Heinrich Steinfests mit dem Bayerischen Buchpreis 2016 ausgezeichneter Roman »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« bewegt sich unaufhörlich zwischen Wirklichkeit und Traumwelt und ist somit eher nichts für Realisten. Dem, der sich darauf einlässt, werden sich allerdings erstaunliche Dinge offenbaren.
Handlung (Verlagstext):Kann man ein ganz gewöhnlicher Pariser Bahnhofsspatz sein und gleichzeitig ein deutscher Kommissar namens Blind? Kann es in Belfast ein Hochhaus mit einer geheimen Etage geben, das für Spatz und Kommissar lebenswichtig ist, obwohl dieser Wolkenkratzer doch nie gebaut worden ist? Und vor allem: Kann an einem verborgenen Ort das Wrack eines gewissen Flugzeugs der Malaysia Airlines liegen, das doch erst Monate später spurlos verschwinden wird?
Wer die Romane Heinrich Steinfests kennt, weiß: In seinen Welten ist das alles ein Leichtes. Seine Gratwanderung zwischen Phantastischem und Realität gerät ihm auch diesmal wieder zu einem hochliterarischen Drahtseilakt, der die Lektüre dieses Romans zu einem überaus spannenden, ja atemberaubenden Vergnügen macht.
Heinrich Steinfest wurde für seine Kriminalromane bereits mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis und anderen Preisen ausgezeichnet. Seine Romane »Ein dickes Fell« und »Der Allesforscher« waren 2006 und 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für seinen zuletzt erschienenen Roman »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« erhielt der Wahl-Stuttgarter im Winter 2016 den Bayerischen Buchpreis. In der Begründung der Jury hieß es Steinfest sei in seiner Surrealität einer der realistischsten Autoren der Gegenwart, der in seinen ganz und gar unberechenbaren Romanen der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts seinen geistreichen Spiegel vorhalte.
Unberechenbar sind seine Romane wirklich. Wurde über den Roman berichtet, dann dass die Romanhandlung von »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« darauf beruhe, dass ein Spatz träumt ein Kommissar zu sein, der träumt ein Spatz zu sein, aber was es damit auf sich hat, ist wirklich aberwitzig und nicht einfach in Worte zu fassen.
Die Handlung von »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« ist ein grandioses Verwirrspiel. Jede Person hat in der Traumwelt einen Traumpartner, der – für die anderen – nicht erkennbar zu einer bestimmten Person in der „Wirklichkeit“ gehört. Bis Kommissar Blind oder sein Traumpartner, der smarte Spatz Quimp, die richtigen „Paare“ ausmachen können, wird die Situation oft schon bedrohlich.
Quimp jedenfalls ist einfach nur ein junger, naiver Spatz, der seine Tage damit zubrachte, am Pariser Bahnhof Montparnasse Krümel von Bistrotischen aufzupicken, als ihm plötzlich ein anderer Spatz auf den Kopf fällt und ihn auf eine wichtige Mission schickt. Seine Reise führt Quimp nach Wien, London, Belfast und zurück nach Wien. Das alles könnte er genießen, wäre nicht der Bösewicht Nybråten hinter ihm und seinen neuen Freunden, den Sperks, her.
Wenn Quimp von all seinen Abenteuern erschöpft einschläft, dann ist die Zeit für Kommissar Blind gekommen, der ebenfalls einer gefährlichen Spur folgt und sich auch noch Hals über Kopf verliebt. Ebenso wie Quimp übrigens. Doch der eine kann immer nur am Leben teilhaben, wenn der andere schläft – eine vertrackte Situation.
In »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« dreht sich alles ums Fliegen, so eben auch um all die Wesen oder Dinge, die fliegen können – vom Spatz bis hin zum Flugzeug. Der selbst unter Flugangst leidende Steinfest hat sich damit seiner Angst gestellt. Ängste, so sagte er im Interview mit seinem Verlag, sind für ihn die Triebfedern des Schreibens. In die Flugabenteuer und Gedanken seines Pariser Spatzen Quimp jedenfalls kann Heinrich Steinfest sich so gut einfühlen, dass der Leser schon mal vergessen kann, dass ein menschlicher Autor und ein ebenso menschliches Gehirn hinter dieser Geschichte steckt. Allerdings sind die Buchteile, die in der Spatzenwelt verortet sind, spannender, witziger und auch einfach lebendiger ausgefallen. Blinds Welt wirkt dagegen leider manchmal ebenso farblos wie der Teint des 56-jährigen Kommissars. Vielleicht bewirkt ja das seit einer Transplantation in Kommissar Blinds Brust schlagende Herz eines Skifahrers, dass er so unterkühlt wirkt. Oder vielleicht wollte Heinrich Steinfest einfach den größtmöglichen Gegensatz zu dem quirligen Spatzen Quimp schaffen, der mit viel Humor die Welt der Menschen und seine jeweilige Situation kommentiert.
Die Wahrheit lässt sich nicht vermitteln. Sie ist wie diese Leute, die über fünfzig sind und die niemand mehr anstellen möchte. Es ist immer nur die halbe Wahrheit, die einen Job kriegt.
Kapitel 6 / Seite 97
Was Heinrich Steinfest davon hält, dass nur Kindern erlaubt ist, Phantastisches – wie etwa Sprechende Tiere – zu sehen oder an sie zu glauben, ohne für verrückt gehalten zu werden, macht der Autor schon im ersten Kapitel deutlich. Ärgerlich macht ihn wohl, dass so eine Wahrnehmung selbst bei Kindern für die meisten Erwachsenen nicht etwa als Zeichen für Klugheit oder Weitsicht gilt, sondern doch eher als Zeichen für eine äußerst naive, wenn nicht gar blödsinnige Weltsicht.
Heinrich Steinfest hat sich seine kindliche Weitsicht jedenfalls zum Glück bewahrt. So können sich seine Leser an seinen Geschichten erfreuen, die surreale Elemente vorweisen, aber dennoch oder gerade deswegen viele Bezüge zur Wirklichkeit aufzeigen.
Wie sehr das Phantastische immer nur aus der Ferne phantastisch wirkte. Gemäß dem alten Spatzenspruch: Man hält sich so lange für ein Ei, bis man daraus hervorbricht und begreift, dass fliegende Wesen kein Märchen sind.
Kapitel 5 / Seite 84
Viel Freude bereitet es auch, zwischen den Zeilen zu lesen. Heinrich Steinfest lässt seine Figuren ganz nebenbei über viele wichtige Themen diskutieren und philosophieren. Da geht es um die Mehrklassengesellschaft, Fast Food, Geldwirtschaft, Krieg, unser Konsumverhalten, Religion, das Verschwinden eines Flugzeugs der Malaysia Airlines auf dem Flug von Kuala-Lumpur nach Peking im März 2014, die Unabhängigkeit Schottlands und Irlands oder auch um Terrorismus. Diese immer wieder hier und da eingestreuten Bezüge zu unserer Welt und unserem realen Wahnsinn machen »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« zu mehr als einem phantastischen Roman. Die aktuelle Weltgeschichte wird nebenher verhandelt, auch wenn der Leser dafür manchmal zwischen den Zeilen lesen muss.
»Ganz typisch für die Menschen«, meinte O’Neill. »Egal, was sie unternehmen, sie nennen es einen Kampf gegen den Terrorismus. […] Einer schreit Terrorismus, und alles ist erlaubt.«
Kapitel 20 / Seite 301
Heinrich Steinfest schuf für den Roman großartige Figuren, denen der Leser gern auf ihrer irrwitzigen Reise folgt. Einige von ihnen, wie zum Beispiel der Parachutist, tauchen aber schon recht bald nicht mehr auf und werden nur noch ab und an erwähnt, was sehr schade ist.
Wie Steinfest im Interview sagte, sind Blind und Quimp jeweils von ihrer eigenen Existenz überzeugt, wissen aber auch, dass es der Traumpartner ebenso sieht. Traum und Wirklichkeit sind in »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« absolut nicht trennbar. Keiner der Romanfiguren scheint diese Grenze wirklich überschreiten zu können. Doch da ist der Junge, der sich in Quimps Welt Clemens und in Blinds Parallelwelt Frederik nennt. Er kann sich fast wie die Katze in Coraline zwischen den Welten bewegen, hat viel mehr Handlungsspielraum als alle anderen, ohne dass ihn dieser Umstand verwirrt oder bremst wie die Erwachsenen. Vielleicht weil er noch nicht mit all den Dogmen geimpft ist, die den Erwachsenen eine Phantasie-Sperre verpassen. Von Clemens bzw. Frederiks Sicht auf die Handlung hätte ich gern mehr gelesen. Doch die Lieblingsfigur ist und bleibt der Spatz Quimp.
So vergingen Wochen ohne Traum. […] Mir blieb verborgen, was mit Kommissar Blind geschah, beziehungsweise kam mir der Gedanke, in all der traumlosen Zeit würde Kommissar Blind nicht wirklich existieren – also genau in der Weise, die es mit sich gebracht hatte, daß Blind dort drüben, in seiner eigenen Welt, siebenundvierzig Tage verschollen gewesen war; wie auch er selbst nicht hätte sagen können, wo und wie er diese Tage verbracht hatte.
Kapitel 26 / Seite 398
Die Ausstattung des Buches ist sehr schön – gebunden mit einem Schutzumschlag und einem Lesebändchen. Heinrich Steinfest war lange Bildender Künstler und so ist es nicht verwunderlich, dass er – wie schon für seine letzen beiden Romane »Der Allesforscher« und »Das grüne Rollo« – das Titelbild für »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« sowie einige Illustrationen für das Buch selbst angefertigt hat. Seine Bilder wie seine Geschichten sind von surrealer Kraft und erlauben Einblicke in fremde Welten oder in den Kopf des Autors.
Innen im Umschlag ist vorn die Zeichnung mit einer Liste aller vorkommenden Personen im Roman (hier unten links im Bild) – hier kann nachgeschlagen werden, falls der Leser unsicher ist, welche Figur in welcher der beiden Welten zu Hause ist. Innen im Umschlag hinten sind all die Wegstrecken des Spatzen Quimp und des Kommissars Blind in einer Zeichnung aufgeführt (siehe unten rechts im Bild).
Heinrich Steinfest plant seine Romane nicht. Wie er schon 2015 in Leipzig sagte, ist er ein Drauflosschreiber, einer der einer Idee folgt, der sich dem Flow einer Geschichte hingibt, ohne ihr Ende zu kennen; einer, der selbst mit Spannung verfolgt, an welches Ufer es ihn anschwemmen wird.
»Das Leben und Sterben der Flugzeuge« ist Heinrich Steinfests bisher umfangreichstes Buch und obgleich sowohl Charaktere wie Handlung den Leser mitziehen, hat der Roman in der Mitte dann doch einige Längen und wäre mit einer Kürzung um 150 – 200 Seiten vermutlich noch besser geworden. Durch die Schreibweise des Flows entstehen unglaubliche Geschichten, doch bedürfen sie im Anschluss einer sorgfältigen Bearbeitung. Einer der bedeutendsten Vertreter des ungeplanten Schreibens war Michael Ende, der seine Texte im Anschluss jedoch stark überarbeitete, um Längen zu vermeiden und noch mehr Teile ineinander zu fügen.
Nichtsdestotrotz hält »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« den Leser doch bei der Stange und am Ende schließt sich ein Kreis und noch einer und noch einer – kann sich eine Spirale schließen? Bei Heinrich Steinfest fühlt es sich möglich an.
Fazit: Mit dem Roman »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« ist dem großen Fabulierer Heinrich Steinfest wieder einmal etwas gelungen, was man leider allzu selten in der deutschen Literatur antrifft – ein Stück Phantastik!
Für absolute Realisten sind seine Romane sicher nichts, gleichen die Handlungen – insbesondere im Fall von »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« – doch eher Träumen als einer uns bekannten Wirklichkeit. Der Roman funktioniert daher auch nur bei denen, die in der Lage sind, für die Dauer der Lektüre alle Gewissheiten unserer Welt außer Acht und sich ganz auf die Steinfestsche Welt einzulassen. Dann macht das Buch trotz mancher Längen große Freude und lässt seine Leser auf positive Weise nachdenklich zurück.
Heinrich Steinfests Roman »Das Leben und Sterben der Flugzeuge« ist im September 2016 für EUR 25,00 im Piper Verlag erschienen – gebunden, 608 Seiten, ISBN 978-3492056625.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Am 1. März erscheint bereits der nächste Roman von Heinrich Steinfest – »Die Büglerin«.
Auszug aus dem Verlagstext:Tonia Schreiber ist Büglerin. Mit der Hand bügelt sie die Wäsche ihrer vermögenden Heidelberger Kunden. Die Arbeit erledigt sie mit Sorgfalt und Präzision, obgleich sie schlecht bezahlt wird. Denn das Bügeln ist ihre Form der Buße. Sie büßt für eine Tat, die ihr Leben unwiderruflich verändert hat.
Die Rezension zum Buch wird voraussichtlich auch bald bei uns erscheinen.
Mehr Informationen zu dem Roman finden Sie hier.
Über den Autor: Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis. Bereits zweimal wurde Heinrich Steinfest für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 mit »Ein dickes Fell«; 2014 stand er mit »Der Allesforscher« auf der Shortlist. 2016 erhielt er den Bayerischen Buchpreis für »Das Leben und Sterben der Flugzeuge«.
Laila Mahfouz, 27. Februar 2018
Links:
Die Rechte der hier abgebildeten Fotos liegen bei Anders Balari. Sie entstanden bereits während der Buchmesse in Leipzig 2015.
Informationen auf den Seiten des Piper Verlages finden Sie hier.
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