Mit seinem vierten Roman »Vom Ende der Einsamkeit« schafft Benedict Wells es abermals auf die deutschen Bestsellerlisten. Das Lob der Kritik ist wohlverdient, denn der Autor erzählt so einfühlsam von Verlust und dem, was nach dem Schmerz von einem Menschen übrig bleibt, dass der Leser verzaubert zurückbleibt und nach der Lektüre sofort die Figuren vermisst, die er auf ihrem Lebensweg begleiten durfte.
Handlung: Jules und seine Geschwister Marty und Liz sind grundverschieden, doch ein tragisches Ereignis prägt alle drei: Behütet aufgewachsen, haben sie als Kinder ihre Eltern durch einen Unfall verloren. Obwohl sie auf dasselbe Internat kommen, geht jeder seinen eigenen Weg, sie werden sich fremd und verlieren einander aus den Augen. Vor allem der einst so selbstbewusste Jules zieht sich immer mehr in seine Traumwelten zurück. Nur mit der geheimnisvollen Alva schließt er Freundschaft, doch erst Jahre später wird er begreifen, was sie ihm bedeutet – und was sie ihm immer verschwiegen hat. Als Erwachsener begegnet er Alva wieder. Es sieht so aus, als könnten sie die verlorene Zeit zurückgewinnen, doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein.
»Das Geheimnis war seine Stimme: sanft, nicht zu tief, nicht zu hoch, sein Akzent nur angedeutet, wie ein unsichtbares Lasso legte sie sich um seine Zuhörer und zog sie näher zu sich heran.«
Strömungen (1980) – Seite 17
Wie der Vater des Protagonisten Jules schafft es auch Benedict Wells, seine Leser sofort in seinen Bann zu ziehen. Einmal begonnen, lässt die Geschichte der Geschwister aus »Vom Ende der Einsamkeit« nicht mehr los. Immer wieder stellt sich beim Lesen ein Wohlgefühl ein und immer wieder wird das leichte Ziehen in der Magengegend unterdrückt, das ein nahendes Unheil ankündigt. Immer wenn es gut läuft, wenn wir uns mit den Hauptfiguren in trügerischer Sicherheit wiegen, schlägt das Schicksal wieder zu und zeigt Jules auf schmerzliche Weise, dass das Leben immer noch ein Ass im Ärmel hat und sich nicht austricksen lässt. Das Leitmotiv des aktuellen Romans von Benedict Wells zeigt sich in diesem Zitat:
»Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich.
Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.«
Die Ernte (1997 – 1998) – Seite 136
Die Karriere des Autors ist legendär. Im Alter von 24 Jahren debütierte er 2008 als jüngster Autor beim Diogenes Verlag mit seinem immens erfolgreichen Roman »Becks letzter Sommer«, der 2015 mit Christian Ulmen in der Hauptrolle fürs Kino verfilmt wurde. Es folgte der Roman »Spinner«, den Benedict Wells bereits mit 19 Jahren fertigstellte sowie 2013 der Roman »Fast genial«. Mit »Vom Ende der Einsamkeit« legte Benedict Wells nun seinen vierten Roman vor.
Der Roman beginnt, als Jules mit Mitte vierzig nach einem schweren Motorradunfall im Krankenhaus aufwacht. Mühevoll und langsam, ja teilweise auch ungern, erinnert er sich an seine Vergangenheit. Die glückliche Kindheit, in der er ein aufgeweckter, mutiger und beliebter Junge war und die Schicksalsschläge, die ihn zu dem gemacht haben, der er ist.
»Wir schwiegen uns an. Die erste Aufregung des Wiedersehens war inzwischen verflogen, alles war so förmlich, so bemüht. Kurz kam es mir so vor, als wären unsere eigentlichen Ichs weit entfernt und wir hätten nur zwei Unterhändler in die Bar geschickt, die nicht befugt waren, über die wirklich wichtigen Dinge zu reden.«
Der Weg zurück (2000 – 2003) – Seite 169
Dieser Roman ist traurig und berührend, aber immer leuchtet aus den Seiten eine Schönheit, die trotz allem Schmerz auf merkwürdige Weise glücklich macht und alles mit einem Lächeln unter Tränen ertragen lässt. Es geht um Trauerbewältigung, um die Verarbeitung traumatischer Ereignisse und den unterschiedlichen Umgang der vier Hauptpersonen mit dem Tod. Eindringlich schildert Benedict Wells die Geschichten seiner Figuren, deren Charaktere er sehr einfühlsam zeichnet. Auch wenn in diesem Roman fast alle Frauen draufgängerischer, abenteuerlustiger und mutiger sind als die sensiblen, zweifelnden und unsicheren Männer, so wirken sie doch nie konstruiert und lassen durch ihre Augen und ihre Seele das Erlebte erfahren.
In schlichter doch schöner Sprache erzählt Benedict Wells von Verlust, Einsamkeit, von Mut und Risiko, vom Versagen und Gewinnen, von Sehnsucht und Schmerz, von Schicksal und Glück. Die Geschichte von Jules, seinen Geschwistern Marty und Liz und seiner Freundin Alva fesselt sofort und ist so mitreißend geschrieben, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen mag.
»[…] allein hier draußen wurde mir mit einem körperlichen Schmerz bewusst, dass ich meine Zeit nicht genutzt hatte. Um Minuten gekämpft, wenn es darum ging, einen Bus noch zu erreichen. Jahre verschwendet, weil ich nicht das getan hatte, was ich wollte.«
Der Flug der Zeit (2005 – 2006) – Seite 187
Wer es – wie ich selbst – liebt, einen Soundtrack zu einem Roman anlegen zu können, der wird sich über Benedict Wells‘ »Vom Ende der Einsamkeit« auf jeden Fall freuen. Auch regt die Erwähnung eines Gedichts (z. B. Rainer Maria Rilkes „Schlußstück“), einer Geschichte (z. B. Ernest Hemingways „Schnee auf dem Klimandscharo“), eines Zitats von Bob Dylan oder eines Liedes (z. B. „Pink Moon“ von Nick Drake, „Via Con Me“ von Paolo Conte oder die wunderschöne Ballade „Between the Bars“ des Singer-Songwriters Elliott Smith) immer wieder zum Nachlesen und Eintauchen in die Welt des Romans an. Der aufmerksame Leser findet außerdem gewollte oder ungewollte Zitate zwischen den Zeilen wie z. B. zu Josh Boones großartigem Schriftsteller-Film „Stuck in Love“ oder Joseph Freiherr von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“.
Fasziniert hat mich Benedict Wells Spiel mit der Realität. Was-wäre-wenn fragt sich Jules immer wieder. Was-wäre-wenn seine Eltern nicht umgekommen wären? Was-wäre-wenn er mutiger gewesen wäre und über seine Gefühle gesprochen hätte? Was-wäre-wenn er sich nicht seinen eigentlichen Berufswunsch versagt hätte? Am Ende wird klar, dass es nie nur eine Realität gibt und ganz sicher will ich glauben, dass in einer der Welten gerade diese einsamen, mir lieb gewonnenen Figuren ihr Ende der Einsamkeit erreicht haben und glücklich miteinander leben.
Fazit: Benedict Wells‘ »Vom Ende der Einsamkeit« ist ein Roman wie das Leben, hinreißend schön und unendlich traurig. Eine fesselnde Geschichte voll tiefer Schönheit, Melancholie und Weisheit. Als Leser ist man unausweichlich gefangen wie die Fliege im Netz und zugleich vollkommen verzaubert! Eine klare Empfehlung!
Benedict Wells‘ Roman »Vom Ende der Einsamkeit« ist im Februar 2016 im Diogenes Verlag für EUR 22,00 erschienen – gebunden, 368 Seiten, ISBN 978-3257069587.
Über den Autor: Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Im Alter von sechs Jahren begann seine Reise durch drei bayerische Internate. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vielbeachtetes Debüt »Becks letzter Sommer« erschien 2008, wurde 2009 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und 2015 fürs Kino verfilmt. Wie bereits sein dritter Roman »Fast genial« steht auch sein soeben erschienener Roman »Vom Ende der Einsamkeit« auf den Bestsellerlisten. 2016 wurde Benedict Wells für seinen neuen Roman mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) ausgezeichnet. Der Autor lebt in Berlin.
Laila Mahfouz, 24. August 2016
Links:
Schauen Sie sich auch das Interview mit Benedict Wells zu seinem Roman »Vom Ende der Einsamkeit« an (28.02.2016 / ZDF heute journal):
Weitere Informationen zu Benedict Wells finden Sie auf der Seite des Diogenes Verlages.
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Ein Video mit einem Auszug aus Benedict Wells erster Lesung aus »Vom Ende der Einsamkeit« finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Schlußstück von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)