Lesung am 8. November 2017 in der Bücherhalle Altona: Eingeladen vom Italienischen Kulturinstitut Hamburg stellte Dacia Maraini ihren Roman »Das Mädchen und der Träumer« vor, in dem die inzwischen 81-jährige Grand Dame der italienischen Literatur erstmals einen männlichen Erzähler, den Grundschullehrer Nani Sapienza, in den Vordergrund einer Geschichte rückt.
Handlung (Verlagstext): Träume sind Bruchstücke einer Wirklichkeit. Das weiß der Lehrer Nani Sapienza, als er von einem Mädchen träumt, das seiner verstorbenen Tochter ähnlich sieht. Nachdem er am Morgen danach von der vermissten Lucia im Radio hört, ist er überzeugt, dass sie ihm im Traum erschienen ist. Lucia ist spurlos verschwunden, und nach Wochen der vergeblichen Suche geben Polizei und Eltern auf. Nur Nani hört nicht mit seinen Schlussfolgerungen und besessenen Nachforschungen auf und zieht den Argwohn der Kleinstadt auf sich – aber seine Schüler der vierten Grundschulklasse, die nie genug von den wundersamen Erzählungen ihres Lehrers bekommen, bringt er zum Nachdenken. Die Suche nach Lucia wird bald zu einer Suche nach sich selbst.
Für ihren Roman »Das Mädchen und der Träumer« entwarf Dacia Maraini eine Kleinstadt irgendwo in Norditalien, in dem Nani Sapienza lebt und als Grundschullehrer arbeitet. Sein Nachname bedeutet etwa „der Wissende“ oder „der Weise“ und Dacia Maraini zeigt durch die Verwendung des Namens ihren Respekt für die sizilianische antikonformistische Sozialistin, Schauspielerin, Schriftstellerin und Verlegerin Goliarda Sapienza (1924-1996), die Nani Sapienza im Roman auch erwähnt. Seine Person umgibt von der ersten Seite an Schwermut und Dunkelheit, denn er hat erst kürzlich seine geliebte Tochter Martina im Alter von nur acht Jahren durch Leukämie verloren, woraufhin sich auch seine Frau Anita von ihm getrennt hat. Sapienza, ein ausgeprägter Familienmensch, leidet an der Einsamkeit und kann die Trauer um seine Tochter nicht loslassen.
Doch Trauerbewältigung allein ist hier nicht das Thema. In einem fiebrigen Traum glaubt Nani Sapienza der kleinen, einen Tag zuvor verschwundenen Lucia begegnet zu sein und nimmt nach der ersten Enttäuschung darüber, nicht von seiner Tochter geträumt zu haben, den Traum als Aufforderung, das Kind zu suchen. Psychologisch ist besonders spannend, mit welcher detektivischen Energie er fortan seine Suche und seine Nachforschungen betreibt. Unbewusst meint er, das Mädchen retten zu müssen, da er seine eigene Tochter nicht hatte retten können.
»Ich haste durch die nebelverhangene Straße. […] Ich stoße beinahe mit einem Mädchen zusammen, das wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. […] Das rote Mäntelchen, der schmale blasse Hals, die zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebundenen kastanienbraunen Haare, der leicht watschelnde Gang … Das ist meine Tochter! Ich rufe: „Martina!“ Das Mädchen bleibt auf dem Bürgersteig stehen und fährt ruckartig herum, als hätte ich einen Stein nach ihr geworfen. […] Das ist nicht Martina, denke ich enttäuscht […]«
Kapitel 1 / Seite 5
Möglich, dass Dacia Maraini dabei an ihr eigenes Kind gedacht hat, welches sie im achten Monat verlor. Eventuell setzte sie also in diesem Buch fort, was sie 1997 mit dem Roman »Der blinde Passagier an Bord. Nachdenken über ein nie geborenes Kind« (»Un clandestino a bordo«, 1996) begonnen hat. Auch ist ihr 25 Jahre jüngerer Lebensgefährte, der Künstler Giuseppe Moretti (1961-2007) an Leukämie gestorben – ebenso wie Nani Sapienzas Tochter Martina.
Während Lucia spurlos verschwunden bleibt und die Polizei bereits nach wenigen Wochen den Fall zu den Akten legt, gibt Nani Sapienza die Hoffnung nicht auf, das Mädchen noch lebend zu finden.
Für »Das Mädchen und der Träumer« nutzt Dacia Maraini – wie schon in früheren Romanen – die Form eines Kriminalromans. Allerdings vermischt sich das Genre hier mit einigen anderen und obwohl der Leser miträtseln kann, ist die Geschichte nicht klassisch erzählt. Nani Sapienzas Wunsch nach einer Familie, danach Vater zu sein, erhält viel Raum und erklärt auch seinen Beruf. Der Umgang mit Trauer und dem Umgang mit Trauernden in unserer Gesellschaft wird ebenso thematisiert wie insbesondere die leider brandaktuellen Fakten der stetig anwachsenden Zahlen vermisster Kinder und den Fällen der Kinderprostitution. Träume spielen ebenfalls eine große Rolle. Sie werden ebenso ernst genommen, wie der Grundschullehrer die Gedanken seiner Schüler ernst nimmt. Insgesamt entsteht so das Psychogramm der italienischen Gesellschaft in einer Kleinstadt.
Eine faszinierende Stimme im Roman ist auch der imaginäre Rabe, der immer wieder auf Sapienzas Schulter Platz nimmt und ihm seine Meinung sagt.
Wie die Grille in Carlo Collodis »Pinocchio« scheint der Rabe sein Gewissen zu sein, das alles entschieden eigenwillig, altklug und doch manchmal auch tröstlich kommentiert. Dacia Maraini stellt in »Das Mädchen und der Träumer« Bezüge zu vielen Werken der Weltliteratur her. Da ist natürlich Geppetto, der sich aus verzweifeltem Wunsch nach Vaterschaft mit Pinocchio einen eigenen Sohn schnitzt. Doch auch Zitate oder Elemente aus Lewis Carrolls »Alice im Wunderland«, Grimms »Rotkäppchen« oder Dostojewskis »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« kommen vor, wenn der begeisterte Leser Nani Sapienza, seine Schüler durch das Geschichtenerzählen für Literatur zu begeistern versucht und sie gleichzeitig zu Mitwissern seiner Suche macht.
Ganz nebenbei nimmt »Das Mädchen und der Träumer« trotz all der kritischen Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Zeit selbst immer märchenhaftere Züge an. In einprägsamen Bildern schildert Dacia Maraini die täglich in unser aller Leben herein prasselnden Berichte über Kindesmissbrauch und Gewalt an Kindern und schafft es dennoch immer wieder, die Fäden ihrer Geschichte wieder aufzunehmen und mit dem Tagesgeschehen zu verknüpfen.
»[Die Bürger] sind davon überzeugt, dass keiner von ihnen etwas mit diesem abscheulichen Verbrechen zu tun hat, über das zwar nicht mehr gesprochen wird, den Sensibleren aber noch immer auf der Seele liegt. Kluge Menschen sagen, dass man sich von der Ungewissheit nur dann befreien kann, wenn man das Rätsel löst und es nicht irgendwo ungeklärt beerdigt. Auch wenn wir heute daran gewöhnt sind, alles zuzuschütten, sogar diesen hochgefährlichen Müll [siehe »Das Gift der Mafia«], ein bisschen Erde drüber und man ist das Problem los! Aber hin und wieder wird die Erde aufgebuddelt und es beginnt zu stinken. Und die Gerüchteküche brodelt wieder.«
Kapitel 35 / Seite 206 + 207
Erschreckenderweise kann der Leser auch Nani Sapienza nicht von einem Verdacht ausnehmen. Vielleicht sind seine Bemühungen nur Fassade zur Vertuschung seiner Tat? Vielleicht ist der Rabe nicht nur ein zweites Ich, das aufgrund seiner Einsamkeit einen größeren Raum beansprucht? Vielleicht weiß er nicht, was er getan hat? Vielleicht ist sein Wunsch nach Vaterschaft und seine Berufswahl einem kranken Bedürfnis geschuldet? Dacia Maraini lässt ihre Leser nachvollziehen, welche Gedanken in den Köpfen der Kleinstadtbewohner umhergeistern müssen. Wer kann von einem Verdacht schon wirklich ausgenommen werden, wenn überall täglich derartige Verbrechen geschehen. »Das Mädchen und der Träumer« beschönigt nichts, wirft Fragen auf, lässt zweifeln, tut weh. Wie u. a. die Süddeutsche Zeitung schon vor ein paar Jahren schrieb, ist im Ausland jeder siebte Freier beim Sex mit Kindern aus der Bundesrepublik. In dieser traurigen Statistik werden die Deutschen nur noch von den italienischen Touristen übertroffen, die noch häufiger Sex mit Kindern haben. All diese unverrückbaren Fakten, die während und nach der Lektüre von »Das Mädchen und der Träumer« nicht ignoriert werden können, machen das Buch zu wirklich schwerer Kost.
Drei Jahre hat Dacia Maraini an ihrem Roman »Das Mädchen und der Träumer« gearbeitet. Sehr sorgfältig hat sie recherchiert und auch durchgehalten, als sich unter ihr der Sumpf der menschlichen Gräueltaten immer mehr ausbreitete. Durch ihre Recherche bei Amnesty International hat sie zum Beispiel erfahren, wie oft wehrlose Kinder, die als verschwunden gemeldet wurden, durch Menschenhandel in der Kinderprostitution enden. Allein in Europa gehen die Fälle von vermissten Kindern jährlich in die Tausende. Es muss eine enorme Anstrengungen gekostet haben, all dies zu einem Roman zu verflechten, doch der als das „aufgeklärte Gewissen“ der italienischen Gesellschaft geltenden Maraini merkt man diese Mühen nicht an.
Dacia Maraini steht für das Prinzip der littérature engagée und ist der Auffassung, ein Schriftsteller habe die Pflicht, zu aktuellen Fragen Stellung zu nehmen, seine Meinung zu sagen, eine klare Position zu vertreten. »Er kann nicht am Fenster bleiben, nur Betrachter bleiben, sondern muss sich in aller Öffentlichkeit die Hände auch mal schmutzig machen. Das gilt um so mehr, wenn seine Stimme bekannt ist und wahrgenommen wird«, sagte sie in einem Interview. So prangert Maraini in ihrem Roman nicht nur die Gewalt an Kindern an, sie kritisiert das gegenwärtigen Schulsystem und einige andere Themen des gesellschaftlichen Lebens. Auch der Neorassimus mache ihr große Sorgen, so Maraini. Sie wünscht sich daher mehr denn je Lehrer, die den Kindern von Anfang an Empathie, Solidarität und Toleranz vorleben und sie dazu erziehen, wie es ihr Lehrer Nani Sapienza im Roman tut:
»Wenn wir den Gedanken eines großen griechischen Philosophen folgen wollen, der die Menschen und die Tiere gleichermaßen liebte, dann handeln wir uneigennützig und ethisch verantwortungsvoll, aber wenn wir das nicht wollen, und Hühnchen und Schweinefleisch essen, dann ist das auch in Ordnung. Jeder sollte frei und für sich selbst entscheiden können. Jeder Zwang ist schecht. Du hast die Freiheit, Grillhähnchen zu essen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Und ich habe die Freiheit, die Massentierhaltung anzuprangern, die meiner Meinung nach nichts anderes ist als das Leben in den Vernichtungslagern der Nazis. Und darauf hinzuweisen, dass die Tiere, auch wenn sie sowieso irgendwann getötet werden und portioniert auf unserm Teller landen, ein Recht auf ein bisschen glückliches Leben in Freiheit haben, und nicht in einem Käfig dahinvegetieren müssen, wo sie eingepfercht, mit Wachstumshormonen gemästet und mit Medikamenten vollgestopft werden, damit sie nicht an Tuberkulose erkranken.«
Kapitel 45 / Seite 249
Dacia Marainis Roman »Das Mädchen und der Träumer« ist in vielerlei Hinsicht ein ganz besonderes Buch. Es verbindet Themen und Genres, erschüttert, verzaubert und berührt gleichermaßen. Die Zusammenführung von erschreckenden Wahrheiten und Nachrichtenmeldungen mit einer fiktiven Geschichte ist nicht leicht und mutiert an manchen Stellen ein wenig zu faktischem Sachtext. Dadurch, dass Dacia Maraini diese Stellen einem Lehrer in den Mund legt, der Wissen vermitteln will und daran glaubt, dass seine Arbeit etwas in der Welt verändern kann, legitimiert es aber auf jeden Fall.
Zu dem Buch aus dem Folio Verlag sei noch gesagt, dass das von der italienischen Originalausgabe übernommene Titelbild unglaublich gut passt. Dass der Verlag weder den Künstler noch den Rechteinhaber ausfindig machen konnte, passt ebenso zu dem Roman, wie die Vorstellung, dass das Motiv ein Traumbild des Künstlers gewesen sein muss, dass er nicht vergessen konnte. In einem Interview und während der vom Italienischen Kulturinstitut Hamburg veranstalteten Lesung erklärte Dacia Maraini, welche Bedeutung Träume für sie selbst haben:
»Man darf keine rationale Erklärung von Träumen suchen. Träume sind Zeichen, sie schlagen Alarm. Träume sind ein wenig wie Fieber. Das Fieber sagt auch nicht, welche Krankheit man hat, sondern dass etwas nicht stimmt mit dem Körper. Träume sagen etwas über den Zustand des Unterbewusstseins aus. Träume haben eine geheimnisvolle Sprache, die sich nicht mit der Vernunft wahrnehmen lässt – dafür muss man in die Tiefe gehen.«
2011 veröffentlichte Dacia Maraini ein sehr persönliches Buch mit dem italienischen Titel »La grande festa« (»Das große Fest«). Hier erzählt sie von ihren Träumen, in denen sie ihren schon verstorbenen Lieben begegnet ist, u. a. ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Alberto Moravia, oder ihrem letzten Lebensgefährten, dem Schauspieler Giuseppe Moretti. Leider ist das Buch bisher nicht in deutscher Übersetzung erschienen.
Und als die immer noch reisefreudige Dacia Maraini im November 2017 für »Das Mädchen und der Träumer« ihre Lesereise durch Deutschland machte, war in Italien bereits am 26. Oktober 2017 ihr neuester Roman »Tre donne« (»Drei Frauen«), eine Geschichte über drei Frauengenerationen, erschienen, für den bisher noch kein Datum für eine Veröffentlichung in deutscher Sprache bekannt ist.
Obwohl sie noch so jugendlich wirkt, feierte die große alte Dame der italienischen Literatur am 13. November 2017 ihren 81. Geburtstag. Während der Lesung schrieb sie immer wieder in ihr Notizbuch, so dass wir hoffen können, dass sie noch lange nicht am Ziel ihrer schriftstellerischen Reise angekommen ist.
Fazit: Dacia Marainis Roman »Das Mädchen und der Träumer« macht es seinen Lesern nicht leicht. Die Themen liegen schwer im Magen und lassen sich auch nach der Lektüre nicht einfach wieder verscheuchen. Doch eben dies ist von der Schriftstellerin beabsichtigt und macht »Das Mädchen und der Träumer« zu einem wichtigen Buch für unsere Zeit, in der unsere Gesellschaft an allen Ecken und Enden krankt.
Sehr gelungen ist das Rätseln um den wirklichen Täter und die Angst, es könnte sich einer der netten Bewohner der Kleinstadt als solcher entpuppen. Auch die Figur des Raben, als „rabenschwarzes Gewissen“ eines idealistischen Träumers ist erfrischend und belebt die Schwermütigkeit des Stoffs.
Eine Empfehlung ist der Roman auf jeden Fall insbesondere für Menschen, die bereit sind, sich mit den genannten Themen auseinanderzusetzen und sich nicht scheuen, Parallelen zu ihrem eigenen Leben zu ziehen.
Dacia Marainis Roman »Das Mädchen und der Träumer« (Originaltitel »La bambina e il sognatore«) ist in der Übersetzung von Ingrid Ickler im Februar 2017 für EUR 22,00 im Folio Verlag erschienen – gebunden, 319 Seiten, ISBN 978-3852567150.
Über die Autorin: Dacia Maraini wurde 1936 in Fiesole geboren und wuchs in Japan und Sizilien auf. Die Grande Dame der italienischen Literatur pflegte enge Freundschaften zu Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini. Sie war Mitglied der italienischen Schriftstellergruppe 63 („Gruppo 63“), die sich in den 1960er Jahren der progressiven Literaturbewegung der „Neoavanguardia“ zurechnete. Sie wurde mit zahlreichen Preisen für ihr Werk ausgezeichnet und wird immer wieder auch als italienische Anwärterin auf den Nobelpreis für Literatur gehandelt. Ihre Bücher sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Zuletzt auf Deutsch erschienen: »Die stumme Herzogin« (2002), »Bagheria. Eine Kindheit auf Sizilien« (2002), »Gefrorene Träume« (2006).
Laila Mahfouz, 27. März 2018
Links:
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Die Rechte der Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Informationen auf den Seiten des Folio Verlages finden Sie hier.
Die Website von Dacia Maraini finden Sie hier.
Ein ausführliches Interview mit Dacia Maraini zu ihrem Roman »Das Mädchen und der Träumer« finden Sie hier.
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