Monika Helfers Roman »Die Welt der Unordnung« ist ein kleines Wunder. Wie es ihr auf gut 170 Seiten gelingt, komplexe Charaktere zu entwerfen, Figuren mit Vergangenheit und ohne viel Zukunft auftreten und durch ihr Leben stolpern zu lassen, ist meisterhaft!
Handlung (der Verlagsseite entnommen): Die Schriftstellerin macht eine Entdeckung: Auf dem Friedhof, den sie jeden Tag besucht, hängt ein totes Baby im Geäst einer Thuja. Ist es der kleine Bruder von Samira, den das neunjährige Mächen bei der Polizei als vermisst meldet? Mit ihm, ihrer Mutter Mirjam, Onkel Wolf und seinen Freunden Orang und Utan lebt sie in einer Welt, in der so manches in Unordnung ist, in der die Armen, Elenden und Opfer häufig Kinder sind. Diese Welt kennt auch Inspektor Swini nur zu gut (wäre alles in bester Ordnung, es bräuchte keinen Inspektor). Swini hat Talent zur Tragödie, er wird zu Samiras Beschützer, aber er weiß auch, wie schwer eine Schuld wiegen kann, die einem ein Leben lang keiner abnimmt.
Ziemlich verwahrlost wächst die inzwischen neunjährige Samira bei ihrer heroinsüchtigen Mutter auf. Ihr Onkel Wolf, der sich als Familienoberhaupt, als Pate, sieht und sich als Beschützer aufspielt, ist ein Dealer und arbeitet mit seinen beiden treuergebenen Freunden Otmar und Karl, die er Orang und Utang nennt, zusammen. Samira weiß mehr über Drogen als ein anderes Kind in ihrem Viertel. Sie erlebt, wie ihre Mutter sich vor ihren Augen die Spritzen setzt und davon schwärmt. Sie nimmt den Wein, den ihre Mutter ihr zu trinken gibt. Sie weiß, dass ihr kleiner Bruder schon heroinabhängig auf die Welt kam und sie weiß auch, dass er deshalb ununterbrochen wimmert und schreit. Samira sieht alles. Sie hört alles. Scheinbar erträgt sie alles.
»So färbte Samiras Geschichte das letzte Jahr vor seiner Pensionierung ein: dunkel.«
(Talent zur Tragödie, Seite 18)
Es ist kein wirklicher Krimi, den Monika Helfer hier vorlegt. Trotz unaufgeklärtem Mord, Inspektor und Ermittlung handelt es sich vielmehr um ein modernes Märchen und um ein großes Stück Gesellschaftskritik – außerdem um richtig gute Literatur. Das Buch beginnt mit dem Grimmschen „Es war einmal…“ und auch Samiras Blick auf die Dinge ist oft märchenhaft verklärt. Ihren Onkel und seine beiden Freunde nennt sie zum Beispiel „Die drei Könige“. Mit ihrem Onkel als Leit-Wolf, ihrer Mutter Mirjam, den Freunden Orang und Utan und mit dem Baby ohne Namen bildet Samira ein Wolfsrudel, das nachts die Träume des Inspektors heimsucht und ihn nicht mehr loslässt. Nach und nach befragt er sie alle.
»Er blickte aus dem Fenster. Er sah nichts. Es gibt Wölfe in den Städten. Es gibt Wölfe in unserer Stadt. Erst heult einer, dann zwei, dann heult das ganze Rudel.«
(Wölfe in der Stadt, Seite 100)
Inspektor Swini erträgt die Schlechtigkeit der Welt nicht. Er hat als Kind ein Mädchen nicht vor dem Ertrinken retten können und versucht seither, von einer ungerechtfertigten, aber traumatisch eingepflanzten Schuld getrieben, die Welt in Ordnung zu bringen. Je mehr er lernt, dass er auch als Kriminalbeamter kaum Chancen gegen die Ungerechtigkeit hat, desto mehr verfällt er Süchten, die ihn von dem Elend der Welt ablenken sollen. Doch Swini hat einen untrüglichen Instinkt und leider liegt er auch in diesem Fall richtig. Nur dieses eine Mal will er nicht akzeptieren, dass das Gesetz mehr bedeutet als die Gerechtigkeit. Swini weiß, dass der Mensch vergeben und vergessen kann, aber der Computer nicht und daher sucht er einen Sündenbock und verbündet sich mit dem Anführer des Rudels, um sein Ziel zu erreichen.
»Alles wird gut […] Ich sage das manchmal einfach so […] nur weil ich es so gern sage.«
(Vermisst, Seite 10)
Die Bibelsprüche, die Inspektor Swini täglich aus einem Säckchen zieht, spiegeln die Lage des Falls auf andere Weise und bereichern so den Roman um eine weitere Ebene.
Monika Helfer lässt alle Personen berichten, was passiert ist. Dem Inspektor wie dem Leser wird dabei rasch klar, dass es sich hier um teilweise sehr unzuverlässige Erzähler handelt. Mit jedem der angenehm kurzen Kapitel springt die Schilderung in eine andere Perspektive. Der Autorin gelingt es mit viel Empathie, den Leser sogar Blicke in die Wahrnehmung und Gefühlswelt des Hundes der Familie und des zehnwöchigen Babys werfen zu lassen, die er wohl so schnell nicht vergessen wird.
»Als sie die Sachen schon zusammengepackt hatten, es war kühl geworden, setzten sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm, weil in ihrem Leben so lange kein umgestürzter Baumstamm vorgekommen war.«
(Ausflug ins Grüne II, Seite 128)
Fazit: Für alle Wolfsrudel im Elend, für alle Polizisten, die täglich mit ihrer Hilflosigkeit konfrontiert sind, und für alle anderen auf der Welt wünscht man sich nach dieser Lektüre nichts sehnlicher als Erlösung aus dem Elend – ein Paradies auf Erden, das alle verdienen. Monika Helfers Roman »Die Welt der Unordnung« lässt in all der erbarmungslosen Hoffnungslosigkeit ein Feuer brennen, um denen, die verloren scheinen, zuzurufen, ihr werdet gehört!
Wie direkt Monika Helfer erzählt, wie präzise sie ihre Sätze in schlichter Sprache aneinander reiht, ist bemerkenswert. Feinfühlig, nachhaltig berührend und zum Nachdenken anregend! Was mehr, als eine Anleitung zu einer besseren Welt, könnte man von einem Roman erwarten? Wer sich auf diese Geschichte einlässt, muss damit rechnen, erschüttert zu werden und dennoch und gerade deswegen möchte ich den Roman wärmstens empfehlen.
Monika Helfers Roman »Die Welt der Unordnung« ist im August 2015 im Jung und Jung Verlag für EUR 18,90 erschienen – gebunden, 172 Seiten, ISBN 978-3990270738.
Über die Autorin: Monika Helfer wurde 1947 in Vorarlberg, Österreich geboren. Seit 1981 ist sie mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier verheiratet. Für ihr umfangreiches Werk wurde die Autorin vielfach ausgezeichnet. Die beiden Autoren leben und arbeiten in Hohenems.
Laila Mahfouz, 24. August 2016
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Monika Helfer liest zehn Seiten aus »Die Welt der Unordnung«:
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