24. März 2015: Dörte Hansen präsentierte ihren im Februar 2015 im Knaus Verlag erschienenen Debütroman „Altes Land“ im Schnelsener Büchereck und las einige Passagen vor, die ihre Zuhörer begeisterten und Vorfreude und Neugierde weckten. Der von der Inhaberin der gemütlichen Buchhandlung Karin Freyhofer freundlicherweise gereichte Wein trug zur besonderen Atmosphäre dieser Lesung bei.
Handlung: Die als „Polackenkind“ beschimpfte fünfjährige Vera flüchtet sich 1945 mit ihrer aus Ostpreußen stammenden Mutter auf einen Hof im Alten Land. Obwohl sie durch tragische Umstände schließlich das Haus erben wird, fühlt sie sich ihr Leben lang nur als Gast oder Haushüterin in dem großen, kalten Altländer Bauernhaus. Dennoch ist sie wie Moos und Flechten mit dem alten Haus verwachsen und kann es nicht verlassen. Sechzig Jahre nach Veras Ankunft steht plötzlich ihre Nichte Anne mit ihrem kleinen Sohn vor ihrer Tür und Vera sieht sofort, was Anne ist: Ein Flüchtling wie sie selbst. In Hamburg-Ottensen liebt der Vater des Jungen nun eine Andere und so ist Anne das schon lange verhasste Ottensen, „wo ehrgeizige Vollwert-Eltern ihre Kinder wie Preispokale durch die Straßen tragen“ unerträglich geworden. Die Einzelgängerinnen Vera und Anne sind einander fremd und entdecken erst allmählich ihre Gemeinsamkeiten.
Da Dörte Hansen zehn Jahre in Hamburg-Ottensen gewohnt hat und nun bereits seit zehn Jahren im Alten Land lebt, ist es ihr möglich, auf sehr humorvolle und authentische Weise vom Stadt- wie auch vom Landleben zu erzählen. Allerdings müssen ihre Beschreibungen so genau gepasst haben, dass die Buchhandlung in Ottensen, in der eigentlich eine Lesung von Dörte Hansen geplant war, diese aus Rücksicht auf ihre Stammkundschaft abgesagt hat. Was das über die Kunst aussagt, über sich selbst lachen zu können, kann sich nun jeder denken und ebenfalls, wie genau die Autorin ihre Bilder zeichnet und wie scharf ihre Feder ist.
Bei NDR Kultur wurde Dörte Hansens Roman „Altes Land“ im März zum Buch des Monats gekürt. Hier finden Sie den Link zu einer Vorstellung von Susanne Birkner und einem fünfminütigen Filmbeitrag mit Dörte Hansen.
Vera und Anne sind die Hauptpersonen im Roman, deren Leben bestimmt ist von einer Einsamkeit, einer fehlenden Dazugehörigkeit. Der Leser fühlt mit der Frau, die sich aus Furcht schon als Kind jedes Wort überlegen musste, bevor sie es aussprach, die immer nur Gast war, immer nur auf der Flucht und mit der jungen Mutter, die ebenfalls nie angekommen ist in ihrem eigenen Leben und es lebt, als wäre es eine Flucht. Dass diese beiden auf einander zu treiben würden, haben sie nicht geahnt und doch scheint es mir als Leser wie eine wundersame Fügung und sogar unvermeidbar.
Auch die Nebenfiguren geraten Dörte Hansen nie zu bloßen Statisten. In ihrem Roman bekommen sie ihre eigene Geschichte, ihr ganz eigenes Leben und durch Perspektivenwechsel erhält der Leser immer mehr als eine Sichtweise auf die Geschehnisse. Auf liebevolle Weise hat die Autorin allen Personen Leben eingehaucht. Besonders auch die Eigenarten der Altländer Bauern sind sehr authentisch gelungen. Mit norddeutschtypisch trockenem Witz erzählt die Autorin von den Leben der Menschen hinterm Deich und in der Elbmetropole und meistert den Wechsel zwischen komischen und tragischen Passagen mit einer Leichtigkeit, die mich an Katharina Hagenas wunderbaren Roman „Der Geschmack von Apfelkernen“ erinnert hat.
DIT HUUS IS MIEN UN DOCH NICH MIEN,
DE NO MI KUMMT, NENNT’T OOK NOCH SIEN*
So steht es auf den verwitterten Eichenbalken des Altländer Bauernhauses in dem Vera Eckholt schon seit sechzig Jahren lebt. Das Haus scheint Vera fest in den knorrigen Klauen zu halten, so dass sie sich nicht lösen kann. Sie fürchtet sich noch immer vor seinem Huschen, Schlurfen, Atmen, Ächzen, Knarren, vor dem „Chor aus alten Stimmen“ und vor dem Beil des Schicksals, das sie in seiner mächtigen Hand vermutet. Was genau die plattdeutschen Worte bedeuten, wird dem Leser und den Bewohnern des Hauses jedenfalls erst am Ende des Buches wirklich klar.
Sie ließ die Lichter an, das Radio, sie tat, als hörte sie es diesmal gar nicht,
das Flüstern, Wimmern, Tanzen, die Schritte der Vergessenen in ihrer Diele.
Wunderbar gelungen ist auch die Ordnungswut der meisten Menschen, denen es wichtig ist, dass die Fassade weiß ist und was die Nachbarn denken. Mein eigener Garten in Hamburg ist dem verwilderten Exemplar von Vera Eckholt recht ähnlich und auch ich amüsiere mich köstlich über die Gärtner, die beim ersten Sonnenstrahl im Januar schon mit Sägen und Scheren bereitstehen, um alles zu trimmen und zu zähmen. Ich dämme immer nur ein, wo es Not tut, schaue, dass alle genug Platz bekommen und lasse ansonsten Pflanzen und Tiere das tun, was sie gern wollen. So eine Sichtweise auf einen Garten oder auf das Leben könnte Veras Nachbar Heinrich Lührs sicher nie verstehen. Hier ein kleiner Auszug, der mit Veras Spott beginnt:
„Na, Hinni, hest ook allens schön schier?“ Und er hatte nie verstanden, was daran lustig war, wenn jemand seine Welt in Ordnung hielt. […] Heinrich Lührs blieb hinter seinem weißen Zaun, den Rücken kerzengerade, als sollten sich die Bäume und die Sträucher mal ein Beispiel an ihm nehmen.
Die Autorin findet immer wieder außergewöhliche Metaphern, beschreibt eindrücklich die norddeutsche Landschaft, so dass vor dem inneren Auge des Lesers detailreiche Bilder entstehen. An vielen Figuren im Roman (Karl Eckholt, Vera Eckholt, Hildegard von Kamcke, Marlene Hove) ist abzulesen, was der Krieg mit Menschen macht, dass er nie mehr aufhört und sich in lebenslangen Albträumen fortsetzt. Er hört nicht einmal für die auf, die ihn nicht erlebt haben. Er setzt sich fort durch die Mutter, die nicht in der Lage war, ihrem Kind die Liebe zu zeigen, die sie für es empfindet, durch das Gefühl der Heimatlosigkeit noch in der nächsten Generation der Flüchtlinge, die längst angekommen scheinen und durch die vererbbare Erstarrungswärme, die als letzter Anker ausgeworfen wird, um nicht im eiskalten Meer zu ertrinken. Niemand kann unbeschadet aus einem Krieg hervorgehen und Dörte Hansens Roman macht deutlich, welche Langzeitauswirkungen möglich sind.
Fazit: Ein wunderbares Buch über die Menschen im Alten Land und in Hamburg, über Aufarbeitung und die Nachwirkungen des Krieges, über Eltern-Kind-Beziehungen, Einsamkeit und ihre Überwindung, über den Wunsch nach Dazugehörigkeit, Abgrenzung und Individualität, kurz ein Buch über das Leben in all seinen Facetten. Neben den vielen begeisterten, älteren Zuhörern der Lesung wünsche ich diesem Buch vor allem auch jüngere Leser, da die Lektüre viel zum Verständnis unserer Eltern und Großeltern beitragen kann. Eine klare Empfehlung!
Dörte Hansens Roman „Altes Land“ ist im Februar 2015 im Knaus Verlag für EUR 19,99 erschienen – gebunden, 288 Seiten, ISBN 978-3813506471.
Dörte Hansen plant bereits ihren nächsten Roman, der voraussichtlich Ende 2016 erscheinen könnte. Die aus Husum stammende Autorin wählt dieses Mal Nordfriesland als Schauplatz ihrer Handlung.
Über die Autorin: Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, lebt im Alten Land. Erst in der Grundschule lernte sie, dass es außer Plattdeutsch noch andere Sprachen auf der Welt gibt. Die Begeisterung darüber führte zum Studium etlicher Sprachen wie Gälisch, Finnisch oder Baskisch und hielt noch an bis zur Promotion in Linguistik. Danach wechselte sie zum Journalismus, war einige Jahre Redakteurin beim NDR und arbeitet heute als Autorin für Hörfunk und Print.
Laila Mahfouz, 26. März 2015
*übersetzt aus dem Plattdeutschen: Dies Haus ist meins und doch nicht meins, der nach mir kommt, nennt’s auch noch seins.
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Weitere Informationen zu Dörte Hansen auf der Seite des Knaus Verlages
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