Håkan Nesser erzählt in seinem Roman »Elf Tage in Berlin« wie ein Mann, dem niemand viel zutraut, mit Sanftmut und Ruhe eine große Aufgabe bewältigt. Der für seine feinsinnigen Kriminalromane bekannte schwedische Autor erkundete für seinen frischen und humorvollen Roman die deutsche Hauptstadt und lässt seinen Protagonisten elf Tage in ihr herumwandern.
Handlung von der Verlagsseite übernommen: Einen Nobelpreis wird er wohl nicht bekommen. Arne Murberg ist von schlichterem Gemüt. Nach einem Badeunfall in der Kindheit hat er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und komplexere Zusammenhänge zu erfassen. Aber Arne ist ein warmherziger, liebenswerter Mensch, der sich eine kindlich naive, offene Art bewahrt hat und voll Vertrauen auf das Leben blickt. Als sein Vater ihm auf dem Totenbett offenbart, dass seine Mutter nicht tot ist, wie Arne geglaubt hat, sondern in Berlin lebt, und ihm gleichzeitig den Auftrag gibt, sie dort aufzusuchen und ihr ein verschlossenes Kästchen zu übergeben, beginnt für ihn ein wundersames Abenteuer.
Mit äußerst rudimentären Deutschkenntnissen und einem Paar strapazierfähiger gelber Schuhe macht Arne sich auf die Reise – und gerät schon bald in Schwierigkeiten. Doch ihm zur Seite stehen zwei Menschen, die der Himmel höchstpersönlich geschickt zu haben scheint: ein etwas wirrer Professor und eine kluge junge Frau im Rollstuhl [Beate Bittner]. Wird Arne seiner Mutter begegnen? Wird er sein Glück finden in Berlin?
Nachdem Håkan Nesser mit »Die Perspektive des Gärtners« New York und mit »Himmel über London« der britischen Hauptstadt gehuldigt hat, ist Berlin Handlungsort seines aktuellen Romans. Ausnahmsweise handelt es sich bei dem neuen Buch des schwedischen Bestseller-Autors nicht um einen Kriminalroman sondern um eine liebenswerte Geschichte über drei Außenseiter, die nicht ins Bild des Durchschnittsstädters passen. Deutsche Leser dürfen sich freuen über dieses Berlin, in dem sich Regen und Sonnenschein stetig abzuwechseln scheinen und diese Berliner, die Håkan Nessers Figurenkabinett in »Elf Tage in Berlin« durchwandern. Negative Seiten der Stadt entdeckt sein Protagonist Arne jedenfalls nicht und drückt seine neue Freiheit immer öfter mit dem berühmten Zitat »Isch bin ein Berliner« auf seine eigene Art aus.
Der Auftrag, den Arne Albin Hektor Murberg von seinem Vater erhält, wäre für jeden Menschen in seiner Situation eine große Aufgabe gewesen. Aber ganz gewiss dann, wenn man sich noch nie aus seinem gewohnten Lebensumfeld gewagt hat, sind ein Flug und eine Großstadt wie Berlin eine wirkliche Herausforderung. Auch der Umstand, dass der Vater Arne über den Tod der Mutter, Violetta Dufva, sein ganzes Leben lang belogen hat, ist sicher nicht leicht zu verdauen gewesen. Seit Arnes Unfall nimmt er die Welt und sich selbst anders wahr. Er ist in seinen Entscheidungen und Handlungen langsamer als andere. Dieser Umstand wird aufrechterhalten und bessert sich nie, da Arnes Mitmenschen ständig nur Rücksicht auf ihn nehmen und ihn niemals dazu auffordern, eine knifflige Situation allein zu meistern. Nun an seinem Sterbebett verlangt der Vater von ihm plötzlich diese Herkulesaufgabe. Keine leichte Sache, wenn es innerlich wie folgt aussieht:
»Es kam ihm vor, als wäre alle Luft aus ihm gewichen und als hätte sich eine dicke Schicht aus fetter Watte zwischen ihn und den Rest der Welt gelegt. Alles spielte sich irgendwie in Zeitlupe ab oder wurde abgebremst, sobald es in seinen Schädel kam.« Vorspiel 1, Kapitel 3, Seite 33
Arne glaubt sich allerdings bestens vorbereitet. Sein Onkel Lennart hat ihm etwas Deutsch beigebracht und für den Fall der Ratlosigkeit steht ihm Perry Mason zur Seite, denn diesen kann Arne jederzeit in seinem Kopf zu Rate ziehen. In Berlin angekommen, findet er sich Dank eines Stadtplans und seiner ruhigen Art relativ gut zurecht. Die Menschen sind freundlich und hilfsbereit und er glaubt sich auf dem besten Wege, seinen Auftrag zu erfüllen. Nur die Bekanntschaft mit zu vielen Gläsern deutschen Bieres, vor dessen Genuss sein Onkel ihn eingehend gewarnt hatte, wirft ihn etwas in seinem Zeitplan zurück. Dass allerdings auch unschöne Dinge gut enden, weiß er spätestens seit ihm seine Schuhe gestohlen wurden und er sich selbst mit dem schönsten gelben Schuhpaar der Welt beschenkt hat. Es liegt klar auf der Hand, dass sein behütetes Dasein dazu geführt hat, dass seine Gehirnleistungen auf ein Minimum heruntergefahren wurden. Was ihm bisher gefehlt hatte, war eine Aufgabe wie diese.
»[…] er war wirklich nicht daran gewöhnt, derart wichtige Dinge zu erledigen, aber andererseits hatte er auch das Gefühl, dass bisher niemand seine volle Kapazität in Anspruch genommen hatte. Meine volle Kapazität? dachte er, als er aus der Dusche stieg und sich mit einem der großen gelben Handtücher abtrocknete. Was für Worte auf einmal in meinem Hirn Platz finden. Das liegt natürlich daran, dass ich nie wirklich die Chance dazu bekommen habe. Ich bin zwar langsam, aber nicht so dumm, wie die Leute glauben. Ganz und gar nicht.« Der zweite Tag, Kapitel 1, Seite 128
Es ist schön, dass der Hörverlag »Elf Tage in Berlin« als ungekürzte Lesung herausgebracht hat. Gelesen wird das Hörbuch von Dietmar Bär, der auch schon weitere Bücher von Håkan Nesser vertont hat und ihn zu Lesungen in Deutschland häufig als Vorlesender begleitet. Der Schauspieler gilt seit Jahren als deutsche Stimme von Håkan Nesser. Er liest das Buch wirklich wunderbar einfühlsam und humorvoll. Mit seiner warmen Stimme verleiht er den verschiedenen Personen in all ihren Facetten einzigartige Präsenz. Der Professor klingt allerdings verdächtig wie ein gewisser Literaturkritiker… Ich kann das Hörbuch unbedingt empfehlen. (Weitere Angaben finden Sie unten.)
Wie Håkan Nesser ankündigte, soll »Elf Tage in Berlin« sein vorletztes Buch sein, obwohl er noch nicht sicher ist, ob er danach wirklich den Stift aus der Hand legen kann. Seine Leser auf der ganzen Welt, zu denen ich mich jetzt auch zählen kann, würden sich sicher freuen, wenn er seine Entscheidung rückgängig machte.
Beate Bittner: Die wunderbare Geschichte um Beate Bittner von ihrer Geburt bis zum bisher schwersten Verlust in ihrem Leben war so schön, so packend, zu lesen, dass ich sehr traurig war, danach nichts mehr über Beate und ihr Leben zu erfahren. Zum Glück für Arne hat sie einmal Schwedisch gelernt, damit sie ihr Lieblingsbuch »Die Brüder Löwenherz« im Original lesen kann. Auch aufgrund ihres messerscharfen Verstandes ist sie Arne eine unschätzbare Hilfe.
Beate Bittner ist wie geschaffen dazu, eine Romanheldin zu sein, so dass ich insgeheim hoffe, Håkan Nesser möge diese Meinung teilen und ihr einen eigenen Roman widmen. Ich möchte zu ihrer Geschichte nicht mehr verraten, weil ich niemandem den Genuß des Selbstlesens nehmen will.
Professor Anatolis Litvinas: Der Professor hatte nach dem mysteriösen Verschwinden seiner Frau ein weltveränderndes Experiment in Auerbachs Keller geplant, das allerdings gründlich daneben ging, so dass er die nächsten Jahre im Majoren-Institut für geistig Kranke verbringen musste. Als der Professor für Astronomie, Quantenphysik und Numerologie eine neue Chance in der Außenwelt erhält, gibt er sich demütig, plant aber bereits, sein Experiment fortzusetzen, sobald er einen geeigneten Assistenten gefunden hat. Wer sich als solcher bestens eignet, lässt sich erahnen…
Mit Arne Murberg ist Håkan Nesser ein wunderbar naiver und liebenswerter Charakter gelungen, den man sofort ins Herz schließt. Anfangs erscheint das Buch mit Beschreibungen von Arnes Mahlzeiten etwas überfrachtet, doch schon bald merkt man, dass Arne seine Selbstständigkeit feiert, wenn er dazu in der Lage ist, solche Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Es ist schön zu lesen, wie er nach und nach über sich hinauswächst und die Beschreibungen seiner Gedanken und Gefühle erzeugen einen Sog, dem man sich nicht entziehen mag. Wer nun denkt, dass es sich bei »Elf Tage in Berlin« um eine »Hans-im-Glück«-Geschichte handeln könnte, wird durch die immer größer werdende Nebenhandlung überrascht. Mehr über diese zu verraten, wäre nicht fair, doch Håkan Nesser macht seinen Roman damit noch mehr zu einem philosophischen, spirituellen Werk, in dem die ewige Wahrheit aufgezeigt wird, dass alles mit allem zusammenhängt. Mir hat diese Mischung sehr gut gefallen, absolute Materialisten könnten daran allerdings Anstoß nehmen.
Wer der schwedischen Sprache mächtig ist, freut sich vielleicht, hier einen Ausschnitt aus einer Lesung von Håkan Nessers Roman »Elf Tage in Berlin« / »Elva dagar i Berlin« zu finden.
Nicht unerwähnt möchte ich auch den Humor lassen. Die teilweise umwerfende Komik ergibt sich nicht nur aus Arnes begrenzten Sprachkenntnissen: wie er Evert Taube kennenlernt oder sich mit Perry Mason betrinkt, ist einfach großartig geschrieben und lässt laut auflachen.
Die langsame Erzählweise passt sich dem Protagonisten Arne Murberg an und ist in unserer schnelllebigen Zeit geradezu erfrischend. Nachdem Arne sein Handy verliert und durch die besorgten Fragen seines Onkels nicht mehr von seiner Mission abgelenkt wird, kann man sie beinahe meditativ nennen. Trotz der Untergliederung des Buches in elf Tage erscheint Arnes Weg fast zeitlos. Wie er jedem seiner Schritte die volle Aufmerksamkeit zuteil werden lässt, ihn auch unvorhergesehene Ereignisse nicht aus der Bahn werfen, er sich an kleinen Erfolgen erfreut und über kleine Ärgernisse schnell hinwegkommt, ist beruhigend. Eventuell kann dies auch beim Leser zu einem entspannteren Umgang mit der Zeit führen.
»Aber so war das im Leben, das wusste Arne Murberg. Es herrschte niemals Ruhe und Frieden, ständig tauchten Schwierigkeiten auf, die behoben werden mussten, große und kleine, einfache und kompliziertere. Vor allem, wenn man sich an fremde Orte in weiter Ferne begab.« Der zweite Tag, Kapitel 3, Seite 149
Fazit: Håkan Nessers Roman »Elf Tage in Berlin« war eine wahre Wohltat. Es ist die humorvoll erzählte Reise eines naiven Sonderlings ins Ungewisse und es enthält unzählige schöne Momente, Bilder, die sich eingraben ins Lesergehirn. Es verdeutlicht auf leichte Art, wie wichtig es ist, sich selbst etwas zuzutrauen und dem Leben die Stirn zu bieten. Auch zeigt es, wie freundlich die Welt uns empfängt, wenn wir ihr freundlich entgegen treten. Lebensweise, spannend, rührend, doch nie kitschig – mehr davon!
Håkan Nessers Roman »Elf Tage in Berlin« ist im November 2015 im btb Verlag erschienen – gebunden, 381 Seiten, EUR 18,00, ISBN 978-3442754939, übersetzt von Paul Berf (Originaltitel: »Elva dagar i Berlin«).
Håkan Nessers Roman »Elf Tage in Berlin« ist im November 2015 im der Hörverlag erschienen, EUR 17,99, ungekürzte Lesung von Dietmar Bär, 1 mp3-CD, Laufzeit: 7h 58 min, ISBN 978-3844520637.
Über den Autor: Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. „Lesen ist großartig, aber schreiben ist vielleicht noch großartiger“, sagte Håkan Nesser einmal. Den deutschen Lesern ist er besonders durch die Reihe mit Kommissar Van Veeteren bekannt sowie durch die „Gunnar-Barbarotti“-Krimis. In Schweden sind seine Werke so anerkannt, dass zwei seiner Bücher zu Schulliteratur wurden: „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ sowie „Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla“. Das freut den Autor besonders, weil er bis 1998 als Lehrer tätig war. Der 1950 in der schwedischen Gemeinde Kumla geborene Schriftsteller hat Soziologie, Englisch, Literaturgeschichte, Skandinavistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Uppsala studiert und Englisch und Schwedisch unterrichtet. Er lebt heute mit seiner Familie in London und auf Gotland. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.
Laila Mahfouz, 25. Februar 2016
Links:
Die deutsche Website von Håkan Nesser finden Sie hier.
Informationen zu Håkan Nesser auf der Seite des btb Verlages
Weitere Informationen zu Håkan Nesser finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz