Für seinen Roman »Die Toten« gewann Christian Kracht 2016 bereits den Hermann-Hesse-Literaturpreis und den Schweizer Buchpreis. Der Roman, der die Filmindustrie in den 1930er Jahren thematisiert, ist eine düstere, ungebremste Achterbahnfahrt und somit nicht für alle Leser geeignet.
Inhalt: Der ehrgeizige Filmregisseur Emil Nägeli aus Bern träumt in den 1930er Jahren davon, Filme für das quirlige Berlin, die europäische Filmhauptstadt, drehen zu dürfen und findet im UFA Direktor Alfred Hugenberg einen wichtigen Fürsprecher. Dem Filmboss kommt das Anliegen des Schweizers allerdings ganz gelegen, denn gerade von der japanischen Filmindustrie zum Aufbau einer kinematografischen Achse zwischen Berlin und Tokio als Gegengewicht zur Allmacht Hollywoods aufgefordert, will er dem japanischen Regisseur Masahiko Amakasu nun Emil Nägeli an die Seite stellen. Ausgerechnet einen Gruselfilm, noch dazu mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle, soll der schweizer Regisseur für die UFA umsetzen.
Eins sei gleich vorweg gesagt: Christian Krachts »Die Toten« polarisiert ebenso wie schon sein vorheriger Roman »Imperium«. Die wunderschöne, aber für viele Leser antiquiert wirkende Sprache, die Abwärtsschraube in die Dunkelheit, die nicht immer klaren Linien folgende Handlung und der satirische Humor sind nicht jedermanns Sache. Auch scheinen einige Kritiker, die sich mit Krachts Darstellung realer Nebenfiguren und der 30er Jahre nicht anfreunden können, den Unterschied zwischen Fiktion und Tatsachenbericht nicht verstanden zu haben.
Dennoch bin auch ich hin- und hergerissen: Ja, der Roman ist ein gut strukturiertes Kunstwerk und er transportiert wichtige Themen, doch konnte mich weder die Handlung hundertprozentig mitreißen, noch lud auch nur einer der Charaktere mich zur Identifikation ein. Dennoch hat sich dieses düstere Gebilde von einem Roman in meinem Kopf festgesetzt, hallt nach, lässt immer wieder Bilder aufflackern, an die ich dabei mit einer Mischung aus Unbehagen, Erkenntnis und Bewunderung für die Kunstfertigkeit des Autors denken muss.
»Es war der nasseste Mai seit Jahrzehnten in Tokio; das schlierige Grau des bewölkten Himmels hatte sich seit Tagen in ein tiefes, tiefes Indigo verfärbt, kaum jemand vermochte sich jemals an derartig katastrophale Wassermengen zu erinnern; kein Hut, kein Mantel, kein Kimono, keine Uniform saß noch, wie sie sollte; Buchseiten, Dokumente, Bildrollen, Landkarten begannen sich zu wölben; dort war ein widerspenstiger Schmetterling im Flug von Regenschauern hinab auf den Asphalt gedrückt worden – Asphalt, in dessen Vertiefungen voller Wasser sich abends die hellbunten Leuchtschilder und Lampions der Restaurants beharrlich spiegelten; künstliches Licht, zerbrochen und portioniert von arrhytmisch prasselnden, ewigen Schauern.
Ein junger, gutaussehender Offizier hatte diese oder jene Verfehlung begangen, weshalb er sich nun im Wohnzimmer eines ganz und gar unscheinbaren Hauses im Westen der Stadt bestrafen wollte.«
Kapitel 1 / Seite 11
Dieser Romaneinstieg ist beispielhaft für die Erzählweise, die Christian Kracht für »Die Toten« gewählt hat und ebenso für den sarkastisch-ironischen Unterton, der sich durch den gesamten Roman zieht. Dass der Offzier sich das Leben nimmt und dabei gefilmt wird, dass dieser Film mit der Bitte, ein deutscher Regisseur möge als Verbindung der japanischen und deutschen Filmindustrie nach Tokio reisen, nach Berlin geschickt wird, ist ein starker Einstieg in die Romanhandlung und macht deutlich, dass diese Art von Kunst weder Tabus noch Moral kennt.
Der Audio Verlag brachte ebenfalls im September die Hörbuchausgabe von »Die Toten« in zum Glück ungekürzter Fassung für EUR 19,99 heraus. Gelesen wird das Buch vom Hamburger Schauspieler Wanja Mues. Sie finden das Hörbuch hier. Eine Hörprobe finden Sie ebenfalls dort oder mit Klick aufs Bild. Das Hörbuch besteht aus 4 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 284 Minuten – ISBN: 978-3862319787.
Eine Besonderheit des Romans ist die gelungene Verwebung von historischen und fiktiven Personen und Fakten. Auch wenn weder Berühmtheiten des Filmgeschäfts der 1930er Jahre wie Heinz Rühmann, UFA-Direktors Alfred Hugenberg, die Filmkritiker Siegfried Kracauer und Lotte Eisner oder Charles Chaplin noch die von Christian Kracht erfundenen Regisseure Emil Nägeli und Masahiko Amakasu oder die Schauspielerin Ida von Üxküll in der Lage sind, große Sympathien zu wecken, so schafft ihr mehr oder weniger nachvollziehbares Verhalten dennoch genug Spannung.
Die Parallelen des in einem lieblosen Haushalt bei sehr grobschlächtigen Eltern aufgewachsenen Emil Nägeli und des von seinen Eltern aufgrund seiner Intelligenz abgelehnten Masahiko Amakasu, der im Alter von neun Jahren bereits sieben Sprachen beherrscht, sind nicht auf den ersten Blick sichtbar und doch hat ihre unglückliche Kindheit beide zum Film und damit letztlich zueinander geführt.
In Rückblenden in die Kindheit der beiden Hauptfiguren war ich von Mitgefühl erfüllt, auch wenn beide selbst zu diesem Zeitpunkt nicht übermäßig sympathisch wirkten. Auch Ida ist eine oberflächliche Person, deren Verhalten abstösst, dennoch war ich ihrem Schicksal gegenüber alles andere als gleichgültig.
Wie der Autor es schafft, diese Emotionen zu erzeugen, obwohl das Buch seltsam kalt bleibt und von einer dekadenten, egoistisch geprägten Zeit erzählt, bleibt ein Rätsel.
»Der Samen war also gepflanzt, einer schlafenden Rakete gleich, und nichts sollte sein dereinstiges Wachstum, seinen Sternenflug ersticken können, weder Masahikos vordergründige Verachtung der westlichen Welt noch die ganz offensichtlich auf Expansion und auf Erniedrigung anderer Völker ausgerichtete Seele Deutschlands, die der junge Mann so genau erfühlen konnte, als habe er wiederum seine Seele mittels ätherischer Konduktoren in sie eingestöpselt.«
Kapitel 15 / Seite 70
Das Buch folgt dem jo-ha-kiū-Konzept des dreiaktigen, japanischen Nō-Theaters, dessen Besonderheit in den drei unterschiedlichen Teilen liegt: dem jo – einem verheißungsvollen, doch langsamen Beginn, dem ha – der an Beschleunigung gewinnenden Mitte und dem kiū – dem Höhepunkt auf den sich die Handlung im dritten Teil möglichst direkt und in hoher Geschwindigkeit zubewegen soll.
»Die Toten« heißt auch die letzte Erzählung des irischen Schriftstellers James Joyce, deren filmische Umsetzung wiederum als letztes Werk des legendären Regisseurs John Huston in die Filmgeschichte eingegangen ist. Die joycesche Erzählung teilt mit Christian Krachts Roman die über allem schwebende These, dass die Toten die Lebenden nicht loslassen und dass manchmal die Lebenden in gewissem Sinn schon die Toten sind. Da Krachts Roman von einer Zeit vor dem 2. Weltkrieg erzählt, sind inzwischen natürlich auch all die Charaktere – ob fiktiv oder real – tot und doch für immer zwischen Buchdeckeln und auf Filmrollen gefangen und somit doch unsterblich.
»Amakasu und Nägeli haben sich eben im Flur sozusagen im Traum anamnetisch beschnuppert und sich ihres wahren Seins vergewissert; üblicherweise ist dies unter ihrer Sorte Menschen in Sekundenbruchteilen erledigt und man ignoriert sich fortan; der Weg von Wiedergeburt zu Wiedergeburt ist viel zu anstrengend und grausam, um ihn mit anderen Eingeweihten teilen zu müssen. Die Toten sind unendlich einsame Geschöpfe, es gibt keinen Zusammenhalt unter ihnen, sie werden alleine geboren, sterben und werden auch alleine wiedergeboren.«
Kapitel 34 / Seite 167
Fazit: Der bildgewaltig erzählte Roman ist mit vielen Anspielungen und Verweisen zu Filmen und historischen Ereignissen angereichert. Fehlendes Vorwissen mindert allerdings nicht das Lesevergnügen. Trotz der nicht leicht zu ertragenen Dünsternis begeistern die tiefe Symbolik und die surrealen, teilweise wie unter Drogeneinfluss entworfenen Szenen.
Christian Kracht bietet seinen Lesern in seinem aktuellen Roman nicht die Komfortzone der auf Tiefs folgenden Hochs, keine Atempausen, vielmehr ist »Die Toten« ein langer Fall, ein immer schneller werdender Sturz in tiefste Finsternis.
Obwohl die Lektüre bereichernd ist, sei hiermit vorgewarnt, wer sich darauf einlassen möchte.
Christian Krachts Roman »Die Toten« ist im September 2016 für EUR 20,00 im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen – gebunden, 224 Seiten, ISBN 978-3462045543.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Romane »Faserland«, »1979«, »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« und »Imperium« sind in 30 Sprachen übersetzt. 2012 erhielt Christian Kracht den Wilhelm-Raabe-Preis für seinen kontrovers diskutierten Roman »Imperium« und 2016 den Hermann-Hesse-Preis und den Schweizer Buchpreis für seinen Roman »Die Toten«.
Laila Mahfouz, 30. Januar 2017
Links:
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