Lesung am 11. Januar 2018 im Literaturhaus Hamburg: Eingeladen vom Literaturzentrum Hamburg stellte die französische Schriftstellerin Laurence Tardieu ihren Roman »So laut die Stille« vor. Die Autorin erzählt autobiographisch vom Verlust ihrer inneren und äußeren Sicherheit. Ausgelöst wird dieser Zustand durch die Pariser Anschläge 2015 und den bevorstehenden Verkauf des Elternhauses, das von jeher ihre Zuflucht und damit viel mehr als ein Ort der Erinnerung für sie war.
Handlung (Verlagstext):Januar 2015: Die Erzählerin schreibt an einem Roman über das Haus ihrer Kindheit in Südfrankreich. Es soll verkauft werden, und sie möchte die Erinnerungen daran retten. Die Anschläge von Paris auf die Redaktion von Charlie Hebdo reißen sie aus dem Schreiben heraus. Der Verlust des Gefühls von Sicherheit in der eigenen Lebenswelt färbt alles – auch der Verlust des großelterlichen Hauses erscheint in anderem Licht. Sich im Schreiben diesen Rückzugsort zu bewahren, der lange untrennbar mit ihrer Existenz verbunden war, wird zu einem aussichtslosen Projekt. In der Erinnerung an das unbeschwerte Leben in Nizza und im Erleben des veränderten Alltags in Paris sucht sie nach Antworten auf die Frage, was in einer zerfallenden Welt noch standhält. Sie versucht, in der Sprache selbst den Halt zu finden, den sie zum Weiterleben braucht – für sich, ihre Töchter und den Sohn, den sie zur Welt bringen wird –, bis die Attentate im November die Stadt erneut erschüttern.
Mit Kirsten Gleinig (links), die den Abend moderierte und für das Publikum dolmetschte und Patricia Paweletz (rechts), die aus der deutschen Übersetzung vorlas, stellte Laurence Tardieu ihr Buch »So laut die Stille« im Literaturhaus Hamburg vor.
Die Ich-Erzählerin, in diesem Fall Laurence Tardieu selbst, arbeitete gerade an einem Roman über das Haus ihrer Großeltern in Nizza, das ihr selbst immer schon Zuflucht und wahre Heimat war und das nach dem Tod der Mutter nun verkauft werden sollte. Sie wollte darüber schreiben, um zu bewahren, was mit dem Verkauf drohte, verloren zu gehen, so die Autorin. Doch obwohl dieser Verlust sie in den Grundmauern erschütterte, trat er hinter dem Entsetzen zurück, den die Anschläge von Paris 2015 in der damals schwangeren Schriftstellerin auslösten.
So vermischt Laurence Tardieu die eigene Verlustangst mit ihrer Angst vor dem Terror und vor dem Verlust der Freiheit und macht »So laut die Stille« zu einem intensiven, da authentisch erzählten Leseerlebnis. Die Welt, so Tardieu, sei ihr »unter die Haut gekrochen«. Die Ereignisse im Januar 2015 hätten »ein bodenloses Loch« in ihr »aufgerissen«.
»Die Grenzen wurden durchlässig, was außerhalb von mir geschah, konnte sich so ausdehnen, dass es mich überschwemmte, in mich hineinfloss. Doch Innen und Außen, Drinnen und Draußen bestanden unbestreitbar fort. Mein Körper sicherte die Grenze zwischen beiden.«
Teil 1 Zerfall / Seite 28
»[…] mein Körper kann die Grenze zwischen mir und der Welt nicht mehr sichern und mir wurde warm im tiefsten Innern wurde mir warm ich habe so lange gebraucht um mit meinem Körper leben zu lernen wie lange werde ich wohl brauchen um mit einem durchlässigen Körper leben zu lernen […]«
Teil 2 / Seite 70
Wie Laurence Tardieu im Gespräch mit ihrer Übersetzerin Kirsten Gleinig sagte, versuche sie beim Schreiben stets, das Innere, die Gefühle zu erforschen, denn das sei doch, was das Leben ausmache. Anfangs sei der vorliegende Text sehr intim gewesen, aber der Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und die Geiselnahme an der Porte de Vincennes im Januar 2015 hätten ihr Leben durcheinander gebracht, so dass sie nur die Möglichkeit sah, den äußeren Verlust des Hauses und den inneren Verlust der Sicherheit miteinander zu verbinden.
Sie sei beim Schreiben immer auf der Suche nach der richtigen sprachlichen Form, so Tardieu, denn der Rhythmus, der Ton sei es, der die Literatur nah an die Musik rücke. Tatsächlich zeichnet sich der Roman »So laut die Stille« durch eine ganz besondere Sprachmelodie aus. Sie suche in sich nach dem, was sie mit der Welt teilen will, knete die Worte durch wie ein Bildhauer den Ton, aus dem er eine Skulptur fertigt, sagte Tardieu. In zwei Kapiteln schreibt die Autorin einen Gedankenfluss als Bewusstseinsstrom, der sich trotz all der Schrecklichkeit der Ereignisse wie im Rausch liest:
»[…] sie haben elf Menschen von Charlie Hebdo getötet der Satz stößt mich um er ist stärker als ich er ist gewaltiger als ich er frisst mich auf er verschlingt mich ich lasse mich verschlingen ich werde verschluckt der Satz verschluckt mich ich verliere mich in dem Satz ich möchte aufwachen ich möchte etwas tun möchte aus dem Satz heraustreten ich möchte den Satz fangen ich möchte den Satz einschnüren ich möchte den Satz wieder beherrschen stärker sein als er ihn meinerseits verschlingen ihn verschlucken ihn mir aneignen ihn niedertrampeln ihn ersticken ihn hinausschreien schreien schreien […] ich will nicht mehr fallen ich will mein Baby nicht verlieren mein Baby soll in mir leben Leben statt Gemetzel Leben statt Massaker Leben an nichts anderes denken Leben Leben Leben […]«
Teil 1 Zerfall / Seite 33 – 35
Gerade im sechsten Monat schwanger mit ihrem dritten Kind (Laurence Tardieu hat am 25. April 2015 ihren Sohn Adam zur Welt gebracht), war die Französin besonders sensibel für alles, was die Sicherheit ihrer Familie bedrohen könnte. Für ihren Text rückte sie daher auch den eigenen Körper und die Empfindungen, die auf ihn hereinprasseln, ins Zentrum des Geschehens und lässt ihre Leser so hautnah miterleben, wie sie diese hormonell und durch die Erschütterungen aufwühlende Zeit erlebt hat.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte das großelterliche Haus in Nizza der ganzen Familie als Ferienhaus gedient, doch irgendwann wurde mehrheitlich beschlossen, das Haus zu verkaufen. Für Laurence Tardieu war es, als würde man ihr die Mutter und die Großeltern ein weiteres Mal nehmen. Als sie ihre eigene Familie dann noch durch die Anschläge in unmittelbarer Nähe bedroht sah, brach die Schwangere zusammen. Den Prozess des Zusammenbruchs sowie des nur allmählichen wieder Funktionierens schildert die Autorin detailliert. Doch auch von der stetig wachsenden und überall spürbaren Ausländerfeindlichkeit, vom Antisemitismus* und offen zur Schau getragenen Religionskennzeichen erzählt Laurence Tardieu. Auch die Parallelen ihrer Angst mit der Angst der Menschen in Kriegsgebieten lässt sie nicht aus und macht damit einen Alltag aus Angst für die westliche Welt spürbar, obwohl die gewaltigen Unterschiede nicht außer Acht gelassen werden. Ihren Umgang mit der Angst in den Monaten nach den Attentaten beschreibt sie u. a. so:
- Wobei hier schon auch der wörtliche Sinn, nämlich nicht allein eine Judenfeindlichkeit, sondern eine Feindlichkeit allen Semiten gegenüber passend ist. `Wikipedia: "Gegen Ende der Naziherrschaft wurde die Selbstbezeichnung „Antisemiten“ – auch in Hinblick auf arabische Verbündete – abgeschafft und z. B. durch „Judengegner“ ersetzt. Schon Dühring wollte im 19. Jahrhundert den Antisemitismus lieber als „Antihebraismus“ verstanden wissen." Wenn also eine Judenfeindlichkeit gemeint ist, sollte dieser Begriff zum besseren Verständnis nicht mehr benutzt werden. Am schönsten wäre es natürlich, wenn es solche Begriffe überhaupt nicht geben müsste! Übrigens: Müssten Menschen, die an die wörtliche Bedeutung der Bibel glauben, nicht alle Menschen (auch sich selbst) als Semiten also Nachkommen des Sohns Noahs betrachten?
»Ich ging jeden Tag spazieren. Ich ging und ging, hatte das Gefühl, ich müsse gehen, um irgendetwas wieder einzuholen, das mir entwischt war, etwas Wesentliches. Was dieses Etwas war, das alles wieder in den Fluss bringen sollte, wusste ich nicht. Mir schien ohnehin, ich könnte nie genug gehen, um es wiederzufinden. Ich lief, als versuchte ich dadurch, es wieder aufleben zu lassen. Es gelang mir nicht.«
Teil 2 / Seite 103
Auch wenn die Schriftstellerin sich mit den neuen Lebensumständen abfinden musste, gehen sie ihr immer noch sehr nah. Im Literaturhaus las sie erstmals seit dem Verkauf von Haus und Garten in Nizza öffentlich die Passage über den Magnolienbaum der Mutter, der nun in einem Garten steht, den sie nicht mehr betreten kann. Für ihre durchaus verständliche Emotionalität entschuldigte sich die Französin und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Mir ging dieser Moment beim späteren Lesen der Passage nicht aus dem Kopf und auch ich musste weinen – aus Empathie und weil wir alle unsere Mütter nicht für immer behalten können. Wohl dem, der einen Magnolienbaum der Mutter im Herzen bewahren kann, wie Laurence Tardieu dies gelungen ist.
Die eigene Schwangerschaft nahm Tardieu auch zum Anlass, an das entsetzliche Boko-Haram-Massaker in Nigeria 2015 zu erinnern. Im Vergleich zwischen ihrer Niederkunft, die sie als Wunder empfinden konnte, schildert sie den Moment, in dem während des Massakers eine gebährende Frau erschossen wird, nachdem ihr Kind, das gerade erst den Kopf in die Welt gestreckt hatte und noch nicht ganz geboren war, durch einen Kopfschuß starb. Szenen wie diese lassen die Ereignisse in Paris, so schrecklich und ungerecht sie auch sind, in einem anderen Licht erscheinen und zwingen die LeserInnen, ihre Meinung über Flüchtlinge jeder Art zu überdenken.
Die Geburt ihres Sohnes war für Laurence Tardieu zum Glück der Beginn einer neuen Zeit. Durch diesen Neubeginn lernte sie, die Augen weit aufzumachen und in alles einzutauchen, was sie umgibt, die Zeit auszudehnen und die Freude wiederzufinden.
»Heute Morgen, während ich die letzten Zeilen schreibe, scheint mir, dass etwas passiert ist, sich in mir verändert hat, als hätte ich eine lange, schmerzhafte, an sich unmögliche Reise hinter mich gebracht. […] Ich werde losgehen und meine Zettel abgeben, meine Worte abgeben, aufstehen und Neuland betreten, das ich mir nicht ausgesucht habe, sondern das hier auf mich gewartet hat, am Ende dieses Buches, in dieser Phase meines Lebens […] ich frage mich plötzlich an diesem Morgen, an dem ich hier aufrecht am neuen Ufer stehe, beide Füße fest am Boden, mein Haus für immer hinter mir, ob sie nicht das ist, die innere Freude, die ich mit aller Kraft gesucht habe seit dem 7. Januar.«
Teil 3 / Seite 158 + 160
Im Verlag edition fünf erschien der Roman in einer wirklich schönen Ausgabe mit geprägtem Titel, einem großen Foto und Vorwort der Autorin vorn und einem Nachwort von Husch Josten, das einer Liebeserklärung an Laurence Tardieu und ihr Werk gleichkommt.
Fazit: In ihrem Roman »So laut die Stille« macht Laurence Tardieu ihre eigenen Gefühle – Schmerz wie Freude – für ihre LeserInnen hautnah erfahrbar. In einer poetischen Sprache schildert sie, wie die Ereignisse auf ihre Innenwelt wirken und wie sie mit den neuen Lebenssituationen umgeht. Obwohl die Ereignisse und der Grundton des Buches traurig und verzweifelt sind, handelt es sich um ein kraftvolles Buch mit einem optimistischen, hoffungsvollen Ende. Die Lektüre ist ein sinnliches, eindrückliches und intensives Erlebnis, das ich jedem empfehlen kann.
»Schreiben ist für mich wie Atmen, durch das Schreiben bin ich in der Welt, mit anderen zusammen und bei mir.
Es ist mein Streben und mein Weg.«
Laurence Tardieus Roman »So laut die Stille« (Originaltitel »À la fin le silence«) ist in der Übersetzung von Kirsten Gleinig im August 2017 für EUR 19,00 in der Edition fünf erschienen – gebunden, 168 Seiten, ISBN 978-3942374897.
Über die Autorin: Laurence Tardieu wurde 1972 in Marseille geboren und lebt mit ihrer Familie in Paris. Bereits im Alter von sechs Jahren begann sie zu schreiben und hat seit 2000 zehn Bücher veröffentlicht. Dabei handelt es sich vor allem um autobiographisch geprägte Romane. Vor ihrem aktuellen Roman erschien auf Französisch zuletzt »Une vie à soi« bei Flammarion (2014). 2008 wurde »Puisque rien ne dure« ins Deutsche übersetzt (»Weil nichts bleibt, wie es ist«).
Laila Mahfouz, 24. April 2018
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