayer aus seinem Meisterwerk »Oceano Mare«, die sich »von der Erde löste und sich ganz leicht in tausend Stücke auflöste, die aussahen wie Segel und hoch in die Luft stiegen, sie stiegen auf und nieder, sie flogen und nahmen alles mit sich in die Lüfte, auch jenes Land und jenes Meer und die Worte und die Geschichten, alles, wer weiß wohin, keiner weiß es, vielleicht wird eines Tages jemand müde genug sein, es ausfindig zu machen.«
Beruhigenderweise ist am 17.09.2016 mit dem Drama »Smith & Wesson« bereits das nächste Buch des Vielschreibers Baricco ebenfalls im Hoffman und Campe Verlag erschienen. Auf die Lektüre freue ich mich wie immer sehr; eine Rezension dazu folgt.
Alessandro Bariccos Roman »Mr. Gwyn« und »Dreimal im Morgengrauen« ist im Februar 2016 im Hoffmann und Campe Verlag in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki (Originaltitel: »Mr. Gwyn« und »Tre volte all’alba«) für EUR 22,00 erschienen – gebunden, 320 Seiten, ISBN 978-3455405613.
Über den Autor: Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von La Repubblica. 1994 gründete Baricco zusammen mit Freunden eine Privatuniversität, an der er Kreatives Schreiben unterrichtet. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst. Sein Roman »Seide« wurde zum internationalen Bestseller. Er wurde mit dem Premio Campiello, dem Premio Viareggio und dem Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Die Romane »Novecento« (»Die Legende vom Ozeanpianisten«, 1999) und »Seide« (2007) wurden fürs Kino verfilmt.
Laila Mahfouz, 10. November 2016
Links:
Weitere Informationen zu Alessandro Baricco finden Sie auf der Seite des Hoffmann und Campe Verlages.
Weitere Informationen zu Alessandro Baricco finden Sie hier.
Die Facebook-Seite zum Roman finden Sie hier.
Hier liest Alessandro Baricco einen den Anfang seines Romans »Mr. Gwyn« auf Italienisch:
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.