Valerie Fritschs Roman »Winters Garten« schaffte es verdient auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2015. Die vom Autor Clemens J. Setz an seine Lektorin Doris Plöschberger vom Suhrkamp Verlag empfohlene Autorin legt einen Endzeit-Roman vor, dessen poetische, bildhafte Sprache ebenso verzaubert wie erschüttert.
Text vom Buchumschlag: Eine Gartenkolonie weit jenseits der Stadt. Eine Welt, die aus den Fugen gerät. Und zwei Menschen, die sich unsterblich ineinander verlieben, als die Gegenwart nichts mehr verspricht und die Zukunft womöglich ein Traum bleiben muss.
Im ersten Kapitel wird die Kindheit des Protagonisten Anton Winter im idyllischen Gartenparadies beschrieben, das er jeden Tag in allen Einzelheiten entdecken konnte und lieben lernte, die Kinder der Gartenkolonie, mit denen er spielte und die allgegenwärtigen Alten, die auf die Kinder achteten, während die Elterngeneration teilweise in der eine Stunde entfernten Stadt arbeiteten. Wie intensiv das Leben eines Kindes empfunden wird, so dass jeder Tag wie eine Welt scheint, steht im starken Kontrast zu der später im Leben dahinrasenden Zeit. Die Stadt am Meer wirkt in Antons Kindheit wie ein Mythos, ein legendenhafter Ort, denn Antons Kosmos ist der Garten, in dem seine Großeltern die zentralen Planeten sind, um die sein Leben kreist. Obwohl sein Bruder ihm Gefährte und Vertrauter ist und Anton auch mit anderen Kindern spielt, bleibt er ein verschlossener Einzelgänger, der einen seltsam mitleidlosen Eindruck macht. Er nimmt die Welt wie sie ist, ohne sich von Emotionen in seiner Entdeckerleidenschaft stören zu lassen.
»Selbst am Nachmittag, wenn die anderen Kinder unwillig und zappelig in den Betten lagen und es nicht erwarten konnten, wieder hinauszustürmen, hatte er gewartet auf diesen nomadischen Schlaf, der sich herumtrieb im Land, mal den einen, mal den anderen überkam, mal hierhin und mal dorthin führte und ihn, wenn er Glück hatte, träumen ließ von den Königen der Großmutter, die tags durch dunkle Lande zogen und sich abends in ihren Spielkarten schlafen legten, die Kronen fest ins Haar gedrückt.«
»Den Kindern schien es, als wären sie in den Brutkästen der Nacht ein Stückchen größer geworden und müssten nun hineinwachsen in die Welt und die Glieder strecken, als gingen die Körper auf wie verklebte Blüten mit dem ersten Licht.«
Zum zweiten Kapitel erfolgt ein Zeitsprung. Aus dem stillen Jungen ist ein einsamer junger Mann geworden, der inzwischen in der Stadt am Meer lebt, auf dem Dachgarten eines Hochhauses Vögel züchtet und schon viele Jahre den Garten seiner Kindheit nicht mehr betreten hat. Mit dem Tod seiner Großeltern, die ihm vertrauter und wichtiger als seine Eltern waren, wurde der Garten gleichsam zu einem vergangenen Ort. Die Autorin Valerie Fritsch hat eine innige Beziehung zu ihrer Großmutter, die in Graz im Haus gegenüber lebt. Das Verhältnis Anton Winters zu seiner Großmutter ist daher auch besonders eindringlich beschrieben.
»An Tagen, an denen niemand Zeit hatte für die beiden, saßen die alten Menschen still wie Lampen im Schlafzimmer und leuchteten im Abendlicht unter ihrer Pergamenthaut.«
»Sie träumten vom Tod wie von einer künftigen Tatsache und wollten sterben, wenn die letzten Blätter von den Bäumen fielen oder winters das Haus einschneite und der Schnee durch die Fenster stöbe. […] Oft in Antons Kindheit starben die Alten tatsächlich im Herbst, wenn das Land kahl und verletzlich wurde, so als wären sie Früchte, die schlussendlich geerntet und mitgenommen wurden.«
In Winters Garten war der Rhythmus des Lebens durch die Natur bestimmt. Die Verstorbenen wurden im Garten beerdigt und schlossen so den Kreislauf des Lebens. In Antons späterem Leben sind die vormals geltenden Regeln auf den Kopf gestellt. Alle scheinen zu wissen, dass die Welt untergeht und der Menschheit nur noch wenig Zeit bleibt. Die Autorin lässt die Ursache des Zusammenbruches offen und so bleibt es dem Leser überlassen, sich Fragen zu stellen und Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. Während zu Massenselbstmorden aufgerufen wird und die Straßen von Leichen fast schon gepflastert sind, beobachtet Anton Winter von seiner Dachwohnung aus scheinbar unberührt, wie die Städter nach und nach vor Angst und Verzweiflung wahnsinnig werden. Er nimmt all das fast teilnahmslos wahr. Er beobachtet es wie die Entdeckungen, die er als Kind im Garten gemacht hat.
Eines Tages inmitten von Krankheit, Schmerz und Tod verliebt Anton sich zum ersten Mal. Dass Frederike und er ein Paar werden und gemeinsam versuchen, sich dem Unaufhaltsamen in den Weg zu stellen, ist ebenso rührend wie erschütternd. Erstmals nimmt Anton Anteil, wird ein Teil der Gesellschaft und versucht zu tun, was getan werden muss. Frederike und er arbeiten in einem der letzten Krankenhäuser, das fast nur noch Geburts- und Todeshaus ist. Anton, den der Tod schon immer begleitet und fasziniert hat, wird auf diese Weise mehr denn je Teil des Verfalls und des Abschieds vom Leben.
Durch eine glückliche Fügung trifft Anton seinen Bruder wieder, zu dem er seit Jahren keinen Kontakt gehabt hatte. Die kleine Gruppe macht sich eines Tages auf, um in den Garten zurückzukehren. Auch wenn der Herbst eine üppige Ernte schenkt, ist die Wiederbelebung der Erinnerung nicht von Dauer und zum Zerfall verurteilt.
Hier liest Valerie Fritsch »Zehn Seiten« aus ihrem Roman »Winters Garten«:
Valerie Fritschs Roman lebt vom Dualismus: Das idyllische Landleben steht im starken Kontrast zum Leben in der viel temporeicheren Stadt. Auch steht Antons Kindheit, in der die Welt so überaus in Ordnung und behütet war, dem Wahnsinn der Zerstörung gegenüber, der nun die Welt überkommen hat. Die emotionale Frederike, die an jedem kleinsten Leid Anteil nimmt, ist das Gegenteil des gleichgültig scheinenden Anton. Im Gegensatz zum sonnigen Anfang des Romans, in dem die Autorin den Garten riech- und schmeckbar macht, ist das unausweichliche Ende eiskalt und unerbittlich. Valerie Fritsch blickt auf diese Welt aus den Fugen ein wenig mit Antons Augen und zeichnet den Weltuntergang wie eine Chronistin auf.
Dass die 26-jährige Grazer Autorin auch eine Fotokünstlerin ist, wird in ihrem neuen Roman sehr deutlich spürbar. Die starken Sprachbilder lösen einander in so rascher Folge ab, dass sie fast schwindelig machen. Wenn die Kinder im Sommer Herbarien anlegen, um beim Durchblättern im kalten Winter die Wärme des Sommers spüren zu können, wenn die Kelche der Lilien ans Ohr gehalten werden wie Grammophone, wenn die Alten dem warmen Sonnenlicht folgend den ganzen Tag mit ihren Stühlen durch den Garten ziehen, wird klar, dass die poetische Sprache in Valerie Fritschs Roman ebenso blüht, wuchert, leuchtet, wie die Pflanzen in Anton Winters Kindheitserinnerungen.
Fazit: In »Winters Garten« schafft Valerie Fritsch, dem Leser nach der nur 150-seitigen Lektüre den Eindruck zu vermitteln, einen sehr langen Roman gelesen zu haben. Durch die Eindringlichkeit der mit scheinbar leichter Hand gezeichneten Bilder reichen wenige Worte aus. Ich kann das Buch allen empfehlen, die eine melancholische Ader haben und denen die Schönheit des Vergehens nicht verborgen bleibt. Depressiven rate ich von der Lektüre ab. Mich hat die poetische Sprache sehr beeindruckt – selten las ich den Tod so schön!
Valerie Fritschs Roman »Winters Garten« ist im März 2015 im Suhrkamp Verlag erschienen – gebunden, 154 Seiten, EUR 16,95, ISBN 978-3518424711.
Über die Autorin: Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Photokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. Publikationen in Literaturmagazinen und Anthologien sowie im Rundfunk. 2011 erschien ihr Debütroman »Die VerkörperungEN« bei Leykam. Sie lebt in Graz und Wien.
Laila Mahfouz, 2. Dezember 2015
Links:
Die Website von Valerie Fritsch finden Sie hier.
Die Facebook-Seite von Valerie Fritsch finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Valerie Fritsch auf der Seite des Suhrkamp Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
Informationen zu Laila Mahfouz