Lesung am 19. April 2018 im Warburg-Haus Hamburg: Felicitas Hoppe stellte ihr aktuelles Buch »Prawda – Eine amerikanische Reise« im Rahmen der High Voltage Frühjahrslesetage vor. Die Büchner-Preisträgerin begab sich für das Buch auf die Spuren von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, zweier russischer Schriftsteller, die vor achtzig Jahren über ihre Reise berichteten. Felicitas Hoppe allerdings erzählt die Fahrt quer durch Amerika zur Zeit des letzten US-Wahlkampfes in ihrem typischen, sprachlich verspielten und überbordenden Stil.
Verlagstext: Im Westen endlich was Neues: die Wahrheit über Amerika
Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe auf Expedition in einem unbekannten Amerika: Zehntausend so komische wie hochpoetische Meilen reist Hoppe von Boston über San Francisco bis Los Angeles und zurück nach New York. Hellwach und hellsichtig begibt sie sich als literarischer Wirbelsturm auf die Spuren von Ilf und Petrow, zweier russischer Schriftsteller, die 80 Jahre vor ihr unterwegs waren und zu Kultfiguren wurden. Ob Hoppe mit ihnen die Ford-Werke und den ersten elektrischen Stuhl besichtigt, nebenbei den Zaun von Tom Sawyer streicht, in einem Tornado verschwindet oder im Auge des Sturms auf Quentin Tarantino persönlich trifft – »Prawda« (russisch: Wahrheit) lässt die Leser Dinge sehen, wie sie über das unglaublichste Land der Erde noch nie geschrieben wurden: eine literarische Weltentdeckung.
Ulrich Kühn (NDR) im Gespräch mit Felicitas Hoppe
Vom 18. bis 24. April 2018 wurden an unterschiedlichen Orten in Hamburg zum zweiten Mal die High Voltage Frühjahrslesetage von Stromnetz Hamburg und dem Literaturhaus Hamburg ausgerichtet. Ihr „Drei-Reisen-Modell“ nennt Felicitas Hoppe ein Projekt, das als reale Reise beginnt, beim Schreiben zu einer geistigen Reise wird und mit der Lesereise zum Abschluss kommt. Auf der letzten Etappe machte Felicitas Hoppe u. a. in der wunderschönen Bibliothek des Warburg-Hauses halt. »Prawda – Eine amerikanische Reise« ist – wie eigentlich alle Bücher von Felicitas Hoppe – sehr ungewöhnlich. Die Schriftstellerin, die für ihr Werk unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, geht gern neue literarische Weg und spielt mit der Sprache wie kaum eine andere.
Gemeinsam mit einem ukrainischen Künstler, einer deutschen Fotografin und einer Kunsthistorikerin aus Wien bestieg Felicitas Hoppe im September 2015 in Boston einen roten Ford Explorer, fortan Red Ruby genannt.
Doch Felicitas Hoppe wäre nicht Felicitas Hoppe, wenn sie einen einfachen Reisebericht vorlegen würde. Wie bei ihr üblich, sprengt sie auch mit »Prawda – Eine amerikanische Reise« alle Genregrenzen. Sie ist einfach nicht zu fassen. Wobei es glücklicherweise keine Rolle spielt, ob es sich nun um ein Sachbuch, ein Essay oder einen Roman handelt.
Grundlage war eine reale Reise auf den Spuren einer anderen literarischen Reise, doch was nun in Buchform vorliegt, ist ein fiktiver Bericht à la Hoppe und damit die Autorin ihre ganz eigene Wahrheit erzählen konnte, taufte sie ihre Reisebegleiter für das Buch kurzerhand um.
»Denn es ist nicht der Inhalt, sondern einzig die Form,
die die Erinnerung sichtbar macht.«
Twister / Seite 178
Die Beschreibungen der Umgebung – von Land und Leuten – nimmt etwa soviel Raum ein wie die Anekdoten über die Reisegruppe, deren Mitglieder sich keinem Gruppenzwang unterordnen wollen und alle ihre ganz eigene Reise im Kopf haben. Der Text enthält immer wieder auch innere Monologe, Beschreibungen von Träumen und Gedichte aus Felicitas Hoppes eigener Feder. Geradezu komponiert wirken die Sätze, ohne je zu künstlich zu erscheinen. Am liebsten hätte sie das ganze Buch in Versen geschrieben, gestand die Autorin bei der Lesung. »Ich habe bei dem Buch unendlich viel weggeworfen und das Buch ist immer noch viel zu voll. […] Da gab es auch viel Trennungsschmerz.«
Auf dem galoppierenden Pferd ihrer intelligenten und humorvollen Fabulierkunst mäandert sie durch die Neue Welt und gibt ihrer Reise trotz des festgelegten Distanzplans immer wieder einen ganz eigenen Kurs ein. Dabei spielt sie u. a. mit literarischen Zitaten von Mark Twain, Lew Tolstoi, Theodor Fontane, Gertrude Stein und selbstverständlich von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, den 1935 im Auftrag der Zeitschrift Prawda durch die USA reisenden russischen Schriftstellern, deren Buch »Das eingeschossige Amerika« ein ständiger Begleiter der Reise war.
»Dann schon lieber ein Doktor wie Snowden, Spion und Schneemann in einer Person, der kurz vor der Sintflut mit knapper Not durch die Hintertür nach Russland entkam und, wenn er nicht gestorben ist, bis heute vor einem Bildschirm sitzt, Brieftauben füttert, Daten auf Trab bringt und darauf wartet, sich endlich in einen russischen Roman zu verwandeln, der mit dem einfachen Satz beginnt: Alle glücklichen Spione sind einander ähnlich, jeder unglückliche Spion ist unglücklich auf seine Weise.«
Nordosten / Seite 14
Einerseits ist »Prawda« also ein detaillierter und sehr humorvoller Reisebericht, andererseits entgeht nichts Felicitas Hoppes prophetisch und gesellschaftskritisch geschärftem Blick für die Gegenwart und die zu erwartende Zukunft. Dabei ist der Text ebenso angereichert mit historischen Fakten, die die Gegenwart erst verständlich machen. Hoppes besonderes Gespür für Momente, Orte und Menschen macht »Prawda – Eine amerikanische Reise« so lesenswert. Der Wahlkampf der Präsidentschaftskandidaten, der zeitgleich stattfand, ist nur ein Hintergrundrauschen, während das eigentliche Amerika zwischen den Zeilen sichtbar wird.
»Auf die alte russische Frage: Was tun? (Tschto delat?) lautet die alte amerikanische Antwort: Allzeit bereit! (Be prepared!) Don’t panic! Keep calm! Carry on! Eine Formel, mit der AnnAdams uns, ihre Schüler, immer wieder von vorn auf Linie zu bringen versuchte, in einer Welt, in der wir von morgens bis abends umzingelt von Nachrichten sind, die keine Nachrichten sind, sondern nichts als nervöser Wetterbericht, leise Warnung und Drohung vor Hochwasser, Überflutung und Steinschlag, vor Schneefall im Sommer, vor Schmelze im Winter, vor Bomben, Krankheit, Tod und Verderben, vor Gott und dem Teufel.«
Nordosten / Seite 60 + 61
Hörbuch: Der Argon Verlag brachte ebenfalls im März 2018 die Hörbuchausgabe von »Prawda – Eine amerikanische Reise« (ISBN: 978-3839816332) in zum Glück ungekürzter Form heraus.
Besonders schön ist, dass es sich bei diesem Hörbuch um eine Autorenlesung handelt. Felicitas Hoppe las ihr Buch selbst ein. Die Geschwindigkeit ist dabei langsam genug, um keine der sprachlich raffinierten Kniffe zu verpassen. Dennoch ist es hilfreich, einzelne Passagen im Anschluss in eigener Geschwindigkeit im Buch nachlesen zu können, denn den Höhenflügen einer Felicitas Hoppe zu folgen, bedarf es einiger Konzentration und stabiler Flügel.
Sie finden das Hörbuch (2 MP3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 8 Stunden) samt Hörprobe hier oder mit Klick aufs Bild.
»Als man die Feuerwehrleute heiligsprach, während sie die verkohlten Leichen aus ihren maßgeschneiderten Anzügen schnitten und die Davongekommenen schreiend durch die Straßen Manhattans liefen, um ein neues Zeitalter auszurufen. […] Lauter verschobene Botenberichte, Fakten, die auch fünfzehn Jahre danach nichts als vage Vermutungen sind.«
Nordosten / Seite 57 + 60
Selbstverständlich wird auch der 11. September nicht ausgelassen, denn dieses amerikanische Trauma ist in den USA so präsent, dass ein Reisender blind und taub sein müsste, um nicht darauf zu stoßen. »Das Land strotzt vor Polemik«, sagte die Autorin bei der Lesung. Felicitas Hoppes Amerikakritik ist stets gepaart mit einer schon sehr lange anhaltenden Amerikaliebe, die sich in unzähligen Beschreibungen und Betrachtungen widerspiegelt.
Selbstverständlich werden auch die Ford-Werke besucht. Am Ende verliebt in den dritten Schrauber von links, der in der Lage ist, seinen Blick in eine Schwalbe zu verwandeln, stellt sich Felicitas Hoppe das Ford-Modell einer Schriftstellerin vor:
»Ich sah mich bereits an einem fliegenden goldenen Schreibtisch sitzen, flankiert von lauter fleißigen leibeigenen Schreibern, die rund um die Uhr und in wechselnden Schichten wie am Fließband für mich denken, schreiben und dichten und immer neue Geschichten erfinden, die mich für immer unsterblich machen, weil sie sich an verlässliche poetologische Grundregeln halten, von denen man in Europa nur lernen kann: Qualität des Materials. Einfachheit der Konstruktion. Qualität des Motors. Zuverlässigkeit der Zündung. Selbsttätige Schmierung. Einfachheit und Lenkbarkeit des Planetengetriebes. Güte der Ausführung.«
Mitte / Seite 107
Der Stil von Felicitas Hoppe ist ganz sicher nichts für jeden, denn nicht alle, die sich bei der Lektüre einer Seite solch sprachlich verspielter Ausschweifungen auf hohem Niveau amüsieren, möchten ebensolchen einem ganzen Buch lang folgen. Mich regte der meisterhafte Umgang mit Sprache, Historie und Beobachtungsgabe so an, dass ich mir wünschte, Felicitas Hoppe wäre Red Ruby nie entstiegen. Anstrengend an dem Buch und Hörbuch empfinde ich nur, dass es nur in fünf große Kapitel aufgeteilt ist, so dass die nachträgliche Suche eines bestimmten Reiseabschnitts sich beinahe als Sisyphos-Arbeit herausstellt.
»Jerry, der Profi, hat uns tatsächlich festgehalten: Links außen mich, daneben, breit lachend, Dr. Stopp mit einem randvoll gefüllten Wasserglas, in der Mitte Florian und MsAnnAdams, die sich krampfhaft an ihrer Tasche festhält. Und rechts von ihr Foma, der seinen Arm um den bartlosen Mister Giroux legt, während ganz außen der Geist des Schriftstellers Kracht steht, der sich den Strohhut Tom Sawyers so tief ins Gesicht zieht, dass selbst Jerry ihn nicht zu fassen bekommt.«
Nordosten / Seite 72
Die Wiederholungen im Text sind ein hier äußerst gelungenes Stilmittel. So richtet sich Felicitas Hoppe immer wieder mit dem Satz »Schreiben Sie das in Ihre Notizbücher, Gentlemen!« an Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, unterbricht die Reise immer wieder für einen weiteren Auftritt bei Radio Goethe und immer wieder wird sie von den Amerikanern mit den Worten »All the way from Germany!« begrüßt.
Die teilweise im Detail beschriebenen Fotos (Teile davon aus der Serie „Bräute am Wegrand„) von „Jerry“ sucht der Leser allerdings vergebens (Ironischerweise sind ganze zwei Fotos dann doch im Buch abgebildet). Auch das ist Teil von Felicitas Hoppes Humor. Wer aber von der Neugier gepackt wurde und unbedingt wissen will, wer sich hinter der Reisegesellschaft verbirgt, kann Fotos, Anekdoten und viele Hintergrundinfos in einem Reiseblog unter 3668ilfpetrow.com nachlesen. Übrigens hatten die beiden Russen vor achtzig Jahren die damals unglaubliche Anzahl von 3.000 Fotos ihrer Reise mitgebracht. „Jerry“ kam am Ende dieser Reise auf 12.000 Fotos.
»Ich liebe sie wirklich, diese käufliche Menschengemeinschaft, ihre sorglose Aufdringlichkeit auf der kurzen gemeinsamen Reise durch die Welt, die den ganzen Tag über damit beschäftigt ist, unsere wahre Natur zum Verschwinden zu bringen. Von unserm Geist nicht zu reden, der am Eingang zu Frankensteins Haus nach wie vor mit der Stimme von Walter spricht, die die Schlange der Wartenden drängend davonträgt, in die warme Welt eines künstlichen Schreckens, hinter der die wirkliche Welt endlich verschwinden darf, weil wir immer noch von Rettung und Heimkehr träumen, von einem Aufstieg, der sich niemals ereignet, weil wir niemals begreifen werden, dass sich im großen Land der Visionen und Träume niemand für menschliche Schicksale interessiert.«
Mitte / Seite 98
Fazit: Felicitas Hoppe hat mit »Prawda – Eine amerikanische Reise« einen äußerst originellen Reisebericht abgeliefert, der Zeitdokument und Märchen in einem ist. Der besondere, hoch poetische Tonfall der Autorin versetzt den Leser in Trance, lässt die Grenzen von Zeit und Raum verschwimmen und schafft so eine ganz eigene Welt, in der wir Amerika dennoch wiedererkennen. Doch während sich die vor achtzig Jahren erfolgte Reise von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow weitestgehend um die Elektrifizierung dreht, wollte Felicitas Hoppe zeigen, dass es nie nur eine Prawda / Wahrheit gibt, ja, dass die Wahrheit an sich nicht zu fassen ist. Am Ende der Lektüre geht es dem Leser vermutlich wie Felicitas Hoppe am Ende ihrer USA-Reise, denn sie sagte dazu: »Man beginnt zu begreifen, warum man das Land nicht begreift!«
Felicitas Hoppes »Prawda – Eine amerikanische Reise« ist im März 2018 für EUR 20,00 im S. Fischer Verlag erschienen – gebunden, 320 Seiten, ISBN 978-3100324573.
Wer mehr lesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Felicitas Hoppe, geb. 1960 in Hameln, lebt als Schriftstellerin in Berlin. 1996 erschien ihr Debüt »Picknick der Friseure«, 1999, nach einer Weltreise auf einem Frachtschiff, folgte der Roman »Pigafetta«, 2003 »Paradiese, Übersee«, 2004 »Verbrecher und Versager«, 2006 »Johanna‹, 2008 »Iwein Löwenritter«, 2009 »Sieben Schätze« und die Erzählung »Der beste Platz der Welt«, 2010 »Abenteuer – was ist das?«, 2011 »Grünes Ei mit Speck«, eine Übersetzung von Texten des amerikanischen Kinderbuchautors Dr. Seuss, 2012 der Roman »Hoppe« und zuletzt 2018 der Roman »Prawda. Eine amerikanische Reise«. Für ihr Werk wurde Felicitas Hoppe mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem aspekte-Literaturpreis, dem Bremer Literaturpreis, dem Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim, dem Rattenfänger-Literaturpreis, dem Georg-Büchner-Preis und zuletzt dem Erich Kästner Preis für Literatur. Außerdem Poetikdozenturen und Gastprofessuren in Wiesbaden, Mainz, Augsburg, Göttingen, am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, an der Georgetown University, Washington D.C., in Hamburg, Heidelberg und Köln.
Laila Mahfouz, 12. Juni 2018
Links:
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Felicitas Hoppe war mit »Prawda« Denis Schecks Gast in Druckfrisch:
Den Blog zu der echten Reise von Felicitas Hoppe und ihren Begleitern (Alexej Meschtschanow, Jana Müller und Professor Dr. Ulrike Rainer) mit vielen Fotos und Hintergrund-Infos finden Sie hier.
Mehr zu Felicitas Hoppes »Prawda – Eine amerikanische Reise« als gebundenes Buch auf der Seite des S. Fischer Verlages.
Mehr zu Felicitas Hoppes »Prawda – Eine amerikanische Reise« als Hörbuch auf der Seite des Argon Verlages.
Weitere Informationen zu Felicitas Hoppe finden Sie hier.
Einen Bericht von Spiegel-Online über »Das eingeschossige Amerika« von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, das 2011 im Verlag Die andere Bibliothek endlich auch in deutscher Übersetzung von Helmut Ettinger und mit einem Vorwort von Felicitas Hoppe erschienen ist, finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz