»Kühn hat zu tun« ist ein vielschichtiger Gesellschaftsroman. In leisen Tönen wechselt Jan Weiler gekonnt zwischen Tragik und Komik und schafft mit Martin Kühn einen klugen, mitfühlenden und scharf beobachtenden Protagonisten, der dem Leser sofort ans Herz wächst. Ein komplexer Roman, der es in sich hat.
Jan Weiler präsentierte seinen Roman »Kühn hat zu tun« auf der Buchmesse in Leipzig im März 2015
(Foto: Anders Balari)
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Martin Kühn ist 44, verheiratet und hat zwei Kinder. Er wohnt auf der Weberhöhe, einer Neubausiedlung nahe München. Früher stand dort mal eine Munitionsfabrik. Aber was es damit auf sich hatte, weiß Kühn nicht so genau.
Es gibt ohnehin viel, was er nicht weiß: Zum Beispiel, warum von seinem Gehalt als Polizist nach allen Abzügen ein verschwindend geringer Betrag zum Leben bleibt. Wieso sich alle Frauen Pferde wünschen. Ob er sich ohne Scham ein Rendezvous mit seiner rothaarigen Nachbarin vorstellen darf. Warum er jeden Mörder zum Sprechen bewegen kann, aber sein eigener Sohn nicht mal zwei Sätze mit ihm wechselt. Welches Geheimnis er vor sich selber verbirgt. Und vor allem, warum sein Kopf immer so voll ist.
Da wird ein alter Mann erstochen aufgefunden. Das Opfer liegt gleich hinter Kühns Garten in der Böschung. Und Kühn hat plötzlich sehr viel zu tun.
»Kühn sah sich bereits als unvorteilhaft beleuchteter Pechvogel mit lebenslangen Schulden in einer jener Sendungen auftauchen, die am Sonntagabend ausgestrahlt werden und den Fernsehzuschauern einen sozialen Abwärtsvergleich ermöglichen. Man sitzt zu Hause auf dem Sofa und denkt: Ein Glück bin ich nicht so ein Würstchen.«
6. Gewölle Seite 199
Dass »Kühn hat zu tun« Dank seiner Zutaten Kommissar und Mord als Kriminalroman einsortiert wird, nimmt Jan Weiler mit einem Achselzucken hin. Fest steht, dass es sich um einen ganz besonderen Gesellschaftsroman handelt, dessen Protagonist mehr durch Zufall Polizist ist. Jan Weiler wollte über einen typischen Familienvater im mittleren Alter schreiben, der sich den Kopf zerbricht über die Abzahlung des Reihenhauses in der Neubausiedlung, den in rechtsradikale Kreise abdriftenden Sohn, die von Pferden träumende Tochter, seine entromantisierte Ehe und seine stagnierende Karriere. Bei Martin Kühn kommt dazu noch ein verschwundenes Mädchen und ein Mordfall.
Jan Weiler im Interview mit Felicitas von Lovenberg während der Buchmesse in Leipzig 2015 (Foto: Anders Balari)
Das Buch beginnt mit Rupert Baptist Weber, der am letzten Märztag 1945 seinen Munitionsbetrieb samt 700 Tonnen flüssigen Kampfstoffes in die Luft sprengt und der aufgrund eines Irrtums als „guter Nazi“ in die Geschichte eingeht. Nach ihm wird die Neubausiedlung Weberhöhe benannt, die auf dem ehemaligen Betriebsgelände errichtet wird und zu dessen Bewohnern auch die Familie des Kommissars gehört. Der Leser / Zuhörer weiß also von Anfang an mehr als Kühn und seine Nachbarn und die tödliche Bedrohung, die in der Erde und damit über der ganzen Siedlung liegt, ist stets spürbar.
Weilers Held ist tragisch, seine Lage zunehmend hoffnungslos. Kühns Kriminalfall dient als Gerüst für viel messerscharfe Gesellschaftskritik. Der Kommissar dreht sich in einem Wirrwarr aus Beruf, Privatleben, Kindheit, Jugend, Gegenwart, Trauma, Träumen und Fantasiertem. Immer öfter kann Kühn die Gedankenflut in seinem Kopf kaum mehr stoppen. Diese Stellen sind besonders geglückt, denn Jan Weiler lässt sie als teils belustigenden und im Laufe des Buches immer mehr beunruhigenden Bewusstseinsstrom durch seinen Roman brausen:
»Willkommen in der Welt des Schnippikäses und der Bodendecker im Vorgarten. […] Ich weiß nicht einmal, was [Niko] für Musik hört. […] Nächste Woche gehe ich zum psychologischen Dienst. Vielleicht habe ich einen Hirntumor. Anders ist so ein Ohrwurm kaum zu erklären. Cheri Cheri Lady. Was soll bloß aus mir werden? Hat Mama das nicht immer gefragt? Und was ist geworden? Polizist mit fünfundzwanzig Berufsjahren ist auch nicht schlechter als irgendwas anderes, mach dich nicht so klein. Ich habe es Heiko gezeigt, dem Großmaul. Wobei: So eine Thuja-Hecke ist auch irgendwie eine Gefängnismauer.«
5. Lilith Seite 136/137
Unvergesslich bleibt mir der Moment, da der gestresste Familienvater das Pony besucht, welches er gern seiner Tochter zum Geburtstag schenken würde. Wie er dabei feststellt, dass es Jahre her ist, dass er ein Tier berührt hat und wie gut dies tut, bricht endgültig mein Herz, wenn er – nur vor sich selbst – zugibt, dass er das Pony gern auch selbst hätte, doch dass er sich schämt, weil er „das Gefühl tiefer Zuneigung für das Tier nicht einfach zulassen“ kann. Seine Freude zieht er aus dem Gedanken, durch seine Tochter heimlich an „ihrem“ Pony teilzuhaben.
Dieses literarische Mittel, mit dem Kühns überbordende Gedankenwelt dem Leser mitgeteilt wird, verleiht dem Roman einen unwiderstehlichen Sog. Das voyeuristische Vergnügen macht jedoch rasch dem Bangen um den Protagonisten Platz. Martin Kühn ist ein Mann mit Herz, der sich um alle sorgt und dabei manchmal sich selbst vergisst. Sympathie für ihn zu empfinden fällt leicht. So teilt der Leser den vor Kühn in die Höhe wachsenden Sorgenberg mit ihm und fragt sich, wie diese Geschichte für den Kommissar doch noch gut ausgehen kann. Die Kühle, die Kühn in seinem Heim entgegen zu schlagen scheint, ist entsprechend schwer zu ertragen.
»Der Pragmatismus hatte sich wie ein Bodendecker über ihrer Ehe ausgebreitet. Immergrün, aber schwer zu entfernen und mit ausgesprochen zähen Wurzeln.«
8. Bumm Seite 234
Der Hörverlag brachte parallel zur Buchausgabe des Rowohlt Verlages im März 2015 die Hörbuchausgabe von »Kühn hat zu tun« in – zum Glück – ungekürzter Fassung heraus.
Selten verleitet der Hinweis ‚Gelesen vom Autor‘ sofort zum Kauf eines Hörbuches. Im Falle von Jan Weiler möchte ich allerdings eine ausdrückliche Empfehlung aussprechen. Er ist nicht nur ein hervorragender Vorleser, der den verschiedenen Personen charakterische Stimmen verleiht, mit feinen Nuancen, viel Wärme und Empathie schafft er einen ganz besonderen, unverwechselbaren Sound, der rasch seine Sogwirkung entfaltet. Jan Weiler reicht damit leicht an Profisprecher heran.
Das Hörbuch inklusive einer Hörprobe finden Sie hier oder mit Klick aufs Bild. Es handelt sich um eine mp3-CD mit einer Laufzeit von 8 Stunden und 28 Minuten. Regie führte Angela Kübrich.
Studio-Interview der Hörverlags mit Jan Weiler zum Roman „Kühn hat zu tun“:
Am Ende lässt Jan Weiler durchblicken, dass die Möglichkeit einer Fortsetzung der „Krimi“-Reihe um Martin Kühn besteht. Das wäre eine Freude, denn so manches Fädchen wurde nicht zu Ende gesponnen und wirft Fragen auf. Ich würde mich über ein weiteres Buch mit diesem Kommissar freuen und glaube, für Kühn gibt es nach wie vor jede Menge zu tun.
Fazit: Jan Weilers »Kühn hat zu tun« ist ein fein beobachteter, atmosphärisch dichter Gesellschaftsroman. Der Mikrokosmos der Neubausiedlung ist dem Bestseller-Autor ebenso wunderbar gelungen wie sein Protagonist, der moderne Jedermann Martin Kühn, der in dieser bewohnbaren Sozialstudie versucht, irgendwie einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Gesellschaftskritik ist gut in die Handlung verwoben und trifft immer den Nagel auf den Kopf. Der Roman fesselt von der ersten bis zur letzten Seite. Grandios gelesen von Jan Weiler selbst lässt auch das Hörbuch Hörerherzen höher schlagen. Eine klare Empfehlung!
Jan Weilers Roman »Kühn hat zu tun« ist im März 2015 im Kindler (Rowohlt) Verlag für EUR 19,95 erschienen – gebunden, 320 Seiten, ISBN 978-3463406435.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Jan Weilers Roman »Kühn hat zu tun« ist im März 2015 als ungekürztes Hörbuch vom Autor selbst gelesen im Der Hörverlag auf 1 mp3-CD mit einer Gesamtlaufzeit von 8 Stunden und 28 Minuten (508 Minuten) erschienen, EUR 9,99 – ISBN 978-3844523362.
Wer in den Roman reinhören möchte, findet hier eine Hörprobe.
Über den Autor: Jan Weiler, 1967 in Düsseldorf geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Er war viele Jahre Chefredakteur des SZ Magazins. Sein erstes Buch «Maria, ihm schmeckt’s nicht!» gilt als eines der erfolgreichsten Romandebüts der letzten Jahre. Es folgten unter anderem: «Antonio im Wunderland» (2005), «In meinem kleinen Land» (2006), «Drachensaat» (2008), «Mein Leben als Mensch» (2009), «Das Pubertier» (2014) und «Kühn hat zu tun» (2015). Jan Weiler verfasst zudem Hörspiele und Hörbücher, die er auch selber spricht. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Nähe von München.
Laila Mahfouz, 11. Oktober 2016
Links:
Die Fotos für diesen Artikel entstanden während der Leipziger Buchmesse 2015, ©Anders Balari. Mehr Informationen zu Anders Balari finden Sie hier.
Die Website von Jan Weiler finden Sie hier.
Die Facebook-Seite von Jan Weiler finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Jan Weiler finden Sie auf der Seite des Rowohlt Verlages. Hier finden Sie auch alle anstehenden Lesungstermine.
Jan Weiler stellte seinen Roman »Kühn hat zu tun« bei Denis Schecks Sendung Druckfrisch vor:
Weitere Informationen zu Jan Weiler finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.