Lesung am 21. März 2018 im Literaturhaus Hamburg: Die dänische Autorin, Sängerin und Künstlerin Madame Nielsen stellte ihren Roman »Der endlose Sommer« vor und machte den Abend im Literaturhaus zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Inhalt Verlagstext: Ein junges Mädchen in einem weißen Herrenhaus in Dänemark, ihr Freund, der scheue und zarte Junge, der Stiefvater mit dem Gewehr und dem Misstrauen gegenüber seiner Frau, die beiden jüngeren Brüder – diese kleine Gemeinschaft wird durchgerüttelt, als zwei junge Portugiesen in den endlosen Sommer eintreten. Der eine ist Künstler und verliebt sich in die Mutter des Mädchens. Eine Liebesgeschichte nimmt ihren Anfang, die so leidenschaftlich und gewaltig ist, dass alle, die in den Bannkreis dieser Amour Fou geraten, in einer Schicksalsgemeinschaft vereint sind, die auch noch besteht, als der endlose Sommer endet.
In nur vier Monaten schrieb Madame Nielsen diesen fast unbeschreiblichen Roman, nachdem sie die Idee schon zwanzig Jahre in sich getragen hatte, wie sie sagte. Als einmal der Anfang da war, gab es kein Halten mehr. Denn so ist der Roman geschrieben. Seitenlange, wunderschön komponierte Sätze verführen dazu, immer weiter und weiter zu lesen, pausenlos, atemlos. »Der Satz als Utopie – als Traum«, sagte Madame Nielsen bei der Lesung. Schon ab dem zweiten Absatz beginnt der Text unter den Augen seiner Leser dahinzugleiten. Er fließt und fließt und ist wie Wasser nicht aufzuhalten. Diese Schreibweise entwickelt einen unglaublichen Sog. Zu der Arbeit an ihrem Roman sagte die Autorin: »Bevor ich weiterschrieb, las ich jeden Tag alles noch einmal laut, was ich schon geschrieben hatte.« Verständlicherweise ist der Roman daher „nur“ 190 Seiten lang.
»[…] der Sommer fängt an, ein endloser Sommer, in dem nichts geschieht und in dem er, der schmale Junge, aus der Welt fällt, der Welt, aus der er kommt, hinein in jene andere Welt, die eine Welt für sich ist, wo Zeit und Licht stillstehen und der Staub in der Luft schwebt und flimmert und niemand irgendetwas tut, außer leben, als befänden sie sich in einer anderen Zeit und an einem völlig anderen Ort auf der Welt […]«
Seite 8 + 9
Über viele der Figuren des Romans »Der endlose Sommer« ließe sich ein eigener Roman verfassen. Selbst die Tante, die Schwester der Mutter, die nur kurz und am Rande auftaucht, um gleich wieder zu verschwinden, eignete sich dazu bestens. Diese Tante brachte einst beispielsweise einen zukünftigen Kardinal der römischen Kurie dazu, sein Priesteramt niederzulegen, nachdem er sie nur einmal getroffen hatte.
Als der anstrengende und psychotherapiebedürftige Stiefvater aus der Geschichte verschwunden ist, brechen für alle Bewohner des Gutshofs in Jütland andere Zeiten herein.
Da ist die verlassene Ehefrau, die aristokratisch wirkt und alles gelassen nimmt. Dann gibt es noch ihre zwei kleinen Söhne, ihre fast erwachsene Tochter und deren Freund, jener schmale Junge, der vielleicht ein Mädchen ist. Diesem Alter-Ego der Autorin wurde die Rolle des Erzählers anvertraut. Dann tauchen noch zwei junge Portugiesen auf, die eigentlich das Licht über Skagen einfangen wollten, aber dort nie ankommen, weil sie sich unterwegs in diesem endlosen Sommer verfangen und verlieren werden.
Doch der flirrende Sommer ist trügerisch. Bei all der Schönheit, die beschrieben wird, umweht diesen Sommer ein Hauch der Vergänglichkeit. Denn er ist alles andere als endlos. Er ist paradiesisch schön und doch »ein Ort, der nie war und an den man nie zurückkehren kann, außer in der Erzählung«. Melancholisch, romantisierend und nostalgisch wurde »Der endlose Sommer« schon genannt und alles trifft auf diesen Roman zu. Zu sentimental gerät er damit nie. Die Figuren in Madame Nielsens Roman nennen ihren Sommer endlos, als beschwörten sie ihn, gegen besseres Wissen, auf ewig zu bleiben. Die Beschreibungen der Vergänglichkeit des Sommers, der Schönheit, der Jugend werden jeden mitten ins Herz treffen, der schon mehr als zwanzig Sommer gelebt hat.
»[…] noch aber bist du hier und kannst entweder für »den Rest deiner Tage« vergessen und »schauen, dass du weiterkommst« oder eben, wie ich, aufgeben, was ist, und versuchen, das Verlorene, das einmal war, wiederzufinden, und sei es noch so gering, selbst das, was vielleicht nie wirklich gewesen ist, aber doch zur Geschichte gehört, und im Erzählen heraufzubeschwören, damit es nicht bloß nicht verschwindet, sondern im Gegenteil erst jetzt endlich Wirklichkeit wird und in gewisser Weise wirklicher als alles sonst.«
Seite 18
Und wer ist diese Autorin, die sich Madame Nielsen nennt? An dieser Stelle möchte ich die ausführlichen Porträts in Der Spiegel und besonders in Die Zeit empfehlen.
»Der endlose Sommer«, Madame Nielsens Debütroman, erschien bereits 2014 in Dänemark. Doch während die Autorin in Skandinavien längst ein Idol der Kunst- und Literaturszene ist, mussten wir auf ihre Entdeckung lange warten. KiWi-Autor Christian Kracht (zuletzt erschien »Die Toten« im September 2016) bat nach der Lektüre der englischen Übersetzung »The Endless Summer« seinen Verlag darum, den Roman ins Deutsche zu übersetzen. Welch ein Glück für uns!
»Der endlose Sommer« ist ein Roman, der aus der Zeit gefallen ist, nicht festgelegt, nicht greifbar und doch sind die Gefühle, die er auslöst so deutlich wie schöne Erinnerungen an Erlebtes oder Geträumtes. Alles ist ständig im Wandel – nichts ist unabänderlich. Nur das Ende, das des Sommers, das des Lebens. Ein Ende muss und wird es geben und Bücher wie »Der endlose Sommer« helfen dabei, den Abschiedsschmerz zu ertragen.
Ob die Verwandlung vom düsteren Gutshof in den lichtdurchfluteten »weißen Hof« mit seiner durch Wahlverwandtschaft verbundenen Gemeinschaft oder die Verwandlung von einem schmalen jungen Mann in eine alte Frau, alles scheint hier möglich. Auch aus einer einfachen Frau (auch wenn sie aristokratisch wirkt) und einem portugiesischen Maler kann so ein Königspaar werden. Dieser Adel bezieht sich allerdings nicht auf ein geerbtes Privileg. Es beschreibt eine Haltung zum Leben und seinen Erschütterungen. Alles ist so trefflich beschrieben, dass der Roman einen Bildersturm beim Leser auslöst.
»Und hier, in diesem schlaflosen Dunkel, verschwimmen die Zeiten und Ereignisse ineinander, er ist gleichzeitig der scheue, schmale Junge, der sich durch das schlafende Haus vorantastet, und die alte Frau, die Jahrzehnte später kraft ihrer Erzählung den »weißen Hof« als mythischen Ort aus all dem erschafft, was ein für alle Mal verloren ist, ihn in der Sprache mit all ihren sieben Sinnen aus dem Dunkel der Erinnerung hervortastet […]«
Seite 68
Pflanzen, die ihren Tod ahnen, bündeln noch einmal all ihre Energie, um für Nachwuchs zu sorgen. So blühen und fruchten diese Todgeweihten besonders üppig. Dieses Phänomen nennt der Botaniker Angstblüte. Bevölkert ist »Der endlose Sommer« von Menschen, die solch einer Angstblüte gleich, diesen Sommer so intensiv genießen wie sie es nur können, als könnten sie ihn mit dieser Lobpreisung unsterblich machen und müssten ihn nicht irgendwann unweigerlich zu Grabe tragen. »Ein Requiem« lautet dann auch der Untertitel des Romans und lässt damit schon die Tragik ahnen, die irgendwann kommen muss. Den Tod beschreibt Madame Nielsen auf gnadenlose Weise:
»Doch das Schlimmste am Tod ist nicht seine Herrschaft über die Zeit, die Welt der Menschen und ihre Geschichte. Das Schlimmste ist, er ist eitel, eine verzogene Göre, die alles kriegt, worauf sie zeigt, und sich doch nie zufriedengibt, sie will nicht einfach bloß mehr, sie will sich herzeigen, zeigen, wie sagenhaft unvorhersehbar sie ist, wie launisch, verspielt, virtuos lebendig […]«
Seite 159 + 160
Julia Encke moderierte den Abend im Literaturhaus, den Madame Nielsen mit ihrer starken Präsenz und magnetischen Aura wirklich zu einem ganz besonderen Erlebnis machte. Der von Hannes Langendörfer auf großartige Weise ins Deutsche übersetzte Roman wurde von Marta Dittrich gelesen, die schon mehrfach als Vorleserin ins Literaturhaus eingeladen war. Mit ihrer warmen Stimme ließ sie an diesem grauen Märzabend die Sonne des »endlosen Sommers« herein und bezauberte die Besucher. Auch Madame Nielsen zeigte sich sichtlich begeistert. Leider liegt noch keine Hörbuchausgabe für »Der endlose Sommer« vor, aber sollte dies geplant sein, möge der Verlag an Marta Dittrich denken!
»Und der scheue Junge, mit dem alles begann, dieser zarte, schmale und oh so empfindsame Junge, der sich nie mit einem Mann ausziehen und Haut an Haut reiben sollte, wird endlich die alte Frau verstehen, die er ist, hauchfein und flüchtig wie Spinnweben, nun beinahe nur eine Stimme, ein Wesen jenseits von Alter, die zurückgezogen aus ihrer Zeit wie ein Schatten unter Fremden in »der Stadt der Städte« lebt, hier sitzt sie allein in ihrem Zimmer mit hoher Decke in einem nostalgischen Viertel als ihre eigene Muse, die sich vom Gedanken an eine Zukunft gelöst hat und stattdessen zurückschaut, um, Angesicht zu Angesicht mit denen, die noch sind, und denen, die kommen werden, zu erzählen, was verloren ging und bis eben vielleicht nie existiert hat.«
Seite 189 + 190
Fazit: Madame Nielsens Roman »Der endlose Sommer« ist ein sprachgewaltiges Meisterwerk. Einen Sommer wie ein Rausch hat die Autorin geschrieben. Einen Roman, der süchtig macht und der sich nur mit Mühe aus der Hand legen lässt. Auf fast musikalische Weise komponierte sie die langen Sätze, die sich dennoch federleicht lesen lassen. Wer mit viel Melancholie umgehen kann und mit einem aus den Seiten hervorwinkenden Tod als ständigem Begleiter, der sollte sich die Lektüre nicht entgehen lassen. Märchenhaft schön und doch grausam zugleich – das Leben als Erinnerung einer Zeit, die nicht mehr ist und vielleicht nie war. »Der endlose Sommer« ist meine unbedingte Leseempfehlung!
Madame Nielsens Roman »Der endlose Sommer« (Originaltitel: »Den endeløse sommer«) ist im März 2018 in der Übersetzung von Hannes Langendörfer für EUR 18,00 im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen – gebunden, 192 Seiten, ISBN 978-3462051025.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Madame Nielsen, geboren 1963, Autorin, Sängerin, Künstlerin, Performerin. Ihre Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, und sie war mehrfach für den Nordic-Council-Preis nominiert.
Laila Mahfouz, 9. Mai 2018
Links:
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz. Die mangelhafte Qualität ist den schlechten Lichtverhältnissen vor Ort geschuldet. Die Rechte am Foto unseres Titelbildes auf unserer Startseite liegen bei Sofie Amalie Klougart.
Informationen zum Autor auf den Seiten des Kiepenheuer & Witsch Verlages finden Sie hier.
Die Facebook-Seite von Søster Nielsen finden Sie hier.
Madame Nielsen war mit »Der endlose Sommer« Gast von Denis Scheck bei Druckfrisch:
In diesem Video liest Madame Nielsen aus »Der endlose Sommer«:
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.