Benefiz-Lesung am 11. Oktober 2015 im Ledigenheim Rehhoffstrasse: Katharina Hagena las aus ihrem Roman »Vom Schlafen und Verschwinden«, der in eine nebulöse Erinnerungswelt führt. Schöne Sprache und verstörende Bilder – eine Geschichte über Schlaflosigkeit, die ansteckend wirkt.
Handlung (der Verlagsseite entnommen): In einer einzigen schlaflosen Nacht erzählt die Schlafforscherin Ellen Feld die Geschichte von dem, was sie verlor, und denen, die sie liebt. Und über das, was nicht geweckt werden darf. Während unter ihr die Hamburger U-Bahnen vibrieren, denkt sie an ihr Heimatdorf Grund zwischen Kieswerk und Spargelfeldern, an Andreas, den sie nur ein Mal geküsst hat, an ihre große Tochter Orla, die Gedichte raucht und Windharfen baut, an ihren Liebhaber Benno, der einem Deserteur auf der Spur ist und selbst abtrünnig wird. Und sie denkt an den kleinen Renaissance-Chor, den ihr Vater ins Leben rief, um seine schlafende Frau aus der Unterwelt zu singen.
Marthe Grieß singt auch in diesem Chor, der immer nur das eine Lied probt: »Komm, schwerer Schlaf«. Sie streift durch die Rheinauen, beobachtet die Graureiher und ihre Mitsänger. Keiner weiß, wer sie ist, aber es gibt ein Geheimnis, das sie alle miteinander verbindet.
»Erst nachdem ich schon geraume Zeit wach gelegen habe, merke ich, dass ich nicht mehr schlafe. Ein Vogel. Ganz in der Nähe. Eine Amsel. Und noch eine, weiter weg. Mehr nicht. Keine Autos. Also ist es noch früh. So gut wie Nacht. […] Ich werde wieder schlafen. Irgendwann schläft jeder wieder ein.«
Seite 13/29
Wie schon Katharina Hagenas erster Roman »Der Geschmack von Apfelkernen« lebt auch »Vom Schlafen und Verschwinden« von den starken und plastisch gezeichneten Figuren. Die beiden Romane sind allerdings absolut nicht vergleichbar und sowieso verdient es jedes Buch, für sich allein betrachtet zu werden. »Vom Schlafen und Verschwinden« ist ein großartiger Roman über die Macht der Erinnerung und unseren Umgang mit ihr. Die Bilder, die die Autorin zeichnet, die Beziehungsverflechtungen der Figuren und ebenso die schöne und dichte Sprache wirken noch lange nach.
Da sind der Chor, der »Komm, schwerer Schlaf« singt, um die Frau des Chorleiters aus dem Koma zu erlösen, die Kunstprojekte von Ellens Tochter Orla, die vor Sehnsucht nach Irland Hamburg in eine Harfenstadt verwandelt, der Briefträger Andreas, der alles sieht und als einziger die Zusammenhänge versteht, doch dessen stumme Schreie niemand hören will und schließlich Marthe, die mit ihrer Unfähigkeit, die Vergangenheit loszulassen, durch die Rheinauen wandert und sich in die Traumzeit zu den Reihern wünscht. Parallel zu all den Erinnerungen versucht die Hauptfigur Ellen, die inzwischen in Hamburg lebt, endlich Schlaf zu finden, doch die Bilder in ihrem Kopf lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Wie aus einem dichten Nebel tauchen sie immer wieder vor ihr auf und lassen sie und die LeserInnen verstört zurück.
»Die Misteln in den Pappeln sahen aus wie alte Bäume, die auf alten Bäumen wuchsen, und es war mir, als ob auf diesen Bäumen wiederum Bäume wuchsen und auf diesen wieder welche und immer so weiter. Ich stellte mir vor, dass wir selbst auf einer Kugel lebten, die aber nur die Ausstülpung einer Gallwespe auf einem einzigen Blatt unter Billionen von Blättern eines anderen Baumes waren, die seinerseits wieder Teil eines Baumes noch gewaltigeren Ausmaßes war.«
Seite 195
Ebenso wie in Hagenas Debüt-Roman werden dem Leser in »Vom Schlafen und Verschwinden« von Anfang an viele Personen und Namen vorgestellt, so dass es kaum möglich ist, den Roman einige Tage aus den Händen zu legen, ohne später nochmals die Personen nachschlagen zu müssen. Ich möchte daher unbedingt empfehlen, den Roman nach Möglichkeit am Stück zu lesen. Außerdem entwickelt die Geschichte erst dann ihre volle Sogwirkung.
»Wenn sie [Pappeln] ihre Daunen wehen lassen, wate ich knietief durch weiches Nichts, leichtes Gewölk, komm, schwerer Schlaf. So stelle ich mir den Tod vor. Wenn ich ein Vöglein wär.
Das Wasser fließt langsam, ich weiß nicht, wohin.«
Seite 205
In ihrer Schlaflosigkeit reist Ellen durch die Stationen ihres Lebens und versucht unermüdlich, Sinn in ihre Erinnerungen zu bekommen. Die zusammenhanglos scheinenden Erzählstränge fließen erst nach und nach zu einem perfekten Ganzen zusammen. »Schicht um Schicht blättert ab von dieser Nacht« und doch, während der Leser am Ende das ganze Bild sieht, bleibt Ellen ratlos zurück.
Hier liest Katharina Hagena die ersten zehn Seiten aus ihrem Roman »Vom Schlafen und Verschwinden«:
Wie in den von Katharina Hagena so schön beschriebenen Spinnennetzen klebt auch der Leser schon nach wenigen Seiten an den Erzählfäden der Autorin, die uns nach und nach in einen Kokon spinnt und die Fäden der Geschichte zu unserer Welt macht. Einsamkeit, Liebe, Demenz, Erinnerung an die Kindheit und Jugend, Schlafstörungen, Psychosen, ungewöhnliche Kunstinstallationen, tiefer Schlaf und Tod – das Leben überrascht immer wieder eiskalt und Katharina Hagenas lebendig erzählter Roman bietet die ganze Bandbreite des menschlichen Schicksals.
Die regelmäßig stattfindenden Proben des Chors, in dem Ellen, ihre Tochter Orla und Ellens Jugendfreund Andreas, ihr derzeitiger Liebhaber Benno und die rätselhafte Marthe singen und der von Ellens Vater geleitet wird, bilden die Dreh- und Angelpunkte des Romans. Die zwei Ich-Erzählerinnen Ellen und Marthe ziehen den Leser jeweils mit in ihre Zeit und ihre Gedanken. Manchmal tun sich in der Erinnerung der gegenwärtigen Ellen, noch weitere Erzählebenen auf wie zum Beispiel Bennos Bericht über den Soldaten in den Rheinauen, der sein Leben in Afrika beschreibt. Erst ganz am Ende wird der erste Satz des Romans »Alles ist voller Zeichen« verstanden und man fragt sich, warum der Zusammenhang nicht sofort erkannt wurde. Katharina Hagena zieht die LeserInnen in den Bann, sie ködert sie, verschleiert die Sicht auf das Naheliegende.
Über die Beschreibung des stets windigen Hamburgs und den darin enthaltenen indirekter Verweis auf die faszinierende Geschichtenwelt Michael Endes (nächstes Zitat) habe ich mich besonders gefreut. Ich wünschte, Michael Endes Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur würden noch viel mehr Beachtung finden, da die Aussagen und philosophischen Betrachtungen des Autors gerade für unsere Zeit so wichtig wären.
»Den ganzen Tag heult der Sturm um das Gebäude und rüttelt an den halb blinden Scheiben. […]
Der Campus ist wie das Land, das nicht sein darf, und ich bin mir sicher, er würde unter Getöse versinken, würde man alle Türen und Fenster des Philosophen-Turms gleichzeitig aufreißen.«
Seite 94
Fazit: Katharina Hagenas Roman »Vom Schlafen und Verschwinden« zog mich hinein in seine im Dunkel des Schlafs versteckten tiefen Geheimnisse und verborgenen Erinnerungen. Ein Roman der ruhig dahinplätschert, dabei eine starke Sogwirkung entwickelt und vor seinen Untiefen nicht warnt.
»Der Geschmack von Apfelkernen« hat mein Herz berührt und die Sprache hat mich begeistert. »Vom Schlafen und Verschwinden« lässt mich träumend, philosophierend und inspiriert zurück. Katharina Hagena lässt Handlungen, Figuren, und schöne Worte tanzen, bis die LeserInnen nicht mehr sehen, was die ganze Zeit schon vor ihnen lag. Und als es gelingt, ist nur noch bewundernd und erstaunt die letzte Seite umzublättern und zu denken: Da ist der Autorin aber wirklich etwas Wunderbares gelungen!
Den nächsten Roman von Katharina Hagena erwarte ich schon gespannt. Die Autorin kündigte ihn für Ende 2016 / Anfang 2017 an, ohne zu seinem Inhalt etwas zu verraten.
»Gleich kommt der graue Vogel über den Wald, über den See und nimmt mich mit.
Ich halte Ausschau nach dem flachen Z am Himmel. […] Komm, grauer Vogel,
ich bin des Wartens müde, und mein Herz schlägt schon mit den Flügeln, bereit zum Flug.
Komm jetzt. Oder komm nie mehr.«
Seite 12
»Come, Heavy Sleep« von John Dowland (1563 – 1626) als Chorgesang:
Come, heavy sleep, the image of true death;
And close up these my weary weeping eyes:
Whose spring of tears doth stop my vital breath,
And tears my heart with sorrow’s sigh-swoll’n cries:
Come and posess my tired thoughtworn soul,
That living dies, till thou on me be stole.
Come shadow of my end, and shape of rest,
Allied to death, child to his black-fac’d night:
Come thou and charm these rebels in my breast,
Whose waking fancies do my mind affright.
O come sweet sleep, come or I die for ever,
Come ere my last sleep comes, or come never.
Katharina Hagenas Roman »Vom Schlafen und Verschwinden« ist im September 2012 im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen – gebunden, 288 Seiten, ISBN 978-3462044829.
Über die Autorin: Katharina Hagena, geboren 1967 in Karlsruhe, studierte Anglistik und Germanistik in Marburg, London und Freiburg und lebt als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in Hamburg. Die Literaturwissenschaftlerin promovierte über »Ulysses« von James Joyce. 2006 erschien ihre Studie »Was die wilden Wellen sagen. Der Seeweg durch den Ulysses« und 2008 ihr Roman-Bestseller »Der Geschmack von Apfelkernen«, der in 25 Sprachen übersetzt und 2013 verfilmt wurde. Ihr zweiter Roman »Vom Schlafen und Verschwinden« ist im Herbst 2012 erschienen.
Laila Mahfouz, 12. Januar 2016
Links:
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Informationen zu Autor und Buch auf den Seiten des Kiepenheuer & Witsch Verlages finden Sie hier.
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