Wioletta Greg erzählt in ihrem autobiographischen Roman »Unreife Früchte« / »Guguly« eine Coming-of-Age-Geschichte in Form vieler kleiner Geschichten, die im schlesischen Dorf Hektary in den 1970er und 1980er Jahren durch die Augen eines sowohl verträumten als auch klugen Mädchens beobachtet werden. Unterhaltsam, intelligent und feinfühlig setzt sich die Autorin mit dem ländlichen Alltag Polens zu dieser Zeit auseinander.
Verlagstext: Seit 1981 herrscht das Kriegsrecht unter General Jaruzelski, aber die großen politischen Ereignisse wirken sich nur gebrochen auf das Leben im schlesischen Dorf Hektary aus. Dort, in einer ganz wunderbar vermittelten Atmosphäre aus Alltag in der Großfamilie, mit ländlichen, fast heidnischen Bräuchen, einem sehr schlichten Katholizismus und krudem Sozialismus, schlägt sich die vitale, schlagfertige und neugierige Wiolka mit ihrer Mutter herum, entdeckt ihre Sexualität, nicht immer ganz freiwillig, und bemüht sich um den geliebten Vater, der viel zu früh stirbt.
Wie funktioniert die Erinnerung? Woran würden wir uns erinnern, wenn wir unsere Kindheit erzählen würden. Da ist das Allgemeine, das am Rande erwähnt wird, aber erzählt werden die vielen Momente, die hervorstechen und sich in unser Gedächtnis eingeprägt haben. Von eben solchen Momenten berichtet Wioletta Greg. »Unreife Früchte« ist ein Mosaik aus vielen kleinen Geschichten, die in ihrer Bedeutung an Größe gewinnen, wenn über das Erzählte nachgedacht und verstanden wird, dass eben diese Momente die Autorin zu dem Menschen gemacht haben, der sie heute ist.
Schon als ganz kleines Kind erfährt sie den ersten Abschiedsschmerz, als sie ihren Gefährten durch Dick und Dünn, den Kater Blacky, verliert, ohne zu wissen, wodurch. Trotz all der Extreme des Aufwachsens im sozialistischen Polen bleibt sie ein optimistisches Kind, das sich den Zauber ihrer Kindheit durch nichts nehmen lässt. Ob der Papst seinen Besuch ankündigt und im letzten Moment doch einen anderen Weg wählt, ein Mitschüler ihren Beitrag zu einem Malwettbewerb beschädigt oder ihre Mitmenschen ihr durch strengen Katholizismus gepaart mit tiefem Aberglauben das Leben schwer machen, immer bewahrt sie sich eine innere Kraft und einen Glauben an sich selbst.
Der sexuelle Übergriff ihres Hausarztes ist dann allerdings mehr, als sie verkraften kann. Der Arzt vertuscht die Tat und klagt das Kind an, ihn getreten zu haben. Selbst als die Mutter ihr Schläge für ihr schlechtes Benehmen androht, erzählt sie nicht, was wirklich passiert ist. (Überhaupt wird leider immer dann geschwiegen, wenn geredet werden sollte. Ein Verhalten, das zum Glück inzwischen weitgehend „aus der Mode gekommen“ scheint.) Das Mädchen war gerade einmal zehn Jahren alt und wie traumatisch das Erlebnis war, zeigt sich schon am nächsten Tag. Sie bekommt Fieber, bringt – in einer Übersprungshandlung – das Thermometer durch kochendes Wasser zum Platzen und schluckte das Quecksilber! Der englische Buchtitel »Swallowing Mercury« weist auf diese schreckliche Episode hin. Gleichzeitig zeigt ihr Verhalten ihre eigene Art, sich gegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Im Krankenhaus – am Ende des »längsten Tages ihres Lebens« – hört sie aus dem Schwesternzimmer Klaus Meine (»Scorpions«) singen When the Smoke Is Going Down) und beobachtet die merkwürdige Szenerie im Haus gegenüber:
Die leeren Wände spielten mit mir Himmel und Hölle, präsentierten mir ein Potpourri aus Origami. Die Reste des Lichts flossen auf die Straße, hüllten die Pappeln in kupferfarbene Fäden und machten an den vergitterten Fenstern des Frauengefängnisses halt, das sich gegenüber vom Krankenhaus befand.[…] Die Insassinnen vollführten in den Fenstern eine geheime Pantomine.
Pfingsten / Seite 48
Neben kuriosen Nachbarn, aufdringlichen Verehrern, nähenden Frauen und einem Schulsystem, das ihr immer wieder neue Herausforderungen stellt, berichtet Wioletta Greg von Hoffnungen und Enttäuschungen, Krankheiten, Schmerz und Glück in diesem ärmlichen schlesischen Dorf, das von der Politik weitestgehend unbehelligt bleibt, obwohl im Land seit 1981 Kriegrecht herrscht. Jedes Kind nimmt seine Lebensumstände letztlich wohl als Normalität wahr, und erst im Rückblick werden aus den Erinnerungsfetzen gravierende Ereignisse.
Eines Tages blieb das Mädchen im Stall an einem Nagel hängen und wurde unter der herabstürzenden Holzkonstruktion begraben. Die Schilderung dieses Nahtoderlebnisses im Kapitel »Deckel mit Löchern« ist sowohl eindrücklich wie magisch und bleibt rätselhaft und unvergesslich:
Der ganze Raum des Schweinestalls wurde plötzlich hell und zerfiel wie ein Mosaik in kleine Stücke. […] Plötzlich wurde ich leicht wie ein Fetzen Plastik. Ich stieg nach oben und setzte mich auf die Scheibe des gekippten Fensterchens. Ich flog hinaus und kreiste eine Weile über dem Obstgarten. Der Himmel war durchlöchert wie der Deckel meines Glases – von Sternen. […] Fast war ich durch den Deckel schon zu dem anderen, dem zweiten Himmel durchgestoßen, da klatschte mir jemand auf die erhitzten Wangen.
Ich erfuhr nie, wer mich unter der kaputten Hühnerleiter hervorgezogen und aus dem Schweinestall herausgebracht hatte. […] Mutter sagte, ich sei von selbst gekommen, mit zerzausten Haaren und furchtbar verdreckt.
Deckel mit Löchern / Seite 73
Wioletta Greg wählte für ihren Roman einen bemerkenswerten Ton, der von der Übersetzerin Renate Schmidgall perfekt getroffen wurde: Zwar wird aus der Sicht eines Kindes bzw. einer Jugendlichen erzählt (im Präteritum), dennoch ist die Sprache des Romans präzise, raffiniert und poetisch. Die Autorin schafft es, ihre Leser inhaltlich und sprachlich zu begeistern und dabei in die Welt des Kindes zu ziehen.
Großartig gelingt es ihr ebenfalls zu schildern, wie ein Kind die Welt wahrnimmt. Wenn alles zum ersten Mal gesehen, nicht verstanden, aber mit großer Neugier dem Mysterium des Lebens auf den Grund gegangen wird, ist wohl die genialste Zeit eines Menschen.
Im Laufe des Romans wird immer deutlicher, welch wichtige Rolle der Vater im Leben des Mädchens spielt. Von ihrer ersten Begegnung an, die eine Zeit nach der Geburt das Mädchens liegt, ist die Beziehung zwischen Vater und Tochter sehr innig. Anders als die strenge Mutter kann der Vater seiner Tochter nichts abschlagen und seine liebenswerten Eigenheiten machen ihn zu einem besonderen Charakter. Als er viel zu früh stirbt, ist seine Tochter auf einer Klassenreise, doch Wioletta Greg erzählt im Rückblick das Leben des Vaters und seinen Tod und lässt auch den Vater selbst zu Wort kommen:
»Seltsam, das Leben […] Kaum habe ich mich in der Welt umgesehen, da nennen die Leute mich schon einen alten Mann, dabei bin ich innen noch wie ein unreifer Apfel.«
Ende August fuhr [Vater] eines Sonntagmorgens mit dem Fahrrad zum Fischen. Er warf die Angeln über dem Grünen See aus, schlief ein […] Der bunte Schwimmer, den er aus Schaumstoff geschnitzt hatte, hüpfte im Wasser, aber niemand beobachtete ihn. Bevor die erste Schleie anbiss, bevor es Mittag wurde, war der fünfzigjährige Junge tot.
Unreife Äpfel / Seite 137 + 138
Die Kapitel von Wioletta Gregs »Unreife Früchte« sind erfreulich kurz, manche sind sogar nur vier Seiten lang. Die sinnvoll ausgewählten Geschichten sind durch die passenden Kapitelüberschriften leicht wiederzufinden. Trotz der nur 143 Seiten des Romans hat sich der C.H. Beck Verlag glücklicherweise für eine schöne gebundene Buchform mit einem ansprechenden Schutzumschlag entschieden.
Fazit: In Momentaufnahmen erzählt Wioletta Greg in ihrem Roman »Unreife Früchte« von der magischen Welt einer Kindheit, die sich in einem so nicht mehr existierenden Staat abspielte. Wo Glauben und Aberglauben sich abwechselten und die Regierung sich in alles einmischte, wurde ein besonderes Mädchen ganz nebenbei zur Frau und schaute dabei in die Sterne.
Die Hauptfigur ist eine feine Beobachterin. Das neugierige, phantasiebegabte und intelligente Kind erlebt sowohl schöne als auch schreckliche Dinge, die Wioletta Greg in teils grotesken, teils poetischen, immer aber unvergesslichen Bildern schildert. Auch wenn der Roman ungemein kurzweilig ist, wirken die Kapitel einzeln gelesen noch stärker, daher möchte ich zu einer langsamen, dosierten Lektüre raten.
»Unreife Früchte« ist nicht nur ein gelungenes Gesellschaftsportrait einer inzwischen vergangenen Zeit, auch wird so unterhaltsam und fesselnd erzählt, dass die Seiten nur so dahinschmelzen. Es ist eine ganz besondere Coming-of-Age-Geschichte aus unserem Nachbarland Polen, die ich uneingeschränkt empfehlen kann.
Wioletta Gregs Roman »Unreife Früchte« (Originaltitel »Guguly«) ist im Januar 2018 für EUR 18,95 in der Übersetzung von Renate Schmidgall im C. H. Beck Verlag erschienen – gebunden, 143 Seiten, ISBN 978-3406718830.
Wer mehr lesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Wioletta Greg (eigentlich: Grzegorzewska), 1974 in Kozieglowy (Polen) geboren, lebt seit 2006 in Großbritannien, inzwischen in Essex. Sie hat sieben Gedichtbände und bislang drei Romane veröffentlicht, »Unreife Früchte« erschien unter dem Titel »Swallowing Mercury« auf Englisch in Großbritannien und in den USA und stand auf der Man Booker International Longlist 2017, außerdem war sie für den Griffin Poetry Prize und den polnischen Nike Preis nominiert. Sie ist in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Laila Mahfouz, 11. September 2018
Links:
Mehr zu Wioletta Greg auf der Seite des kein & aber Verlages.
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