Premierenlesung am 6. September 2016 im Literaturhaus Hamburg: Katharina Hagena las aus ihrem gerade erschienen dritten Roman »Das Geräusch des Lichts«. Ein Roman, der zumindest auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gehört hätte.
Handlung (der Verlagsseite entnommen): Fünf Menschen im Wartezimmer. Wer könnten sie sein? Eine der Wartenden beobachtet die anderen und erfindet ihre Lebensgeschichten. Da ist die Botanikerin Daphne Holt, so widerstandsfähig und zart wie das Moos, das sie erforscht. Auf den Spuren einer verschollenen Freundin stößt sie in der kanadischen Wildnis auf ein Geheimnis. Da ist der Musiker in seinem dottergelben Hausboot, der den letzten Willen seiner Frau erfüllt und auf dem zugefrorenen See das Nordlicht erwartet. Der zwölfjährige Richard sucht in jeder Öffnung, jedem Schacht, hinter jedem Gitter einen möglichen Weg zum Planeten Tschu. Auf dem befinden sich nämlich seine Mutter und seine Schwester, weil sie nach ihrem Verschwinden ja irgendwo sein müssen. Und da ist die verwirrte Dame, in deren Kopf sich die weiße Leere schon ganz ausgebreitet hat. Schließlich erfindet die Erzählerin ihre eigene Geschichte, einen Thriller über die Verbrechen einer skrupellosen Ölfirma, bei dem sie selbst in Lebensgefahr gerät.
»Das ist noch nicht die wahre Geschichte. Es ist erst die äußere Schicht. Wie bei einem Planeten: Der Kern ist noch so heiß, dass alles zischend verdampft, was ihn berühren will. Und doch muss ich immerfort weitererzählen, Geschichte um Geschichte. Wer aufhört zu erzählen, ist tot.«
II. / Seite 79
Nach ihrem Debüt-Roman, dem Bestseller »Der Geschmack von Apfelkernen«, und ihrem wunderbaren zweiten Roman »Vom Schlafen und Verschwinden« gelingt Katharina Hagena nun zum dritten Mal das Wunder, den Leser vollkommen in ihre Welt zu ziehen, ihn mit Worten zu verzaubern und mit Geschichten gefangen zu nehmen. War es in »Vom Schlafen und Verschwinden« noch eine eine schlaflose Nacht, in der das Buch erzählt wurde, so hat die Autorin sich die Grenzen nun noch enger gesteckt. In nur einer Stunde des Wartens denkt sich die Ich-Erzählerin Geschichten über ihre Leidensgenossen im Wartezimmer aus, um über das Ergebnis ihres Laborberichtes nicht nachdenken zu müssen. Dass daraus ein in sich schlüssiger Roman wurde, ist der großen Kunstfertigkeit der Autorin zu verdanken. Ihre Figuren tanzen in »Das Geräusch des Lichts« einen bizarren Reigen der Wiederkehr.
In einem Interview sagt Katharina Hagena:
»Ich wollte nachspüren […] wie sich der Wiederhall eines traurigen Ereignisses in den umstehenden Menschen – egal wie weit sie von der Geschichte weg stehen – auswirkt. Es geht mir um das Echo, um die Ringe, die eine Erschütterung hervorruft.«
Jede Person erhält eine ganz eigene Geschichte, in der die anderen in jeweils verschiedenen Rollen immer wieder auftauchen. Zwar haben all die in unterschiedlichen Zeitformen, fast ausschließlich in der ersten Person erzählten Geschichten ihren, dem jeweiligen Erzähler angepassten Ton, doch das Besondere ist, dass sie dennoch dem Kopf nur einer Person entsprungen sind und diese wiederum dem Kopf von Katherina Hagena. Die Macht der Fantasie und die Liebe zum Erfinden von Geschichten zeichnen diesen Roman daher besonders aus.
Im Gespräch mit Moderator Christoph Bungartz sagte Katharina Hagena:
»Ich glaube, dass erinnern und sich Sachen ausdenken gewissermaßen das Gleiche ist. […] Es fühlt sich gleich an.«
Die Themen Verlust, Tod, Warten, Erinnern und Vergessen sind seit ihrem Debüt wiederkehrende Elemente der »Trilogie des Vergessens«, wie sie selbst ihre Romane nennt. In diesem Buch sind allerdings auch die dubiosen Machenschaften der Ölsandindustrie, das Leben von und in Moosen und Flechten, Kanada, Winter und das Nordlicht mehr oder weniger fester Bestandteil jeder einzelnen Geschichte. In »Das Geräusch des Lichts« sind erstmals auch Fotos Bestandteil des Buches. Außerdem enthält es eine dreiseitige, intelligente wie auch humorvolle »Grammatik des Wartens«. Wenn eine der Figuren beschreibt, wie sie in Begriffen und Namen etwas anderes sieht, zeugt dies von großer Fantasie und Kreativität. Zum Beispiel Ortsnamen wie Ottawa (Soufflé aus Maisgrieß) oder Vancouver (Mandelkuchen mit Buttercremeüberzug). Die Liebe zur Sprache und auch zur Natur sind in jedem Roman der Autorin deutlich spürbar.
»Obwohl wer wartet, zur Passivität verdammt ist, ist warten ein aktives Verb. Grammatik ist so beruhigend. Selbst die Ausnahmen können ihr nichts anhaben, machen sie bloß stärker.«
V. / Seite 215
© C. Hradsky
Ausgangspunkt aller Geschichten ist das Wartezimmer und eine Wortassoziation, die eine Kettenreaktion im Kopf der wartenden Ich-Erzählerin auslöst. In diesem »Zwischenreich« Wartezimmer geschieht nicht viel Sichtbares. Unter der Oberfläche aber sind die Wartenden in haarsträubende Abenteuer verwickelt. Die Aufteilung des Romans ergibt sich durch die Warteposition der Ich-Erzählerin. Unterbrochen werden die einzelnen und nur scheinbar von einander losgelösten Geschichten durch immer wieder kurze Abschnitte, die zurück ins Wartezimmer führen.
»Wenig später drängten die »Woofer« wie ein Rudel junger Hunde in den Essraum, quetschten sich an einen langen Tisch, lachten und redeten gedämpft. Wenn sie zu laut wurden, warf Dave ihnen einen strengen Blick zu oder rief sie mit einem kurzen Befehl zur Ordnung. Nach dem Essen wuschen einige von ihnen ab, die anderen lagerten trüppchenweise auf den Teppichen, meistens in der Nähe einer Steckdose, und tippten und wischten mit konzentrierter Hingabe auf ihren Smartphones, iPads und Laptops herum, als nagten sie an alten Knochen.«
I. / Fünfter sein / Seite 42
Ob Katharina Hagena von einer Bryologin erzählt, die sich in ihre Mooslandschaft zurückzieht und euphorische Freude beim Begreifen von Nanolebewesen fühlt, ob sie einen Witwer bei dem Versuch beschreibt, das Geräusch des Nordlichts einzufangen, um ein Projekt seiner verstorbenen Frau zu beenden, ob sie einen Jungen auf eine sehr spezielle Weise um seine Mutter und seine Schwester trauern lässt und ihn mit seinem Vater auf eine lange Reise schickt, ob sie eine Frau in die Tiefen des Erinnerns und das weiße Nichts des Vergessens fallen lässt oder ob sie die Ich-Erzählerin selbst auf die Reise nach Kanada schickt, um aufzuklären, warum eine Frau und ihre Tochter umkamen und ob dies etwas mit den Umweltsünden der Ölsandindustrie zu tun hat, immer ist der Leser wie im Bann ihrer Worte. Wenn Katharina Hagena Personen, Orte, Begegnungen, Natur beschreibt, verzaubert sie den Leser und überrascht ein um das andere Mal mit ihrem Einfallsreichtum.
»Flechten von unterschiedlicher Farbe standen wie Hecken und Sträucher in der Landschaft. Kleine Regenwasser-Reservoirs in den Mulden wurden zu spiegelnden Seen. Nachts überquerten Schnecken den Stein, und ihr getrockneter Schleim glitzerte als verschlungener Pfad, der nirgendwo hinführte.«
I. / Fünfter sein / Seite 20
Nicht nur hat Katharina Hagena all die Orte, an die sie ihre Leser führt – wie zum Beispiel die kanadische Eiswüste – selbst bereist und beschreibt sie daher so, dass der Leser sie vor sich sehen kann, in »Das Geräusch des Lichts« bringt sie außerdem die notwendige Gesellschaftskritik unter. Wenn sie den Gedanken in den Raum stellt, „dass »nicht westlich« zu sein eher ein temporärer, instabiler Zustand“ ist, der von der jeweiligen Perspektive der Kriegstreiber und Mächtigen abhängig ist, dann kann ich ihr nur herzlich zustimmen. Auch die folgende Aussage möchte ich durch das Zitieren unterstreichen:
»Hat je ein Banker die Welt nur ein kleines Stück nach vorne gebracht? Ich weiß nur von Banken, die ganze Länder auf dem Gewissen haben. Und die Ölsandindustrie hat noch ganz andere Dinge auf dem Gewissen. Was ist so erschreckend an der Vorstellung, dass der Kapitalismus und der damit einhergehende, langweilig lineare Fortschritt nicht die allein seligmachende Antwort sein könnten?«
II. / Vierter sein / Seite 110
In ihrem neuen Roman erweist sich der magische Realismus abermals als eine der großen Stärken der Autorin. Eine Person findet sich unter dem Mikroskop einer anderen wieder, eine Frau wächst in Erwartung einer Entschuldigung ihres Mannes mit der Zeit vor dem Haus fest und schlägt Wurzeln, eine andere entdeckt eine Welt unter einem zugefrorenen See, ein Indianerhäuptling kriecht aus einem Abfluss und ein Planet landet in einem Kaugummiautomaten. Es ist immer ein Geschenk, einen Roman von Katharina Hagena lesen und mit ihr auf Gedankenreise gehen zu dürfen.
»Das Nordlicht. […] Es ist die Vorstellung eines unendlich weiten, weißen, leeren Gebiets, die ihn beruhigt. Nein, mehr noch, die ihn geradezu narkotisiert. Aber nicht betäubt. Es ist das Gegenteil von taub. Alle Geräusche sind hier verstärkt. Kanada. Allein schon der Name dieses großen, leeren Landes klingt wie ein Echo, das von der glatten, schallharten Oberfläche des gefrorenen Sees zurückgeworfren wird: Keiner da!«
II. / Vierter sein / Seite 89
Fazit: Wer sprachliche Finesse zu schätzen weiß, verrückte Ideen und magischen Realismus mag, der ist bei Katharina Hagena richtig. Auch ihr dritter Roman »Das Geräusch des Lichts« klingt lange nach in den silberhellen Tönen eines magischen Winters und lässt das eigene Leben in vielen unterschiedlichen Welten erahnen. Tauchen Sie ein in Katharina Hagenas kanadische Winterwelt und lassen Sie sich von ihren Gedankenspielen und ihrer Fabulierkunst verzaubern!
Katharina Hagena erklärte im Gespräch:
»Ich glaube nicht, dass Bücher dazu da sind, um Rätsel zu lösen oder Antworten zu geben, sondern um Fragen zu stellen.«
Die Fragen, die nach einem Roman dieser Autorin im Kopf entstehen, sind die wahren Wunder und lassen lange nicht los.
Katharina Hagenas Roman »Das Geräusch des Lichts« ist im September 2016 im Kiepenheuer & Witsch Verlag für EUR 20,00 erschienen – gebunden, 272 Seiten, ISBN 978-3462049329.
Hier liest Katharina Hagena zehn Seiten aus ihrem Roman »Das Geräusch des Lichts«:
© Henrik Spohler
Über die Autorin: Katharina Hagena, geboren 1967 in Karlsruhe, studierte Anglistik und Germanistik in Marburg, London und Freiburg und lebt als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in Hamburg. Die Literaturwissenschaftlerin promovierte über »Ulysses« von James Joyce. 2006 erschien ihre Studie »Was die wilden Wellen sagen. Der Seeweg durch den Ulysses« und 2008 ihr Roman-Bestseller »Der Geschmack von Apfelkernen«, der in 25 Sprachen übersetzt und 2013 verfilmt wurde. Ihr zweiter Roman »Vom Schlafen und Verschwinden« ist im Herbst 2012 erschienen. »Das Geräusch des Lichts« ist ihr dritter Roman.
Laila Mahfouz, 16. Oktober 2016
Links:
Die Website der Autorin finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Katharina Hagena finden Sie hier.
Informationen zu Autor und Buch auf den Seiten des Kiepenheuer & Witsch Verlages finden Sie hier.
Übrigens gibt es „Woofer“ auch in Deutschland. Informationen dazu finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.