Harbour Front Literaturfestival am 14. September 2015: Alina Bronsky las aus ihrem aktuellen und für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman »Baba Dunjas letzte Liebe«. Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Literaturhauses, sprach mit der Autorin über ihre Beweggründe und die Arbeit am Roman.
Handlung des Romans (von der Verlagsseite entnommen): Baba Dunja ist eine Tschernobyl-Heimkehrerin. Wo der Rest der Welt nach dem Reaktorunglück die tickenden Geigerzähler und die strahlenden Waldfrüchte fürchtet, baut sich die ehemalige Krankenschwester mit Gleichgesinnten ein neues Leben im Niemandsland auf. Wasser gibt es aus dem Brunnen, Elektrizität an guten Tagen und Gemüse aus dem eigenen Garten. Die Vögel rufen so laut wie nirgends sonst, die Spinnen weben verrückte Netze, und manchmal kommt ein Toter auf einen Plausch vorbei. Während der sterbenskranke Petrov in der Hängematte Liebesgedichte liest und die Melkerin Marja mit dem fast hundertjährigen Sidorow anbandelt, schreibt Baba Dunja Briefe an ihre Tochter Irina, die Chirurgin bei der deutschen Bundeswehr ist. Doch dann kommt ein Fremder ins Dorf – und die Gemeinschaft steht erneut vor der Auflösung.
Faszinierendes Wetterleuchten war vom Deck der Cap San Diego aus zu beobachten, als die Gäste auf den Einlass zur Lesung warteten. Was für ein Auftakt für dieses starke Buch. Rainer Moritz stellte Alina Bronsky vor, ohne auf den Hinweis ihrer besonderen Biographie zu verzichten. Nicht oft genug kann allerdings gesagt werden, wie großartig Sprache und Stil der Autorin sind, inbesondere im Hinblick darauf, dass sie erst im Alter von 12 Jahren nach Deutschland kam und zuvor der Sprache keineswegs mächtig war.
THE WORLD ACCORDING TO BABA DUNJA
Wie Alina Bronsky beim Schreiben ging es mir beim Lesen: Baba Dunja wurde lebendig; so lebendig, dass ich erwarte, dass sie immer noch dort in Tschernowo Gemüse anbaut und das verstrahlte Dorf zusammenhält. Diese Figur ist so stark, so wunderbar skurril, lebensweise, unvergesslich, einfach ein großartiger Charakter, der mich noch lange begleiten wird.
Alina Bronsky las als erstes den Anfang des Romans, der, wie für die Autorin von vornherein feststand, in der Ich-Perspektive erzählt wird. Gleich auf der ersten Seite findet sich eine Stelle, die typisch für Baba Dunjas Denkweise und Alina Bronskys Humor ist:
»Seine [Hahn Konstantin] innere Uhr ist durcheinander, schon immer gewesen, aber ich glaube nicht, dass es mit der Strahlung zu tun hat. Man kann sie nicht für alles, was blöd zur Welt kommt, verantwortlich machen.«
Alina Bronsky, die bei der Erfindung der eigenwilligen Dorfbewohner ihren Spaß hatte, schafft Figuren und Szenen, die lange im Gedächtnis bleiben. Neben der inoffiziellen Bürgermeisterin Baba Dunja, ist da Marja, ihre direkte Nachbarin, die mit ihrem Hahn (R.I.P.) und einer Ziege zusammenwohnt und von Sidorow hofiert wird, der sich damit rühmt, ein Telefon zu besitzen, auch wenn es die meiste Zeit nicht funktioniert. Der alte Petrow, der schon fast durchsichtig ist, weil er kaum etwas isst, aber „Bücher braucht wie ein Alkoholiker den Schnaps“, wurde eine meiner Lieblingsfiguren. Dann ist da ein reicheres Ehepaar im Dorf, ein Biologe, der sich für die wirren Spinnennetze interessiert, ein eifriger Anwalt und das kleine Mädchen Glascha mit weisen Augen… Besonders haben es mir aber auch die Toten angetan, die Baba Dunja ab und an sieht, wenn sie durch das Dorf gehen. Sie sind keine Traumfiguren, sondern werden von Baba Dunja ebenso real wahrgenommen wie die gegenwärtigen Bewohner des Dorfes. Ihr verstorbener Ehemann Jegor kommt Baba Dunja oft besuchen; ihrer Ansicht nach ist er seit seinem Tode viel höflicher als früher. Alina Bronsky sagte darüber: „Baba Dunja ist an der Stelle in ihrem Leben, in dem die Wände zu der Welt der Toten durchlässig werden und sich diese Welten begegnen.“ Zu allem hat Baba Dunja natürlich ihre ganz eigene Auffassung:
»Bis heute wundere ich mich jeden Tag darüber, dass ich noch da bin. Jeden zweiten frage ich mich, ob ich vielleicht eine von den Toten bin, die umhergeistern und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass ihr Name bereits auf einem Grabstein steht.«
Das „Wie“ ist entscheidend für diesen Roman. Baba Dunja erzählt, wie sie denkt. Sie bildet sich rasch ein Urteil über andere, das auf Lebenserfahrungen beruht. Sie kümmert sich um alles, was getan werden muss und ist für ihre Dorfgemeinschaft auf jede Weise da, ohne dies als ihre Pflicht aufzufassen.
Sicher mag die Figur der Baba Dunja auf den ersten Blick merkwürdig wirken und extrem eigenwillig. Allerdings berichtet sie im Verlaufe des Romans immer mehr von ihrem Leben, in dem sie sehr früh Verantwortung übernehmen und für Menschen sorgen musste und erst jetzt im Alter die Freiheit zur Selbstbestimmung gefunden hat. Das Leben in Tschernowo ist ihr daher besonders wichtig. Der Ort, an dem keiner sein will, ist der Ort, wo sie sein möchte, denn hier stört sie niemand, redet ihr niemand in ihre Entscheidungen rein.
»Wenn du Glück hast, wirst du halbwegs erwachsen, wenn du alt bist.
Dann erst bist du in der Lage, Mitleid für diejenigen zu empfinden, die jung sind.
Vorher beneidest du sie, warum auch immer.«
Obwohl der Verlag anfangs Einwände hatte, blieb Alina Bronsky dabei, dass auch die politisch eventuell nicht ganz korrekten Passagen im Roman verbleiben sollten. Die Autorin will den Leser nicht unterschätzen, der ihrer Meinung nach durchaus in der Lage ist, zwischen ihrer eigenen und der Meinung Baba Dunjas zu unterscheiden. „Politisch unkorrekt ist literarisch oft okay und sinnvoll.“
Fazit: Alina Bronsky zeichnet in »Baba Dunjas letzte Liebe« meisterhaft das Porträt einer außergewöhnlichen Frau, die ihr kleines Paradies gegen alle Gefahren verteidigt. Es wäre schön, wenn wir alle Baba Dunja im Alter beipflichten könnten, die sagt, dass es ihr gut gehe, auch wenn sie keine 82 mehr wäre. »Baba Dunjas letzte Liebe« ist eine hochintelligente, poetische, humorvolle und fesselnde Lektüre, die ich unbedingt weiterempfehlen kann. Diesen Roman hoffte ich, auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis zu sehen, aber ich bin sicher, Alina Bronsky hat noch viel zu sagen und wird eines Tages wohlverdient den Preis erhalten.
Alina Bronskys Roman »Baba Dunjas letzte Liebe« ist im August 2015 im Kiepenheuter & Witsch Verlag erschienen – gebunden, 160 Seiten, EUR 16,00, ISBN 978-3462048025.
Über die Autorin: Alina Bronsky, geboren 1978 in Jekaterinburg/Russland, lebt seit Anfang der 90er-Jahre in Deutschland.
Ihr Debütroman »Scherbenpark« wurde zum Bestseller, ist inzwischen beliebte Lektüre im Deutschunterricht und wurde fürs Kino verfilmt. Es folgten die Romane »Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche« und »Nenn mich einfach Superheld«.
Die Rechte an Alina Bronskys Romanen wurden in 15 Länder verkauft.
Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten, dem Schauspieler Ulrich Noethen, in Berlin.
Laila Mahfouz, 20. September 2015
Links:
Informationen zu Alina Bronsky und ihren Büchern auf den Seiten des Verlages Kiepenheuer & Witsch.
Weitere Informationen zu Alina Bronsky finden Sie hier.
Die Fotostrecke zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Alle Fotos von Laila Mahfouz.
Ein Interview mit Alina Bronsky in der FAZ zu »Baba Dunjas letzte Liebe« finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz
Tipp: Seit Mai ist die Verfilmung von Alina Bronskys Bestseller »Scherbenpark« auf DVD erhältlich. Den Trailer möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: