Peter Høegs dystopischer Thriller »Der Susan-Effekt« ist reich an Wissen, aber auch an Verzweiflung an der Gegenwart, deren grausame Zukunftskonsequenz unabänderlich scheint. Weisheit, Humor und Spannung ergänzen sich zu einem atemberaubenden Roman mit einer außergewöhnlichen Protagonistin.
Inhalt (dem Verlagstext entnommen): Sie waren eine dänische Vorzeigefamilie, doch jetzt werden sie von der Polizei gesucht: Susan, die Physikerin, Laban, der Komponist, und die beiden 16-jährigen Zwillinge Harald und Thit. Ein hochrangiger Justizbeamter schlägt Susan einen Deal vor. Er wird ihre Familie retten, wenn sie ihm das geheime Protokoll eines wissenschaftlichen Gremiums beschafft, das die Gefahren der Zukunft erforscht. Doch plötzlich kommt ein Gremiummitglied nach dem anderen auf grausame Weise um. Ich-Erzählerin Susan, gesprochen von Sandra Schwittau, hantiert gern mit dem Brecheisen, sie setzt Männer mit einem Griff unter die Gürtellinie schachmatt, bäckt nachts um drei Croissants für ihre Kinder und hat eine außergewöhnliche Gabe: Jeder, der mit ihr spricht, gibt sein Innerstes preis.
Als ich in der Eingangstür stehe, sehen wir uns ein letztes Mal in die Augen. In der Sekunde dämmert ihm etwas. […] Er erinnert sich an den Effekt. Und dann sind wir weg.
(Teil 1, Kapitel 18, Seite 107)
Der Hörverlag brachte parallel zur Buchausgabe des Hanser Verlages im Juli 2015 die Hörbuchausgabe von »Der Susan-Effekt« in – zum Glück – ungekürzter Fassung heraus. Sandra Schwittau, die deutsche Stimme von Bart Simpson, setzt das Buch brilliant um. Sie gibt der Ich-Erzählerin Susan mit ihrer spröden Stimme gerade das richtige Maß an Unterkühltheit und analytischem Denken, Humor und Intelligenz.
Das Hörbuch inklusive einer Hörprobe finden Sie hier oder mit Klick aufs Bild. Es ist auf 9 CD’s verteilt und hat eine Laufzeit von ca. 707 Minuten.
Im Oktober 2015 las Peter Høeg im Hamburger Literaturhaus aus »Der Susan-Effekt« (Foto: Laila Mahfouz)
Es ist nicht leicht, »Der Susan-Effekt« einem Genre zuzuordnen, denn der Roman ist sowohl Thriller als auch Dystopie, Gesellschaftskritik und Familienportrait. Das Spiel mit dem wie immer gearteten „Unwahrscheinlichen“ ist dem Autor ausnehmend gut gelungen. Er verbindet eine Protagonistin mit dem faszinierenden Talent, auf andere wie eine Wahrheitsdroge zu wirken, mit einer düsteren Zukunftsprophezeiung, skrupellosen Mächtigen und den ganz realen Problemen, die wir auf diesem Planeten verursachen.
Eigentlich sind Susan und Laban Svendsen als Kulturbotschafter der Unesco in Indien unterwegs. Doch in welchen bizarren Verstrickungen sie und ihre Kinder sich im Auftakt des Romans befinden, lässt schon die Turbulenzen erahnen, die folgen werden. Während Susan wegen versuchten Mordes im Gefängnis sitzt, ihre Tochter Thit mit einem Priester des Kalitempels durchgebrannt ist, ihr Sohn Harald wegen Antiquitätenschmuggels an der Grenze zu Nepal verhaftet wurde, ist Laban mit einer Maharadscha-Tochter durchgebrannt. Um aus diesem Schlamassel ohne bleibende Imageschäden herauszukommen, braucht es Hilfe von außen und so ist Susan gezwungen, auf die Erpressung einzugehen. Sie versucht, die Unterlagen der sogenannten Zukunftskommission zu besorgen, deren Mitglieder zwischen 1972 und 1974 regelmäßig zusammenkamen und Erstaunliches vollbrachten: Sie konnten die Zukunft bemerkenswert exakt vorhersagen. Um welche Prophezeiung es sich handelt, bleibt lange unklar, sicher ist allerdings sofort, dass sie düster ist. Mehr soll an dieser Stelle zum Plot nicht verraten werden, um den Lesern die Spannung zu erhalten.
Mit der Experimentalphysikerin mit dem Susan-Effekt ist Peter Høeg wieder eine beeindruckende Protagonistin gelungen. Susan Svendsen ist sehr intelligent, analytisch und eigenwillig. Sie geht an alles wissenschaftlich heran, ist das Gegenteil von gefühlsduselig und in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Einzig in ihrer Mutterliebe unterscheidet Susan sich nicht von jeder anderen Mutter, obwohl sie diese Art der Zuneigung für eine „darwinistische Illusion“ hält, die entwickelt wurde, um die Nachwuchspflege sicherzustellen. Den Susan-Effekt sieht sie zwar als Phänomen an, andere wiederum sieht sie durchaus pragmatischer:
Angeblich gibt es Unmengen von Geschichten, aus Kunst und Religion und anderen unzuverlässigen Quellen, von Leuten, die das eine oder andere erlebt haben und zu irgendeinem Phänomen der Festkörperphysik erstarren. Ginge man der Empirie nach, würde man vermutlich entdecken, dass die Wirklichkeit hinter diesen Übertreibungen so aussieht, dass die Betreffenden einen Kuss bekommen haben. Einen von der unerwarteten und paralysierenden Sorte.
(Teil 1, Kapitel 24, Seite 147)
Auch die Nebenfiguren sind gelungen. Der Ehemann Laban Svendsen, ein berühmter Komponist, hat zwar wenig Ecken und Kanten, aber auch er löst den Susan-Effekt aus. Der Rest der Familie hat es in sich. Die Zwillinge haben das besondere Talent der Eltern geerbt und auf ihre Weise weiterentwickelt. Auch Susans Eltern, die Nachbarn, die Antagonisten, alle sind lebensecht und dreidimensional gezeichnet.
Ein Thema des Buches sind auch die Beziehungen innerhalb einer Familie. Susan, die als Tochter, Ehefrau und Mutter auftritt und dennoch immer unabhängig von diesen Begrifflichkeiten existiert, leidet unter der Gefühlskälte der Mutter, der Abwesenheit des Vaters, der Ruhmsucht des Ehemanns und der Unabhängigkeit der Kinder, doch sie teilt auch aus und verletzt andere oft, ohne es zu wollen, doch auch ohne es verhindern zu können. Peter Høeg gelingt hier ein Familienportrait, das auch vor schmerzhaften Wahrheiten nicht Halt macht.
Obwohl Susan in Peter Høegs Roman als Ich-Erzählerin auftritt, bleibt ihr Blick auf die Ereignisse distanziert. Auch wenn beim Leser keine große Sympathie für die Hauptperson entsteht, ist das Geschehen so spannend erzählt, dass es mitreißt. Der Autor schafft es, schreckliche, ja sogar grausame Szenen mit einer Prise Humor zu erzählen, der dem Roman eine besondere Würze gibt. So wird es auch für zartere Gemüter leicht, diese Teile der Geschichte zu schlucken.
Peter Høeg legt den Finger in die Wunden, die wir unserem Planeten geschlagen haben. Er gibt wie immer Denkanstöße, inspiriert zu eigenen Gedankenexperimenten und schleudert dem Leser am Ende des Romans die möglichen Konsequenzen unseres Tuns in einem Endzeit-Szenario entgegen. Dieser Roman ist Fiktion, die mit den Optionen spielen darf, dennoch ist er auch Wahrheit, denn hier geht es um die wirklichen Probleme unserer Zeit, die wir verursachen und die wir daher auch zu verantworten haben.
Europa ist eine Komfortzone. Wir leben in einem Kino, in dem auf allen vier Wänden Familienfilme gezeigt werden. Der Zusammenbruch gehört nicht der Zukunft an. Er hat schon angefangen. […] Das Ungleichgewicht ist noch nicht einmal anerkannt worden. […] Medien, die die Wahrheit kennen, sie aber nicht sagen können. Weil es kein Publikum dafür gibt. Weil das Problem nicht außerhalb von uns liegt. Das Problem sind wir selbst. Unser Überkonsum und unsere Verschuldung.
(Teil 1, Kapitel 36, Seite 234 + 235)
Wer nicht bereit ist, sich auf eine Geschichte einzulassen, in der Figuren bisher unbekannte Fähigkeiten besitzen[1], die Handlung turbulent, absurd und haarsträubend aufregend erzählt ist und dennoch erschreckend logisch und wirklich erscheint, sollte Romane des dänischen Autors meiden. Wer eine anspruchsvolle Lektüre bevorzugt und sich mit den Problemen dieser Welt auseinander setzen will, ist jedoch bei Peter Høeg richtig.
- Immer wieder tauchen in unserer Realität Phänomene auf. Sie bekommen einen Namen und werden erst damit "wirklich". Dann scheint es nach kurzer Zeit, als hätten wir von ihrer Existenz schon immer gewusst. Nur weil etwas noch keinen Namen hat, heißt es also nicht, dass es nicht existiert!
Obwohl der Roman schon in düsterer Stimmung beginnt und in Finsternis endet, lässt er doch die Hoffnung zu, dass wir noch nicht an diesem Punkt in unserer Geschichte stehen, dass wir noch einmal das Steuer herumreißen könnten, wenn… ja, wenn wir unsere Lebensweise nur endlich ändern würden. Wir wissen alle, dass die Ressourcen begrenzt sind und schränken uns dennoch nicht ein. Wachstum und Vermehrung bis zum Wahnsinn scheinen die höchsten Gebote zu sein. Fast scheint es, als hätten alle aus dem Brunnen mit dem verhexten Wasser getrunken, damit sie dem Irrsinn verfallen[2]. Jeder, der anders denkt, wird als Verrückter, als Verschwörungstheoretiker bezeichnet und das, obwohl die Nachrichten geradezu überlaufen von Fakten, die diese Theorien bestätigen.[3]
- Verweis auf Khalil Gibrans hellsichtigen Text »Der weise König«, den Sie hier. lesen können.
- Welche Machenschaften uns gerade jetzt während der EM 2016 untergejubelt werden sollen, werden wir in vollem Ausmaß wohl erst im August merken. Lassen wir uns von Brot und Spielen so sehr ablenken, dass wir nicht merken, wie die EU-Kommission Glyphosat doch noch zustimmt und damit Bayer und Monsanto die Türen öffnet oder Fracking auch in Deutschland erlaubt wird? Oder bleiben wir wachsam und lassen uns nicht einlullen von schönen Worten?
Fazit: Peter Høeg jongliert mit seinem Roman »Der Susan-Effekt« gekonnt mit Quantenphysik, Hellsichtigkeit, Weisheit, Humor, Spannung und Kapitalismuskritik. Er lässt die Protagonisten darüber nachdenken, wie mit besonderen Fähigkeiten umgegangen werden sollte und lässt beim Leser die Frage entstehen, wie wir alle mit unseren heutigen Fähigkeiten umgehen sollten. Missbrauchen wir sie nicht jeden Tag, statt sie ausschließlich gut und klug zu nutzen? »Der Susan-Effekt« ist eine gelungene, spannende und intensive Lektüre für alle, die auch gern einmal weiter denken wollen, als ihre Umgebung es ihnen normalerweise abverlangt.
Könnte man sagen, dass die Kommission, in Verbindung mit der Geldmacherei, auf eine Frage stieß? Nämlich wo die Grenze zwischen dem Gebrauch und dem Missbrauch eines besonderen Talents verläuft?
(Teil 2, Kapitel 2, Seite 272)
Peter Høegs Roman »Der Susan-Effekt« ist im Juli 2015 in einer Übersetzung von Peter Urban-Halle im Hanser Verlag erschienen – gebunden, 397 Seiten, EUR 21,90 – ISBN 978-3446249042.
Peter Høegs Roman »Der Susan-Effekt« ist im Juli 2015 als Hörbuch im Der Hörverlag auf 9 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 11 Stunden und 47 Minuten (707 Minuten) erschienen, EUR 21,99 – ISBN 978-3844519471 – ungekürzt gelesen von Sandra Schwittau.
Über den Autor: Peter Høeg, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor bei Kopenhagen. Er war Tänzer und Schauspieler, bevor er zu schreiben begann. Sein drittes Buch „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ wurde ein internationaler Bestseller, ist inzwischen in 17 Sprachen übersetzt und wurde 1997 von Bernd Eichinger verfilmt.
Peter Høeg – Selbstporträt: „Ich wurde 1957 in Kopenhagen geboren, … habe Vater und Mutter und Sommer auf dem Land gehabt, bin ewig auf die Schule gegangen und habe BAFöG und Sozialhilfe erhalten, hatte Gelegenheitsjobs und feste Arbeit. Und die Sicherheit, die es bedeutet, ein Däne und um diesen Zeitpunkt herum geboren zu sein, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass es möglich ist zu schreiben und einen großen Teil des Lebens für eine Art Entdeckungsreise in einem Grenzland zu verwenden.“
Über die Sprecherin: Sandra Schwittau, geboren 1969 in München, ist durch ihre markante Stimme bekannt. Erste Bühnenerfahrungen sammelte sie am Jungen Theater in Göttingen. Bereits als 7-Jährige sprach sie in vielen Filmen und Kinderserien, u. a. Peppermint Patty von den PEANUTS. Seit ihrer profesionellen Schauspielausbildung in München und New York synchronisiert Schwittau Hollywood-Stars wie Eva Mendes, Noomi Rapace und Hilary Swank. Den meisten Fernsehzuschauer ist sie wohl als die deutsche Stimme von Bart Simpson bekannt. Schwittau wirkte bei etlichen Hörspiel- und Hörbuchproduktionen mit. Für den Hörverlag las sie neben einigen Kinderhörbüchern bereits „Kein Kuss unter dieser Nummer“, „Cocktails für drei“ und „Das Hochzeitsversprechen“ von Sophie Kinsella.
Laila Mahfouz, 22. Juni 2016
Links:
Informationen zu Peter Høeg auf der Seite des Hörbuchverlages Der Hörverlag finden Sie hier.
Wer mehr in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Den Bericht zur Lesung in Hamburg im Oktober 2015 finden Sie hier. Die Fotostrecke zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Alle Fotos von Laila Mahfouz.
Informationen zu Peter Høeg und »Der Susan-Effekt« auf den Seiten des Hanser Verlages finden Sie hier. Hier finden Sie auch eventuell anstehende Lesungstermine.
Weitere Informationen zu Peter Høeg finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.