Lesung am 13. Juli 2016 in der Bücherhalle Holstenstraße in Hamburg: Anna Katharina Hahn las im Rahmen der Literatur Altonale aus ihrem Roman »Das Kleid meiner Mutter« und berichtete von der Entstehung des Buches und all dem, was zwischen den Zeilen zu finden ist.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Madrid im Sommer 2012: Krass zeigen sich in der Hauptstadt die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise. Die junge Ana María, genannt Anita, gehört zur »verlorenen Generation«, der jede Möglichkeit einer selbstbestimmten Existenz genommen wurde. Ihr Bruder, ein promovierter Germanist, hat sich bereits nach Berlin abgesetzt, um auf dem Bau sein Geld zu verdienen. Anita ist aus Not in ihr altes Kinderzimmer zurückgezogen. Halt geben ihr neben der Familie nur ihre Freunde, die das Schicksal der Dauerarbeitslosigkeit mit ihr teilen, und die regelmäßigen Demonstrationen auf der Puerta del Sol im Herzen der überhitzten Metropole. Doch alles Schlimme lässt sich noch steigern: Eines Tages liegen Anitas Eltern tot in der gemeinsamen Wohnung. Unversehens rutscht sie in das Leben der Mutter hinein. Anita muss nur eines ihrer Kleider überstreifen, schon halten sie alle – auch Mutters geheimnisvoller deutscher Liebhaber – für Blanca. Und deren Alltag ist viel aufregender, als Anita sich hätte träumen lassen.
Gerhard Fiedler, künstlerischer Leiter der Literatur Altonale, die in diesem Jahr schon zum 14. Mal stattfand, moderierte die Lesung von Anna Katharina Hahn. Trotz der Gesellschaftskritik und der vielen Anspielungen auf die Generation Zero bezeichnete er »Das Kleid meiner Mutter« als kein realistisches Buch, sondern als ein modernes Märchen. Die Autorin, die elf Jahre in Hamburg gelebt hat, las dem andächtig lauschenden Publikum etwa 20 Seiten aus ihrem fantastischen Roman vor und beantwortete bereitwillig die Fragen des Moderator wie auch des Publikums.
»Die Jungs versammelten sich vor den Tiefkühlschränken. Hähnchennuggets, Thunfischsteaks flogen in den Wagen. […] auf einmal schoben sie eilig davon. […] Ich folgte ihnen […] Ihr Wagen war plötzlich wieder leer. Zuerst verstand ich gar nichts. Erst als sie mit einer Flasche Orangenlimo in Richtung Kasse zockelten, sah ich es.«
(Kapitel Samstag, Seite 36/37)
Wer wissen möchte, was es mit dem leeren Einkaufswagen auf sich hat, findet des Rätsels Lösung in dem Film zur Supermarktszene: »Was man alles unter einen Hut bringen kann«.
An vier Tagen im Sommer 2020 passiert in Madrid etwas Unfassbares. Schlimm genug, dass Anitas Eltern so plötzlich sterben, aber dass sie ab dem Zeitpunkt ihres Todes stetig schrumpfen und alle Anita plötzlich für ihre Mutter Blanca halten, sobald sie Blancas Kleider trägt, lässt die junge Frau an ihrem Verstand zweifeln. Anita verheimlicht allen, dass ihre Eltern tot sind, um der Realität nicht ins Auge sehen zu müssen. Als Blancas Geliebter, von dessen Existenz die Tochter bis dahin nichts ahnte, die Bitte um ein Treffen per SMS äußert, ist Anita mehr als nur ein bißchen durcheinander. Ganz allmählich entwirrt sie jedoch das komplexe Beziehungsleben ihrer Eltern und merkt, dass sie beide nicht wirklich gekannt zu haben scheint. Oder hat sie viele Wahrheiten vielleicht nur nicht sehen wollen? Sie dringt tief ein in das Leben ihrer Mutter. Eigene Kindheitserinnerungen und der Roman Gert De Ruits, eines gewissen deutschen Schriftstellers, den die Eltern bewunderten und dessen wahre Identität selbst seinem Verleger unbekannt ist, bringen Licht ins Dunkel. Schon am Tag, als Anitas Eltern sterben, findet sich die erste Andeutung auf die Identität des Schriftstellers, der als Phantom überall auftaucht und, ebenso wie Anita selbst, ein Verwandlungskünstler ist. Erst der Brief von Carmen, der Übersetzerin De Ruits, an Anitas Vater Oscar bildet dann aber die fehlende Brücke zwischen Spanien und Deuschland.
Einer der vielen magischen Momente im Roman ist das Schälen einer Orange, die zu einer aufgeblühten Seerose wird. Wie genau diese entsteht, sehen Sie in dem kurzen Video »Wie aus einer Orange eine blühende Seerose wird«.
»Ich roch den starken Duft, sah die riesige, köstliche Blüte. Nie habe ich behutsamer einen Orangenschnitz zum Mund geführt, nie schmeckte das alltägliche Obst geheimnisvoller. […] Ich weiss noch, dass ich fragte: ‚Mama, wieso machst du das?’«
(Montag, Seite 110)
Mit »Das Kleid meiner Mutter« erschafft Anna Katharina Hahn einen ganzen Kosmos an Geschichten. Dabei ist sie überschäumend und herrlich ausufernd wie die Oder, die sich im Roman über ihr Flussbett hinaus ausbreitet. Überall gibt es Geschichten in der Geschichte, verbergen sich die Geheimnisse oder Erlebnisse einzelner Personen, denen der Leser so gerne weiter folgen würde. Da ist Anitas Freundeskreis, La Plaga genannt, mit ihrem ‚Club der Schwätzer‘. Da ist die Schildkröte Achilles, auf deren Panzer eine glitzernde Liebesbotschaft steht. Da wandert Anitas Bruder Ángel auf den Spuren einer deutschen Dichterin durch Berlin. Da wird die spannende Geschichte von Carmen der Übersetzerin Gert De Ruits erzählt, die den Sonderling angeblich als Einzige je zu Gesicht bekommen hat. Da ist Blancas Freundin Paloma und der geheime Nebenjob von Anitas Mutter bei dem Videoinstallationskünstler Rif. Da sind die Rückblicke in Anitas Kindheit und in die Kindheit Gert De Ruits. Da ist das langsame Dahinschrumpfen von Blanca und Oscar und die erstaunliche Metamorphose Anitas, wenn sie Kleider von Familienmitgliedern trägt. Außerdem verbirgt Anna Katharina Hahn, die Spezialistin für mittelalterliche Literatur ist, in ihrem Buch viele Anspielungen auf die Literatur der spanischen Klassik und Romantik, vor allem in den Geschichten, die von den Mitgliedern von La Plaga erzählt werden. All das auf 311 Seiten? Wie macht Anna Katharina Hahn das nur und, nein, der Roman ist nicht überfrachtet, sondern ein wundervoll verrücktes, genial konstruiertes Vergnügen.
»Das Recht auf Unsichtbarkeit«
Vor allem der gesichtslose Schriftsteller Gert De Ruit, über den alle zu gern etwas erfahren möchten, lässt nicht los. Mit ihm hat Anna Katharina Hahn der deutschen Literatur eine Figur geschenkt, die nicht so schnell vergessen werden wird. Der Autorin hat es offenbar auch viel Freude bereitet, beim Schreiben in die Haut des Mannes zu schlüpfen, der Stricher und Schauspieler an seiner Stelle zu Preisverleihungen schickt und jedes Jahr eine Liste der Lebewesen veröffentlicht, die er getötet zu haben behauptet. Nicht nur wie er sich dem Literaturbetrieb so erfolgreich entzieht, fasziniert Anna Katharina Hahn, auch seine furchteinflößende Erscheinung hat es ihr angetan:
»Ich stelle mir z. B. manchmal vor, wie es wäre, zwei Meter groß zu sein und furchterregend und dass die Leute die Straßenseite wechseln. Ich werde das nie wissen, aber beim Schreiben kann ich einen Eindruck davon bekommen, wie es sein könnte.«
Schon für die Beschreibungen der Bücher, die Gert De Ruit in seiner Karriere verfasst hat, gebührt Anna Katharina Hahn das höchste Lob. Wer sie liest, möchte die Bücher ebenfalls lesen, will, dass sie wirklich existieren. Ein Traum wäre es, wenn Anna Katharina Hahn (vielleicht unter dem Pseudonym Gert De Ruit) Bücher wie z. B. sein Hauptwerk »Berlin Dogs« schreiben würde. Es klingt so fantastisch, dass es geschrieben werden sollte:
»Berganza und Biberkopp, zwei Berliner Straßenköter, sind die Titelhelden dieses Opus Magnum. Ihren Stimmen verfällt der Leser schon nach den ersten Sätzen, wenn De Ruit diese beiden allwissenden, zynischen und hochgebildeten Vierbeiner auf die Spuren der deutschen und europäischen, schließlich auch der Weltgeschichte setzt und losplaudern lässt. Mit Eloquenz und Hemmungslosigkeit verbellen die Hunde ihre Biografien ebenso wie die ihrer verschiedenen Besitzer. Berganza gehört einem jüdischen Literaturprofessor aus Zehlendorf und wird nach der Deportation seiner Familie von einem SS-Mann aufgenommen, der im Wirtschaftswunderland eine erstaunliche Karriere macht. Biberkopp ist ein Streuner aus Moabit und schließt sich nacheinander verschiedenen heimat- und wohnungslosen Existenzen der Berliner Nachkriegsjahre an. Unter anderem auch Helmut, dem einzigen Sohn von Josef und Magda Goebbels, der von seinen Eltern nicht vergiftet, sondern nur betäubt wurde. Auch seine Schwestern […] stehen von ihren Totenbahren auf und verlassen die zerstörte Hauptstadt […] In der Bundesrepublik, der DDR, den USA, der Sowjetunion und Israel wachsen die Goebbels-Kinder auf, jedes von ihnen als ein anderer Faden im Gewebe…«
(Kapitel Montag, Seite 123)
Dieses Buch im Buch hat fiktive Modedesigner ebenso zu ihrem Szene-Modelabel ‚Berlin Dogs‘ inspiriert wie »Das Kleid meiner Mutter« Laura Both, Rosa Kaiser, Svetlana Katasova und Veronika Lüer von der Staatlichen Modeschule Stuttgart zur Anfertigung zweier Kleider, die im Roman aus Anita Blanca machen. Wie auf unseren Fotos zu sehen ist, trug Anna Katharina Hahn das Zitronenkleid zur Lesung in den Bücherhallen. Schauen Sie sich doch auch das kurze Video »Wie aus einem Buch ein Kleid wird und aus einer Schriftstellerin ein Modell…« dazu an.
»Das zweitbeste Sommerkleid war gelb, bedruckt mit einem Zitronenmuster. […] Vor dem Flurspiegel überfielen mich Zweifel. […] Blancas Kleid anzuhaben, hieß nicht, Blanca zu sein. […] Ich und Blanca, das war doch wie Kerze und Fackel, Streichholz und Feuerwerk, Kuhfladen und Pizza […] Mochte Gilipollas, das senile Weiblein, auf mich reinfallen und Paloma mich am Telefon verwechseln – eine Konfrontation mit ihr im grellen Morgenlicht, das konnte nur schiefgehen.«
(Kapitel Montag, Seite 84/85)
Fazit: Dreieinhalb Jahre hat Anna Katharina Hahn von der Planung bis zur Vollendung an ihrem Roman »Das Kleid meiner Mutter« gearbeitet. Herausgekommen ist ein Buch, das mehr ist als klug und fantasievoll, mehr als genial ineinander verflochtene Geschichten, mehr als stilistisches Können. Ein Roman über Verdrängung, Verkleidung, um das Loslösen von den Fesseln des Selbst und Eintauchen in immer neue Lebenswelten. Gern ließ ich mich von Anna Katharina Hahn beim Lesen immer wieder in die Irre führen und weiß, dass ich diesen Roman auf jeden Fall nochmals lesen werde. Ein surrealistischer Ritt durch eine magische Welt, den ich jedem empfehlen möchte, der bereit ist, auf dieses wilde Pferd aufzusteigen!
Anna Katharina Hahns Roman »Das Kleid meiner Mutter« ist im März 2016 im Suhrkamp Verlag erschienen – gebunden, 311 Seiten, EUR 21,95, ISBN 978-3518425169.
Über die Autorin: Anna Katharina Hahn wurde 1970 in Ruit auf den Fildern bei Stuttgart geboren. Sie begann nach dem Abitur in Stuttgart 1990 ihr Studium der Germanistik, Anglistik und Volkskunde an der Universität Hamburg, das sie 1995 mit dem Magistergrad abschloss. Von 1996 bis 2001 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bibel-Archiv und in der Handschriftenabteilung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg tätig. Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu spätmittelalterlichen Historienbibeln publizierte sie literarische Texte in Zeitschriften und Anthologien sowie zwei Bände mit Erzählungen. 2004 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Ihr Roman-Longseller »Kürzere Tage« (2009) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2009 und auf der Shortlist für den Preis der SWR-Bestenliste und wurde 2010 mit dem Roswitha von Gandersheim-Preis und dem Heimito von Doderer-Preis ausgezeichnet. Außerdem wurde er ins Englische und Finnische übersetzt. Zuletzt erschien ihr Roman »Am schwarzen Berg« (2012), der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse sowie auf Platz 1 der SWR-Bestenliste stand und für den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis nominiert war. Anna Katharina Hahn gilt als eine der wichtigsten Erzählerinnen ihrer Generation und wurde für ihre Romane u. a. mit dem Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim und dem Heimito von Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet. Sie lebt heute mit ihrer Familie in Stuttgart.
Laila Mahfouz, 9. August 2016
Links:
Die Fotostrecke von Anders Balari zur Lesung finden Sie hier.
Informationen zu Anna Katharina Hahn auf der Seite des Suhrkamp Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Anna Katharina Hahn liest zehn Seiten aus ihrem Roman »Das Kleid meiner Mutter«
Denis Scheck hat Anna Katharina Hahn für seine Sendung Druckfrisch interviewt. Das Video dazu finden Sie hier.
Mehr Informationen zu Anna Katharina Hahn finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz