Harbour Front Literaturfestival am 15. September 2015: Kazuo Ishiguro – ein Meister des Erzählens – präsentierte in Hamburg seinen aktuellen und zehn Jahre sehnlichst erwarteten Roman »Der begrabene Riese«. Worum es geht, was die Literaturszene empört und warum der Roman unbedingt zu empfehlen ist, lesen Sie bei uns.
Handlung des Romans: Britannien im 5. Jahrhundert: Nach erbitterten Kriegen zwischen den Volksstämmen der Briten und Angelsachsen hat sich ein Nebel des Vergessens über das Land gelegt. Die Völker leben in Frieden miteinander, doch das Land ist verwüstet.
Die alten Eheleute Axl und Beatrice werden in ihrem Dorf als Außenseiter betrachtet. Irgendwann fassen sie den Entschluss, ihren Sohn aufzusuchen, der vor langer Zeit das Dorf verlassen hat und an den sie sich auch nur noch vage erinnern können. Auf ihrer gefahrvollen Reise begegnen sie einem Ritter, einem Drachen, Kämpfern, Mönchen, Kobolden und Menschenfressern und immer wieder dem Nebel, der sich an einigen Stellen zu lichten beginnt. Während Beatrice die Rückkehr ihrer Erinnerungen nicht erwarten kann, fürchtet sich Axl mehr und mehr vor ihnen.
Kazuo Ishiguro hat es einmal mehr geschafft. Der Autor und sein Werk sind weiterhin keinem Genre zuzuordnen und das ist gut so. Wir brauchen keine Einheitsliteraturpampe sondern so feinsinnige, den Leser fordernde Lektüre, über die sich noch lange nachdenken lässt und die beim zweiten und dritten Lesen immer noch überrascht und fasziniert. Vor genau zehn Jahren hat der für seinen Roman »Was vom Tage übrig blieb« mit dem Booker Prize ausgezeichnete Autor seinen letzten Roman »Alles, was wir geben mussten« vorgelegt. Mit »Was vom Tage übrig blieb« schuf Ishiguro die Welt eines britischen Butlers in der Zeit des zweiten Weltkrieges und zeichnete ein außergewöhnliches Porträt der Zeit. »Alles, was wir geben mussten« wiederum ist eine Dystopie, in der Klone als Ersatzteillager gehalten werden. In beiden Romanen geht es darum, was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist. Der Tod ist in Ishiguros Werk allgegenwärtig. Er ist ein Teil des Lebens, doch viele spüren viel zu spät, dass sie nicht gelebt haben.
Kazuo Ishiguro präsentiert »Der begrabene Riese« beim Harbour Front Literaturfestival in Hamburg.
In »Der begrabene Riese« verschlüsselt Ishiguro sein Hauptthema nochmals. Einige tun den Roman als pure Fantasy-Literatur ab, mit der sie nichts zu tun haben wollen. Doch wie andere besser erklärt haben (siehe die Links ganz unten) und Ishiguros Beispiel belegt, ist ein Fantasy-Roman ebenso gut in der Lage, aktuelle Themen zu transportieren und aufzurütteln wie ein Gegenwartsroman. Außerdem ist Ishiguros Roman auf keinen Fall klar einzuordnen. Über die 300 Jahre nach dem Abzug der Römer aus Britannien ist kaum etwas bekannt, daher hat der Autor sich daran orientiert, was die Menschen damals vermutlich geglaubt haben. Sie hatten Angst vor Drachen, Unholden und anderen magischen Wesen. So gesehen, ist »Der begrabene Riese« ein historischer Roman, der allerdings zeitlos wirkt und Fantasy-Elemente enthält, die aber in die Zeit gehören und gleichzeitig als Allegorien dienen. Der Nebel als Vergessen wird erklärt und über die anderen Formen lässt sich viel nachdenken. Warum der Roman in der Literaturwelt momentan aufgrund seiner Fantasiewesen und nicht aufgrund der wunderschönen Geschichte und des immensen Könnens Ishiguros Wellen schlägt, bleibt mir allerdings ein Rätsel. Dem Guardian erklärte Ishiguro so auch:
»Falls die Literatur magische Wesen aussortieren will,
stelle ich mich auf die Seite der Oger und Kobolde.«
Am 7. Tag des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg versammelten sich rund 170 Menschen in der St. Pauli Kirche, um Kazuo Ishiguros Lesung zu erleben. Susanne Weingarten moderierte in der bis auf den letzten Platz besetzten Kirche und befragte den Autor zu seiner Arbeit. Kazuo Ishiguro erklärte, dass die Gedanken zu einem kollektiven Gedächtnis und seiner Funktion sowie Manipulationsanfälligkeit ihn antrieben. Den Anfang nahm der Roman bei Ishiguros Nachdenken über den Krieg in Bosnien (er nannte auch Ruanda), wo Menschen, die schon lange friedlich als Nachbarn miteinander gelebt hatten, so beeinflusst oder an frühere Gräueltaten erinnert wurden, dass ein erbitterter Bürgerkrieg ausbrach. Daher stellt Kazuo Ishiguro folgende Frage:
»When is it better to remember and when is it better zu forget?«
»Wann ist es besser, sich zu erinnern und wann ist es besser zu vergessen?«
Ist das Vergessen der Geschichte eine Basis für den Frieden? Kann oder muss oder darf es so sein? Ob der begrabene Riese, der keine Person ist sondern den in Vergessenheit geratenen Krieg darstellt, geweckt werden soll oder nicht, ist eine Frage, die gerade uns Deutsche immer noch beschäftigt. Wir dürfen nicht vergessen, sollen uns erinnern. Ishiguro lobte Deutschland, denn wie er meint, haben die Deutschen eine Balance zwischen Rückblick und Weiterleben gefunden, so dass die Erinnerungen die neue Gesellschaft nicht schwächen.
Im Roman ist es eher wie im Jugoslawien-Krieg – wird der Nebel fortgewischt, werden die Erinnerungen an die Schrecken der Vergangenheit sichtbar und schreien nach Vergeltung. Ist es daber besser, alles zu vergessen? Die Frage gilt nicht nur für die Gesellschaft sondern auch für das Individuum. Wie verhält es sich mit einer Parnerschaft? Kann sie nur funktionieren, wenn immer wieder vergessen wird, was der Partner uns an Schmerzen zugefügt hat oder wird die Liebe stärker, je mehr wir uns erinnern? Kazuo Ishiguro schickt Axl und Beatrice auf die Reise, um die Antwort auf seine Fragen zu finden. Ishiguro sagte, er hat von einer Liebe erzählen wollen, die eine sehr lange Zeit besteht und darüber, wie sich der Tod des geliebten Partners ertragen lässt. Das unvermeidliche und mit Schrecken erahnte Ende des Buches hat mich zu Tränen gerührt und doch in einer Weise lächeln lassen, die nur die Lektüre von so vollendeter Literatur bewirken kann.
»Nach den kurvenreichen Sträßchen und beschaulichen Wiesen, für die England später berühmt wurde, hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes, unbestelltes Land; hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor.«
Mit diesem Anfang führt Kazuo Ishiguro einen Erzähler ein, der aus heutiger Zeit auf das alte Britannien zurückblickt. Wie Ishiguro in einem Interview sagte, hätte es in früheren Fassungen des Romans Hinweise auf die Identität des Erzählers gegeben, die er aber gestrichen hätte. Für Ishiguro ist der Erzähler jemand, der zu unschuldigen Kindergeistern spricht, die in Kriegen ums Leben gekommen sind.
Auch die anderen Figuren im Roman werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Der Ritter Gawain scheint verwirrt und inkonsequent, stellt sich aber als klarer Kopf mit festem Willen heraus. Besonders Beatrice und Axl sind äußerst unzuverlässige Berichterstatter, da ihnen die Vergangenheit und das, was sie sich über sie eingeredet haben, immer nur in Fetzen zur Verfügung steht. Die einzelnen Puzzlesteine passen oft nicht zusammen und der Leser erkennt erst nach und nach, was eventuell überhaupt nicht stimmen kann. Der Zaubertrick gelingt Ishiguro bestens, denn der Roman nimmt von der ersten bis zur letzten Seite gefangen. Zur genaueren Handlung, zu den anderen Menschen, denen Axel und Beatrice begegnen, möchte ich nicht mehr verraten, um den Lesespass nicht zu trüben.
»Eine der kühnsten und anspruchsvollsten Stimmen der englischen Literatur.« The Guardian
Übersetzung: Einmal mehr habe ich die englische und die deutsche Ausgabe parallel gelesen. Obwohl die Übersetzung von Barbara Schaden dem Roman inhaltlich gerecht wird, fehlt ihr in manchen Teilen gar zu sehr die besondere Poesie der Sprache Ishiguros (z.B. Originaltext: »I thought once he had placed a spell on Death himself, yet even Merlin has taken his path now. Is it heaven or hell he makes his home?« Übersetzung: »Ich dachte schon, er hätte den Tod selber verzaubert, doch inzwischen ist sogar Merlin seinen letzten Weg gegangen. Ist er jetzt im Himmel oder in der Hölle zu Hause?«). Eine genauer den Ton treffende Übersetzung wäre ganz sicher wesentlich langwieriger und somit kostspieliger gewesen, hätte sich bei diesem besonderen Autor und Buch jedoch gelohnt. Hier würde ich einen kleinen Punktabzug erteilen, obwohl die Ausgabe des Blessing Verlages in jeder anderen Hinsicht besticht und die Geschichte dennoch sehr gut wirkt. Wer der englischen Sprache mächtig genug ist, sollte sich der Verzauberung des Originaltextes »The Buried Giant« ebenfalls hingeben.
Fabelhaft vorgetragen wurden zwei deutsche Passagen aus »Der begrabene Riese« von Ulrich Noethen. Besonders in die Rolle des Ritters Gawain fand er sich meisterlich ein und erweckte ihn auf diese Weise für alle Anwesenden zum Leben.
Insider: Vielleicht befand sich auch die Autorin Alina Bronsky, deren Roman »Baba Dunjas letzte Liebe« auf der Longlist des diesjährigen Buchpreises zu finden war, unter den Lesungsbesuchern. Denn da Ulrich Noethen ihr Lebensgefährte ist und ihre eigene Lesung im Rahmen des Harbour Front Literaturfestival, über die wir auch berichtet haben und die Sie hier nachlesen können, nur einen Tag zurvor stattfand, liegt diese Vermutung nahe.
Fazit: »Der begrabene Riese« ist ein fast schon monumentales Werk, zu dem mir, obwohl ich derer viele gemacht habe, doch die richtigen Worte zur Beschreibung fehlen. Ich hoffe, dass sich kluge Menschen nicht vom langweiligen Schubladendenken der Literatureinordner abschrecken lassen und sich den Genuss der Lektüre von Kazuo Ishiguros »Der begrabene Riese« nicht entgehen lassen. Ishiguro erzählt intensiv und seine tiefgründige Geschichte fasziniert langanhaltend. Ich möchte die Lektüre allen empfehlen und verspreche ein besonderes Leseerlebnis!
Kazuo Ishiguros Roman »Der begrabene Riese« ist im August 2015 im Blessing Verlag erschienen – gebunden, 416 Seiten, EUR 22,99, ISBN 978-3896675422.
In diesem Video erzählt Kazuo Ishiguro selbst, was er mit »Der begrabene Riese« ausdrücken, welche Fragen er aufwerfen wollte:
Über den Autor: Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller »Was vom Tage übrig blieb«, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 28 Sprachen übersetzt. Sein Roman »Alles, was wir geben mussten« (Blessing, 2005) wurde mit Carey Mulligan, Keira Knightley und Andrew Garfield in den Hauptrollen verfilmt. Der Autor lebt in London.
Laila Mahfouz, 24. September 2015
Links:
Informationen zu Kazuo Ishiguro und seinen Büchern finden Sie auf den Seiten des Blessing Verlages. Hier finden Sie auch eine 40-seitige Leseprobe.
Die Fotostrecke zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Alle Fotos von Laila Mahfouz.
Eine weise Rezension hat Autor Daniel Kehlmann in der FAZ zu Kazuo Ishiguros »Der begrabene Riese« geschrieben. Hier geht es zu dem Artikel.
DIE WELT hat ein Interview mit Kazuo Ishiguro geführt, in welchem er seine Motivation beschreibt und viel reflektiert. Die lohnende Lektüre finden Sie hier.
Wer sich trotz allem wegen der Fantasy-Elemente von dem Roman abwenden will, sollte eventuell diesen Bericht hier lesen.
Informationen zu Laila Mahfouz