Emma Hooper erzählt in ihrem Roman »Etta und Otto und Russell und James« vom Aufbruch ins Ungewisse, von lang gehegten Träumen und dass es für deren Umsetzung nie zu spät ist. Das Romandebüt der kanadischen Musikerin wurde noch vor seiner Veröffentlichung 2015 in 23 Länder verkauft und bezaubert Leser und Leserinnen weltweit.
Handlung von der Verlagsseite übernommen: Die 83jährige Etta hat noch nie das Meer gesehen. Mit etwas Schokolade, Wanderschuhen und einem Gewehr macht sie sich daher auf den 3.232 Kilometer langen Weg an die Ostküste Kanadas. Ihr Mann Otto lässt sie ziehen – trotz aller Sorge. Er ist vor vielen Jahren selbst zu einer großen Reise aufgebrochen, um in einem fernen Land zu kämpfen. Ihr gemeinsamer Freund Russell hingegen will Etta zurückholen und verlässt zum ersten Mal in seinem Leben die heimische Farm.
Auf ihrer Wanderung trifft Etta den Kojoten James, der sie durch das staubtrockene Land begleitet. Je näher Etta der Küste kommt, desto lebendiger werden die Erinnerungen der drei alten Freunde – Erinnerungen an die gemeinsame Jugend, an Zeiten des Krieges, an Hoffnungen und versteckte Gefühle, aber auch an Erfahrungen, die sie nicht miteinander geteilt haben.
Und wie lange sind Sie jetzt schon unterwegs? fragte die Frau […]
Schon seit vor dem Spinat, sagte Etta.
Etta: Etta ist von jeher ein phantasievolles Wesen. Sie weiß, was sie will und ist die stärkste Figur des Romans. Ihr Charakter zeichnet sich außerdem durch große Natürlichkeit und spirituelle Offenheit aus. Ein (selbstverständlich!) mit ihr sprechender Kojote, der sie ein Stück ihres Lebens begleitet, und ein französisch sprechender Fischschädel, den Etta seit ihrer Kindheit für alle Fragen des Lebens in ihrer Tasche versteckt, sind nur zwei der magischen Elemente. Etta und der Kojote James halten sich auf ihrer Wanderung zum Meer von menschlichen Siedlungen möglichst fern, denn je mehr sie in der Wildnis unterwegs sind, desto fremder und seltsamer erscheinen ihnen die Menschen, die sonderbare Ziele verfolgen und sich durch ihre Zwänge die Freiheit nehmen lassen. Überall besingen sie Ettas Wanderung, ihren Mut, aber wirkliches Verstehen findet sie bei ihnen nicht.
Etta […] hielt sich die Hände mit den Fäustlingen an die Ohren, um herauszufinden,
ob sie die Fischschädel hören konnte.
Sie wollte wissen, ob die Haut an ihren Händen ausreichte, um sie aufzuwecken und zum Sprechen zu bringen. Und obwohl der Wind an diesem Tag laut heulte, war da etwas, wenn Etta ihre Haut stark genug an die Schädel unter der Wolle drückte. Ein Flüstern.
Otto: Ein unsteter Unternehmungsgeist trieb Otto schon in sehr jungen Jahren dazu, in den Krieg zu ziehen. Diese schrecklichen Erinnerungen, die ihn in Albträumen heimsuchen, haben seine Reiselust ein für allemal getötet. Ettas Wanderung geht er nur auf dem Globus nach und schickt ihr Briefe, die wieder zu ihm zurückkommen und die er für Etta sammelt. Nach und nach probiert er Ettas Rezepte aus, wie zum Beispiel die für kanadische Zimtschnecken / Cinneman Buns oder Flachsblüten für traumlosen Schlaf, die vollständig im Buch abgedruckt sind.
Am schönsten aber ist die Beschreibung von Ottos neu entdeckter Kreativität, über die ich nicht mehr verraten möchte. Ich konnte mir diese Werke sehr gut vorstellen, eingetaucht ins goldene Licht des Sonnenaufgangs – dafür bin ich der Autorin sehr dankbar. Und dies ist nur eine der wunderschönen Ideen!
Der Morgen kam vor dem Morgen. Er kam mit einem Licht, das nicht die Sonne war, und schnell und laut und mit einer Hand, die auf Ottos Zelt, auf das Segeltuch niederging und auf ihn fiel und die Zeltwand mit der Handfläche niederdrückte, so dass Otto sich wegrollen und aufspringen und sich dem Gewicht entgegenstemmen musste, um es aufzuhalten, und dann hinaus in das helle Nichtsonnenlicht und den Nichtmorgenlärm, hektisch in die Stiefel und dem Gewoge der anderen hinterher, über die Felsen und zum Meer hinunter, wo vor dem Wasser ein Meer von Männern war, überall, überall, wabernd und wachsend, so dass der Streifen zwischen Meer und Land verschwamm, verschwand, nur noch aus Körpern bestand, und weil alles schrie, schrie Otto auch, und bis zu den Knöcheln, den Knien, den Hüften im Wasser […] tiefer, tiefer, tiefer, tiefer und das Wasser wärmer als erwartet, rhythmisch, und immer noch geht ihm das Lied im Kopf herum, und das Wasser ist immer noch schwarz, weil die Sonne gerade erst aufzugehen beginnt […]
Russell: Der stille, kluge und nachdenkliche Russell ist Ottos bester Freund und verliebt sich auf den ersten Blick in Etta – im Gegensatz zu Otto, Ettas späterem Ehemann. Russell bleibt seiner ersten Liebe ein Leben lang treu und erst Ettas Aufbruch reißt ihn aus seiner Lethargie. Er ist ein besonders liebenswerter Charakter, der sich so schnell nicht vergessen lässt. Es ist schade, dass die Teile über Russell so kurz geraten sind, denn er entwickelte sich rasch zu einer meiner Lieblingsfiguren.
James oder Die Bedeutung des Kojoten: Tatsächlich las ich in einer anderen Besprechung dieses Buches in etwa Folgendes: Der Roman »Etta und Otto und Russell und James« ist eine […] Geschichte über drei besondere Menschen […]
Diese Ignoranz gegenüber seiner Person wird Old Man Coyote, wie ihn die Native Americans liebevoll nennen, nicht gefallen haben. Emma Hooper hat die Figur des James nicht zufällig gewählt, nein, er ist ein ganz entscheidender Faktor, denn mit einem Kojoten ist alles möglich, kann alles geschehen. Der Kojote hat eine ganz zentrale Bedeutung in der indianischen Mythologie. Der Kojote ist auch als Omen für Unglück bekannt. (Ist es da verwunderlich, dass er das erste Mal im Buch auftaucht, als Russell verunglückt…?) Die Navajos sagen, wenn Kojote deinen Weg kreuzt, kehre um und setze deine Reise nicht fort. Etta schlägt solche Warnungen in den Wind. Sie hält am Kojoten als Weggefährten fest, selbst als er zeitweise nicht gehen kann.
Mehr zum Kojoten als Symbol finden Sie hier und hier, leider nur in englischer Sprache.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, leckte ihr ein Kojote die Füße.
Die Socken waren abgerutscht, die Füße bluteten nicht mehr.
Hallo, sagte Etta, ohne sich aufzusetzen. Sie wollte nicht stören. Hilfst du mir oder frisst du mich? […]
Der Kojote blieb bei ihr […] Er folgte ihr bis an den Rand einer Stadt und in die Stadt hinein […] und betrat gemeinsam mit ihr ein Sportgeschäft im Zentrum.
Hunde sind nicht erlaubt, sagte der Verkäufer […]
Er gehört nicht mir, sagte Etta.
Aber er ist mit Ihnen reingekommen.
Ja, aber er gehört mir nicht.
Tja, sagte der Verkäufer.
Tja, sagte Etta.
Der Verkäufer ging auf den Kojoten zu. Raus hier! Hau ab! Der Kojote blieb.
Er fletschte die oberen Zähne. […] Der Verkäufer wich zurück […]
So blieb der Kojote und sah zu, wie Etta die vielen Reihen mit nichts als weißen Turnschuhen abging und schließlich ein Paar kaufte.
In dieser Nacht fraß James Etta nicht auf, sondern schlief ein Stück von ihren Füßen entfernt.
Am nächsten Morgen […] machten sie sich auf den Weg. Nach Osten, immer nach Osten.
Komm, James, sagte Etta.
Ich komm ja schon, sagte James.
Wirst du mich auf der ganzen Reise begleiten?
Mal sehen.
Der Kojote gilt als kraftvolles allerdings auch als sehr schwieriges Totem, da er immer wieder versucht, alle anderen auszutricksen. Auf jeden Fall ist der Kojote aber als mächtiger Magier bekannt, der die Weltenordnung erhält, ob dies in seiner Absicht liegt oder nicht. Auch Emma Hoopers Kojote, James, hilft Etta, ihren Weg zu finden. Mit seinem Auftauchen öffnet das Buch sich vollends der Magie. Außerdem würzt James den Roman mit seinem prächtigen Humor.
Nebenfiguren: All die anderen Personen wie beispielsweise Ettas Schwester Alma, Ottos Schwester Winnie, Owen, Lucy Perkins oder die Journalistin Bryony, die erst durch Etta merkt, wie unfrei sie ist, sind so plastisch beschrieben, dass man sich beim Lesen wünscht, von ihren Geschichten ebenfalls mehr zu erfahren. So gelungen und interessant habe ich Nebenfiguren schon lange nicht mehr erlebt.
Zur Übersetzung: Wieder einmal liegt mir der Roman auch in der Originalfassung vor und an Stellen, die für mich holperig klangen oder sprachlich langweilig, habe ich parallel einen Blick in den englischen Text geworfen. Leider, leider muss ich daher wieder einmal die Übersetzung kritisieren! Ich hoffe, dass ich eines Tages damit beim Verlag offene Türen einrenne und in Zukunft mehr Sorgfalt und Zeit auf die Übersetzung solch wunderbarer Texte verwendet wird. Natürlich sollte man einen Text an die jeweilige Sprache anpassen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Aufgabe eines Übersetzers darin besteht, den Stil, den Sound, die Emotionen eines Textes beizubehalten und in die andere Sprache zu übertragen. Nicht aber sollte der Übersetzer willkürlich mit einem Text umgehen! Der Autor ist den Übersetzungen hilflos ausgeliefert, weil er der Sprache in den meisten Fällen nicht mächtig ist und ohnehin wenig bis keinen Einfluss darauf hat. Die Verlage sind es ihm schuldig, mit seinem Text sorgfältig und behutsam umzugehen. Wenn dem Leser nur die deutsche Übersetzung vorliegt, beurteilt er eventuell die Sprache eines Autors als banal oder fad, nur weil die Übersetzung jeder sprachlichen Finesse entbehrt. Dies ist besonders fatal bei einem Erstlingswerk wie dem vorliegenden.
Hier ein Beispiel für einen missglückten Abschnitt:
They sat on the floor, in the middle of the living room, and listened to the low, steady voice of the CBC overseas report, looking straight ahead, not at each other, Russell growing colder and colder with each image the radio voice threw out at them, Otto growing hotter and hotter, while Russell’s uncle made them coffee in the next room.
Sie setzten sich auf den Wohnzimmerboden und lauschten mit starrem Blick, ohne einander anzusehen, den von leiser, sonorer Stimme verlesenen CBC-Auslandsberichten. Mit jeder Meldung, die die Radiostimme ihnen entgegenschleuderte, wurde es Russell kälter und Otto heißer. Russells Onkel kochte ihnen derweil im Nebenzimmer Kaffee.
Wie denen, die der englischen Sprache mächtig sind, aufgefallen sein muss, fehlen nicht nur Informationen in diesem Absatz, die Übersetzung raubt dem Text Rhythmus / Sprachmelodie, ja, Poesie. Für diese lyrische Prosa, wie sie Emma Hooper verfasst, ist die Übersetzung absolut ungeeignet! Emma Hooper ist Musikerin und Songschreiberin – in der Originalversion ist die Musikalität der Sprache immer spürbar. Sie hat einen ganz eigenen Rhythmus und wie sie in einem Interview erklärte, hat sie sogar den Titel des Romans aufgrund seines Singsangs gewählt. Kleinigkeiten, wie das aus »Ne me mange pas.« in der deutschen Fassung plötzlich »Ne me mangez pas.« wird, könnten noch übersehen werden. Wenn aber ein ganzer Liedtext weder übersetzt noch überhaupt mitgedruckt wird, dann ist das mehr als eine Unachtsamkeit und die deutsche Fassung schon aufgrund dessen gekürzt zu nennen, wäre richtig, denn vollständig ist sie, meiner Meinung nach, nun nicht mehr… Das Lied, das in der deutschen Fassung auf Seite 295 erwähnt wird, ist in der englischen Fassung komplett abgedruckt. Warum wurde es weggelassen? Es handelt sich hierbei schließlich sogar um eine der Schlüsselszenen des Romans.
Hier ein Videointerview mit Emma Hooper zu »Etta und Otto und Russell und James«:
Die Handlung des Romans ist nicht chronologisch erzählt, dennoch war dies für mich nie verwirrend. Im Gegenteil, gerade die episodenhafte Erzählweise entwickelte Spannung und einen gewissen Sog. Teilweise besteht der Roman aus Briefen, dann wieder schwenkt er zwischen Ettas Wanderung und Ottos Zurückbleiben mit Beschäftigungstherapie hin und her. Dazwischen gibt es immer wieder Rückblenden in die Kindheit von Etta und Otto und Russell und in die Erinnungen an Ottos Kriegseinsatz. Die Kapitel haben daher sehr unterschiedliche Längen. Ich empfand gerade diese Abwechslung als erfrischend.
Fazit: Emma Hoopers poetisches Romandebüt »Etta und Otto und Russell und James« ist für alle Leser zwischen 20 und 100 Jahren geeignet. Allzu gern tauchte ich ein in diese Welt von Etta und Otto und Russell und ließ mich von James, dem großen Trickster verzaubern – von mir aus hätte der Roman gern noch weiter und immer weiter gehen können. Eine Geschichte, erfüllt von leuchtender Klarheit und magischen Momenten. Weise, bezaubernd, humorvoll: empfehlenswert! Emma Hooper ist eine Autorin mit einer ganz besonderen Sprache – daher hoffe ich, sie lässt uns nicht lange auf einen Folgeroman warten.
(Wer die Möglichkeit hat, sollte versuchen, den Roman im Original zu lesen. Trauen Sie sich – es ist kein besonders schwieriger Text, wie das obige Beispiel zeigt. Ich verspreche auf jeden Fall eine Genusssteigerung!)
Emma Hoopers Roman »Etta und Otto und Russell und James« ist im September 2015 im Droemer Verlag erschienen – gebunden, 333 Seiten, EUR 19,99, ISBN 978-3426281086, übersetzt von Michaela Grabinger (Originaltitel: »Etta and Otto and Russell and James«).
»Etta and Otto and Russell and James« von Emma Hooper, Penguin Verlag – Taschenbuch, 288 Seiten, EUR 9,90, ISBN 978-0241003343.
Über die Autorin: Emma Hooper, Anfang dreißig, geboren in Alberta/Kanada, hat in England studiert und in „Musico-Literary Studies“ promoviert. Derzeit arbeitet sie als Dozentin an der Bath Spa University. Emma Hooper schreibt Kurzgeschichten und Librettos, sie spielt Viola im „Stringbeans Quartett“ und tritt als Solokünstlerin „Waitress for the Bees“ auf. Mit musikalischen Größen wie Peter Gabriel hat sie bereits auf der Bühne gestanden. „Etta und Otto und Russell und James“ ist ihr erster Roman. Emma Hooper ist verheiratet und lebt in Bath.
Laila Mahfouz, 23. Februar 2016
Links:
Die Website von Emma Hooper finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Emma Hooper auf der Seite des Droemer Verlages
Einen lobenden Artikel des Guardian finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz