Dorthe Nors erzählt in ihrem Roman »Rechts blinken, links abbiegen« / »Spejl, skulder, blink« von der Einsamkeit der Großstädter und der Heimatlosigkeit Entwurzelter, die ihre Vergangenheit nicht vergessen und sich daher nicht von der Stelle bewegen können.
Handlung (Verlagstext): Als sich Sonja mit über vierzig endlich bei der Fahrschule anmeldet, verspricht sie sich davon mehr Freiheit. Nur bereitet ihr das Schalten größere Probleme als gedacht und überhaupt läuft ihr Leben gerade nicht rund. Immer mehr sehnt sie sich an die idyllischen Orte ihrer Kindheit zurück: Wilde Singschwäne und Zugvögel will sie sehen, keine Tauben und Plastikeulen auf Nachbarbalkonen! Doch was muss passieren, damit Sonja ihr Schicksal in die Hand nimmt?
Sonja Hansen hat gleich nach der Schule ihre ländliche Heimat ganz im Westen Jütlands gegen ein Studium in Kopenhagen eingetauscht. Nun ist sie über vierzig Jahre alt, hat als Erste in ihrer Familie eine akademische Laufbahn eingeschlagen, ist erfolgreiche Übersetzerin vom Schwedischen ins Dänische, Single mit immer wiederkehrendem Lagerungsschwindel, konflikt- und kontaktscheu und ein wenig neurotisch. Um hinfahren zu können, wohin sie will, versucht sie nun seit sechs Monaten einen Führerschein zu machen. Allerdings ist ihre cholerische Fahrlehrerin Jytte dabei alles andere als hilfreich. Sie lässt Sonja nicht selbst die Gangschaltung betätigen und schreit ihre Fahrschülerin bei jeder Gelegenheit an. Außerdem redet Jytte während des Unterrichts in allen Einzelheiten und fast ohne Unterbrechung über ihr Privatleben, bis Sonja dies besser zu kennen glaubt als ihr eigenes. Doch Jytte klarzumachen, dass sie sich so den Fahrunterricht weder vorgestellt hat, noch wünscht, ist Sonja nicht möglich. Ihre Scheu vor Konflikten kann sie zwar nicht überwinden, aber irgendwann nimmt sie endlich ihren Mut zusammen und schüttet Folke, dem Besitzer der Fahrschule, ihr Herz aus.
Die folgenden Fahrstunden mit Folke könnten eine Erholung sein, denn er ist sanft und ruhig, doch leider glaubt Sonja, dass der verheiratete Fahrlehrer an einer Affäre mit ihr interessiert ist, was sie wiederum verkrampfen lässt. Ihr Wunsch »verdammt noch mal einfach nur Auto fahren zu lernen« und im Leben einfach mal das zu bekommen, wofür sie bezahlt hat, geht daher wieder nicht in Erfüllung.
»Sonja […] hat längst aufgegeben, um Ruhe zu bitten. […] Vielleicht würde Jytte es versuchen, aber es würde nicht lange gutgehen. […] In [Jyttes] Welt kommt alles Böse aus der Stille, genau wie in der von Kate. Gefahr entsteht in Leerräumen, deshalb muss man jede Lücke mit monotonem Geschwätz, Kuchenrezepten oder Hundehaaren füllen.«
Kapitel 2 / Seite 16
Sonjas Leben befindet sich im Stillstand, so dass es mit dem herbeigesehnten Führerschein nicht klappen kann. Ihre passive Lebensweise steht ihr dabei ebenso im Wege wie der Wunsch nach etwas, das es so nicht mehr gibt. Die Idylle ihrer Kindheit ist verloren. Ihre Familie, besonders ihre Schwester Kate scheinen unerreichbar für sie und sie sehnt sich nach Menschen, die sie wirklich kennen. Dass sie die einzige Anerkennung dafür bekommt, blutrünstige Romane eines erfolgreichen schwedischen Autors zu übersetzen, die beliebt, aber ihr äußerst zuwider sind, schmälert ihr ohnehin geringes Selbstwertgefühl noch mehr. »Rechts blinken, links abbiegen« ist ein ruhiger Roman, der durch die Innensicht seiner Protagonistin lebt. Außen ist das Leben um Sonja still wie ein Bergsee, aber innen brodelt es in ihren Gefühlen und Gedanken so stark, dass die Leser einen Vulkanausbruch ahnen, der sich dann aber nur als Stichflamme zu erkennen gibt.
»Das Gespräch ist vorbei, aber es klebt wie ein Platzregen an Sonja. Ein Gefühl der Sorge zieht durch ihren Körper. Es sinkt von oben in die inneren Organe und reißt kleine Steine mit sich. Sie weint nicht, so weit kann sie es nicht kommen lassen, aber sie hört es in sich rasseln: Kieselsteine, Halme und all die Tage, an denen es nie aufhört. In ihrem Innern leert sich der Himmel langsam, ohne dass es Erleichterung bringt.«
Kapitel 10 / Seite 91
Fast verzweifelt versucht Sonja, ihrer Schwester wieder näher zu kommen, um ihre verlorene Heimat auf diese Weise wiederzufinden. Die Vergangenheit erzählt allerdings eher von zwei Geschwistern, die grundverschieden sind, sich nie wirklich verstanden haben und auch komplett unterschiedliche Lebenswege gewählt haben. In der Rückschau verklärt Sonja ihre Heimat, da sie mit dem Leben in der Großstadt nicht zurechtkommt. Wenn sie ihre Sehnsucht nach Körperkontakt bei ihrer Masseurin Ellen und die nach Ruhe und Natur auf Kopenhagens Friedhof zu stillen versucht, ist ihre Entwurzelung so spürbar, dass es beim Lesen die Kehle zuschnürt.
»Dann ist der Verkehrslärm weit weg. Es duftet nach Eibe und Buchsbaum, und sie liegt in der Mitte von nirgendwo. […] Die Toten machen keinen Lärm, und wenn sie Glück hat, schwebt ein Raubvogel über den Friedhof. Wenn sie dort liegt, kann sie allem ausweichen.«
Kapitel 1 / Seite 12 + 13
Es gibt viele Parallelen der Autorin zu ihrer Hauptfigur Sonja Hansen. Wie diese ist sie über vierzig und stammt aus Jütland. Bevor Dorthe Nors 2008 ihr literarisches Debüt (jedenfalls das unter ihrem richtigen Namen) mit dem Erzählband »Handkantenschlag« (Originaltitel: »Kantslag«) gab, übersetzte auch sie schwedische Thriller ins Dänische, zumeist die Bücher des Autors Johan Theorin. Gösta Svensson, mit dessen blutrünstigen Romanen sich Sonja Hansen jedoch herumschlagen muss, scheinen denen von Henning Mankell viel ähnlicher. So erklärt Gösta Svensson in einem Seminar zum Beispiel, dass ein Kommissar im Idealfall Alkohol- und Familienprobleme haben sollte, bestenfalls mit seiner Tochter. Solche Momente sind – wie auch die Szenen in der Fahrschule – mit viel Humor gewürzt.
Trotz ihres beruflichen Erfolgs, vor allem durch die Übersetzung der Thriller des schwedischen Erfolgsautors, und ihrem festen Willen, sich anzupassen, ist Sonja nie wirklich in der Hauptstadt Dänemarks angekommen. Sie treibt wie eine Schiffbrüchige im Meer der Menschen, die sie als feindlich wahrnimmt und denen Sonja immer fremd bleibt. Es scheint, als hätte sie nur inmitten der Natur Jütlands jemals wirklich sie selbst sein können. Immer öfter suchen sie nun ihre Erinnerungen an die Stille und Schönheit der Natur heim, die sie als Kind genießen konnte und die nun für alle Zeiten verloren ist. Die Hinwendung der Gesellschaft zum Kapitalismus sorgte dafür, dass kleine Höfe aufgekauft, zusammengelegt oder aufgegeben wurden und überdimensionalen Maisfeldern mit ihrer angeblichen wirtschaftlichen Effektivität weichen mussten. Die Momente, da Sonja dort im Kornfeld liegen und wilde Tiere in freier Natur beobachten konnte, sind vorbei. Dennoch träumt sie weiterhin von den Tagen im Kornfeld, vom Tannenwald, von ihrem Sitzplatz im Baum der Traubenkirsche und von der urtümlichen und mysteriösen Lønborg Heide aus den Geschichten ihrer Mutter. In Kopenhagen findet sie so einen Ort der Stille nicht.
»Die Hubschrauber kreisen über Vesterbro. […] Es kommt wie von selbst, instinktiv und spontan. Es sollten doch Wildgänse sein!, denkt sie. Regenpfeifer! Singschwäne! Man sollte aussteigen, sich der Stille hingeben, einfach liegen bleiben und drüben am Tannenwald Sperber beobachten.«
Kapitel 18 / Seite 158 + 159
Die englische Übersetzung »Mirror, Shoulder, Signal« stand 2017 übersetzt von Misha Hoekstra auf der Shortlist des renommierten Man Booker International Prize, den dann aber David Grossman für seinen Roman »A Horse Walks Into a Bar« erhielt. Die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel »Kommt ein Pferd in die Bar« im Hanser Verlag erschienen. Im Gegenteil dazu hat sich der Kein & Aber Verlag leider nicht dazu entschieden, den perfekt zum Roman passenden Titel »Spejl, skulder, blink« wie in der englischen Ausgabe wörtlich zu übersetzen, sondern sich einen abstrusen neuen Titel einfallen zu lassen. Spiegel, Schulterblick, Blinken bzw. Abbiegen ist allerdings genau die Reihenfolge, die Dorthe Nors der Handlung des Romans gibt, denn sie lässt Sonja Hansen viele tiefe Spiegelblicke in ihr Innenleben tun, die meist einen Schulterblick, also einen Blick in die eigene Vergangenheit auslösen, bis sie es am Ende des Buches endlich schafft, zu blinken und ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Der deutsche Titel »Rechts blinken, links abbiegen« wirkt wie ein Täuschungsmanöver und ist in meinen Augen verfehlt.
Fazit: Auf nicht einmal zweihundert Buchseiten gelingt es Dorthe Nors in ihrem Roman »Rechts blinken, links abbiegen« sehr viel zu sagen. Ihre Hauptfigur Sonja Hansen lebt geradezu verkapselt in Kopenhagen. Sie lässt wenige Menschen an sich heran, vermisst Körperkontakt und verabscheut ihn dennoch oft, wenn er sich ergibt. Sie versucht herauszufinden, was in ihrem Leben fehlt und bekommt bei jeder heftigen Bewegung einen Lagerungsschwindel, der sie bewegungsunfähig macht. Sie ist unwiederbringlich entwurzelt und hat noch keinen Ort gefunden, an dem sie sich so geborgen fühlt, wie in dem Kornfeld ihrer Kindheit. Reflektionen, innere Monologe, mit feiner Ironie beschriebene Beobachtungen des urbanen und des ländlichen Lebens durchziehen den Roman.
Wie ich anderen Meinungen zu dem Roman entnehme, wirkt das Buch auf Menschen mit wenig Lebenserfahrung eher langweilig. Ich konnte mich an vielen Stellen erschreckend gut mit der Hauptfigur und ihrer Sehnsucht nach Natur und ihrer Fremdheit in der Stadt identifizieren. Menschen, die in ihrem Leben die extremen Unterschiede zwischen Stadt und Land durchleben durften, ebenso wie solche, denen ruhige Innenbetrachtungen und subtiler Humor gefallen, werden an Dorthe Nors Roman ihre Freude haben und so manchen Aha-Moment erleben.
Dorthe Nors‘ Roman »Rechts blinken, links abbiegen« (Originaltitel »Spejl, skulder, blink«) ist in der Übersetzung von Frank Zuber im September 2016 für EUR 20,00 im Kein & Aber Verlag erschienen – gebunden, 192 Seiten, ISBN 978-3036957470.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Aarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Auf Deutsch erschien 2014 ihr international gefeierter Erzählband »Handkantenschlag«, im selben Jahr wurde sie mit dem Per-Olov-Enquist-Preis für junge Nachwuchsliteraten von europaweiter Ausstrahlungskraft ausgezeichnet. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.
Laila Mahfouz, 9. Februar 2018
Links:
Informationen auf den Seiten des Kein & Aber Verlages finden Sie hier.
Die Website von Dorthe Nors finden Sie hier.
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