Lesung am 29. November 2017 im Rahmen der Nordischen Literaturtage veranstaltet vom Literaturhaus Hamburg: Sofi Oksanen stellte ihren Roman »Die Sache mit Norma« vor, der sich mit viel Gesellschaftskritik rund um die Ausbeutung von Frauen befasst. In einem gekonnten Genre-Mix zwischen Grimmschem Märchen und tagesaktuellem Thriller lässt Sofi Oksanen Normas Haar zum eigentlichen Hauptakteur werden, der sich in vieler Hinsicht selbstständig macht und für so manche magische und doch gruselige Überraschung gut ist.
Seit 1986 lädt das Literaturhaus Hamburg alle zwei Jahre Ende November zu den Nordischen Literaturtagen ein. Zum 16. Mal waren 2017 großartige SchriftstellerInnen am Schwanenwik zu Gast.
27.11.2017 20:00 Uhr – Island: Einar Kárason (»Die Sturlungen«) und Jón Gnarr (»Der Outlaw«)
28.11.2017 18:30: Norla (Norwegian Literature Abroad) – »New Voices«: Aus Norwegen, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse 2019, stellten Tiril Broch Aakre, Birger Emanuelsen, Nina Lykke und Andreas Tjernshaugen Ihre Texte vor, die noch nicht oder gerade erst ins Deutsche übersetzt worden sind.
28.11.2017 20:30 Uhr – Norwegen: Hanne Ørstavik (»Liebe«) und Maja Lunde (»Die Geschichte der Bienen«)
29.11.2017 18:30 Uhr – Finnland: Selja Ahava (»Dinge, die vom Himmel fallen«) und Sofi Oksanen (»Die Sache mit Norma«)
29.11.2017 20:30 Uhr – Schweden: Åsa Foster (»Und außerdem machen die Leute heutzutage so seltsame Dinge«) und Lina Wolff (»Bret Easton Ellis und die anderen Hunde«)
30.11.2017 18:30 Uhr – Dänemark: Mich Vraa (»Die Hoffnung«) und Carsten Jensen (»Der erste Stein«) – krankheitsbedingte Absage
30.11.2017 20:30 Uhr – Norwegen: Den Abschluss der Nordischen Literaturtage bildete die neunköpfige Band Ljodahått (spezifische Form der Dichtkunst in der »Edda«).
Im Folgenden wird Sofi Oksanens Roman »Die Sache mit Norma« vorgestellt.
Handlung (Verlagstext): Als Normas Mutter Selbstmord begeht, steht die dreißigjährige Tochter plötzlich alleine da. Die beiden waren ein eingeschworenes Team und sich darin einig, Normas Geheimnis – ihre Haare wachsen unnatürlich schnell – für sich zu behalten. Während Norma herauszufinden versucht, wie die Mutter wirklich starb, kommt sie einem global agierenden Clan rund um Haarverlängerung und Leihmutterschaft auf die Spur.
Dieser magische Roman beginnt mit einer Beerdigung: Die 30-jährige Norma Ross hat soeben ihre Mutter Anita verloren. Während Norma auf ihr Taxi wartet, kondoliert ihr ein unbekannter Mann, der sich als Max Lambert, ein alter Freund ihrer Mutter, vorstellt. Doch Lambert ist kein alter Freund, sondern der Inhaber des Frisiersalons, in dem Anita arbeitete. Norma glaubt nicht daran, dass ihre Mutter Selbstmord begangen hat, und sucht in ihrer Wohnung nach Hinweisen auf das, was wirklich geschehen ist. Dabei stößt sie auf verstörende Dokumente …
RAPUNZEL, RAPUNZEL, LASS DEIN HAAR HERUNTER!
Das bekannte Märchen »Rapunzel« aus den Aufzeichnungen der Brüder Grimm war eines der Lieblingsmärchen von Sofi Oksanen und auch das erste Buch, das sie in finnischer und nicht russischer Sprache las. So ist es nicht verwunderlich, dass das Märchen Ausgangspunkt für ihren Roman »Die Sache mit Norma« wurde, der daher auch märchenhafte Züge trägt und magische Elemente enthält. Bei genauer Betrachtung scheinen auch die Figuren dem Grimmschen Märchen entnommen: Rapunzel selbst und die Mutter, die es einerseits gut meint und sich auch um Rapunzel kümmert, sie aber andererseits massiv für ihre Zwecke ausnutzt, sind leicht zu erkennen. Der „Prinz“ allerdings kommt nicht gerade auf einem weißen Pferd dahergeritten und ob seine Absichten ehrenhaft sind, wird an dieser Stelle auch nicht verraten. Und da es sich um ein Märchen handelt, ist Norma, anders als vorherige Oksanen-Heldinnen, viel passiver und der Situation wie auch ihren Haaren eher hilflos ausgeliefert.
Was hat es mit Normas Haar auf sich? Steckt ein genetischer Defekt, Genmanipulation oder Vererbung dahinter? Normas Haar wächst innerhalb eines Tages um einen Meter, es reagiert massiv auf äußere Einflüsse, kringelt sich warnend, wenn etwas in der Luft liegt, das Norma schaden könnte und der Konsum der Haare als Tabak-Ersatz macht eindeutig süchtig. Die junge Frau kann am Geruch alles erkennen, was mit Haaren zu tun hat und sie verleihen ihr die Fähigkeit, Gesundheits- und Gemütszustand ihres Gegenübers zu erkennen.
Die Kleine war auf der Türschwelle erstarrt und trat unsicher von einem Bein aufs andere. […]
Eine Sonnenbrille verhüllte den Blick, die Nase bewegte sich, zitterte wie bei einem Tier.
Teil IV / Seite 98
Der Geruch von Haarstaub war ihr gleich auf den Eingangsstufen entgegengeschlagen, überall gab es Spuren von ihren Locken: in den Ritzen der Bodenleisten, an den Rändern des Frisierwagens, in der vor Haarnadelbeuteln überquellenden Schachtel. Sie erkannte unter den Gerüchen das letzte halbe Jahr ihres Lebens heraus, die Zufallsbekanntschaften und den Kater am Ersten Mai, die Veränderung durch die Nahrungsergänzungsspritze. […] Norma war eine gut veredelte Leghorn-Hybride geworden, die Veränderungen in der Ernährung hatten zu einer makellosen Haarproduktion geführt.
Teil IV / Seite 101 + 102
Sofi Oksanen prangert den internationalen Haarhandel an, der auf Ausbeutung der Frauen und teilweise auch auf Haarraub basiert. Denn das Geschäft mit Echthaar, inbesondere mit dem Prädikat Virgin Remy, für vollkommen unbehandeltes Naturhaar, hat sich zu einer richtigen Haar-Mafia entwickelt. Ob Rihanna oder Beyoncé – die Verwendung von menschlichem, jedoch fremdem Keratin-Körperschmuck nimmt in den USA, Europa und Afrika zu und beutet so immer mehr Frauen aus. Wie Oksanen schreibt, leben in Vietnam, das wie Indien, Thailand, China, Mexiko und die Ukraine zu den Hauptlieferanten der Haarmassen gehört, teilweise in vielen Gegenden nur noch kurzgeschorene Frauen, deren Haar äußerst beliebt ist. Ebenso wie bei uns symbolisieren aber auch in den Ländern, aus denen sie stammen, Haare Fruchtbarkeit und Schönheit. Doch woher das Haar der Extensions oder Perücken stammt, fragt selten ein Endkunde.
Außerdem thematisiert Sofi Oksanen die illegale Leihmutterschaft, die solch widerliche Auswüchse wie regelrechte Babyfabriken (absichtlich hier nicht in Anführungszeichen) entstehen lässt. Ob Nicole Kidman (die ihre Leihmutter als Gestational carrier also Brutmaschine bezeichnete), Sarah Jessica Parker oder Elton John, das Geschäft mit den Leihmüttern boomt.
Deutschland ist das Land mit den weltweit strengsten Regeln zur Fortpflanzungsmedizin und das ist auch gut so, denn mit einem Leben darf nicht gehandelt werden.
Mit »Die Sache mit Norma« hat sich Sofi Oksanen also wirklich viel vorgenommen. Sie verbindet hier ein faszinierendes Märchen mit aktuellen, gesellschaftlichen Themen, die brisanter kaum sein könnten, zu einem spannenden Krimi. Aber ist nicht jedes Märchen im Grunde ein Krimi? Zumeist geht es um Entführung, Hinterlist, Betrug, Verrat, Erpressung und Mord. So gesehen hat Sofi Oksanen ihren Plot zu Recht märchenhaft gewürzt.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich Menschen, ohne medizinische Notwendigkeit, mit den Haaren anderer Menschen schmücken, da sie sich nur um die Pflege ihres Schönheitswahns sorgen und nicht um die Existenz und das Wohlergehen der Menschen, von denen die Haare stammen. Wie ist es um eine Welt bestellt, in der Kinder auf Knopfdruck bestellbar sind wie eine Pizza mit Wunschbelag?
Wie schön wäre es, die wahrhaft haarsträubenden Machenschaften von Haarbetrug, Haarraub, illegaler Leihmutterschaft und Menschenhandel wären nur Fiktion, ein Gruselmärchen für die Nervenstarken. Leider ist es jedoch die bittere Wahrheit, die »Die Sache mit Norma« zu einem Thriller für starke Nerven macht. Bei solch dekadenten Machenschaften, die uns als Normalität verkauft werden, kann ich einmal mehr nur denken: Panem ist genau dort, wo diese Dekadenz gelebt wird!
Anfangs versucht Norma nur herauszufinden, warum ihre Mutter sich das Leben nehmen wollte und ihr nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Schon bald ist Norma jedoch mittendrin in dem kriminellen Wirrwarr der weltweiten Ausbeutung der Frauen und dabei kommt sie dem Clan-Oberhaupt, Max Lambert, in die Quere. Welche Rolle sie und ihr Haar dabei spielen, wird ihr erst nach und nach klar.
Aber auch zwei Stimmen aus der Vergangenheit lassen Norma keine Ruhe: Sie entdeckt Videoaufzeichnungen ihrer Mutter, die sie sich anschaut, um die Hintergründe um die Machenschaften ihrer Mutter zu verstehen. Dort erfährt sie aber auch von ihrer Urgroßmutter Eva, die mit Norma offenbar das haarige Problem teilte oder es ihrer Urenkelin sogar vererbt hat. Vorbild für Oksanens Eva ist u.a. die Legende um Elizabeth Siddals Haar. Doch die Geschichten um Eva und ihr Einfluss auf Menschen noch über ihren Tod hinaus, trägt durchaus hexenhafte Züge. In der Vergangenheit nahm Eva Besitz von Helenas Seele (der ersten Ehefrau von Max Lambert), die daraufhin für verrückt erklärt wurde. Doch auch Anita, Normas Mutter, kann sich dem Einfluss der Haar-Urmutter nicht entziehen. Ob Eva am Ende auch Norma für ihre Machenschaften ausnutzen kann, sei hier ebenfalls nicht verraten.
»Wenn ich anfange, weiß ich meistens nicht, wie es endet oder was auf dem Weg passieren wird. Erst in der Überarbeitung kommt die Struktur hinein.
So wird es für mich ebenso zum Abenteuer wie für die Leser.«
So Sofi Oksanen bei der Lesung im Literaturhaus Hamburg
Fazit: Der 1977 als Tochter eines finnischen Vaters und einer estnischen Mutter geborenen Sofi Oksanen gelingt mit »Die Sache mit Norma« ein ganz besonderer Genre-Mix. Routiniert bewegt sich die Erfolgsautorin zwischen Krimi, Märchen, Thriller und Gesellschaftskritik. Außerdem wechselt sie gekonnt die Perspektiven zwischen Norma, Marion (der Kollegin der Mutter im Frisiersalon und Tochter Lamberts) und den Aufzeichnungen der Mutter.
Sofi Oksanens Roman um die systematische Ausbeutung von Frauen auf der ganzen Welt ist mit einer gehörigen Portion Spannung geschrieben und doch viel mehr als ein Unterhaltungsroman. Die Autorin hat eine klare Botschaft und die geht manchmal zwar ein wenig zulasten der Figurenausarbeitung, aber mal ehrlich, in welchem bekannten Märchen wäre dies anders?
Empfehlen kann ich »Die Sache mit Norma« allen, die sich für spannende Thriller mit aktuellen Themen begeistern können und bereit sind, sich auf Oksanens Märchen-Mix einzulassen. Sie werden es sicherlich nicht bereuen.
Sofi Oksanens Roman »Die Sache mit Norma« (Originaltitel »Norma«) ist in der Übersetzung von Stefan Moster im März 2017 für EUR 22,00 im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen – gebunden, 352 Seiten, ISBN 978-3462049633.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman, »Fegefeuer«, war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Finlandia-Preis, dem Literaturpreis des Nordischen Rates und dem Prix Femina. Der Roman erschien in über vierzig Ländern und machte die Autorin auch in Deutschland zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der internationalen Gegenwartsliteratur. Sofi Oksanen lebt in Helsinki.
Laila Mahfouz, 11. April 2018
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In diesem kurzem Video spricht Sofi Oksanen über ihre Vorliebe für Purpur und das Aufwachsen in zwei völlig unterschiedlichen Sozialsystemen.
Informationen auf den Seiten des Kiepenheuer & Witsch Verlages finden Sie hier.
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