Lesung am 25. März 2017 im Haus des Buches in Leipzig: Juliana Kálnay stellte ihren außergewöhnlichen Debütroman »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« am letzten Tag der Leipziger Buchmesse 2017 vor. Begleitet wurde sie von Annette Wassermann, Lektorin des Romans und Pressereferentin des Wagenbach Verlages.
Handlung (Verlagstext):Don verwandelt sich vor den Augen seiner Frau in einen Baum. Ronda hält Goldfische, die nicht bleiben wollen. Die Zwillinge aus dem dritten Stock sind gar keine. Doch von Toni und Bell wissen alle. Die Menschen in Nummer 29 sind seltsam verschworen, kennen sich dabei kaum und teilen längst nicht jedes Geheimnis.
Im Haus mit der Nummer 29 wohnt zuallererst Rita, fast so alt wie das Haus selbst. Sie ist Beobachterin, Schlichterin und Richterin, ein Knotenpunkt mit geheimnisvollen Fähigkeiten und Absichten. Außerdem das Ehepaar Lina und Don, deren Liebe auch Dons fundamentale Verwandlung ziemlich fruchtbringend überdauert. Es gibt einen unbemerkten Mitbewohner, der sich im Aufzug einnistet, es gibt ein Kind, das sich durch Mauern beißt, und eine Wohnung, die ihre Mieter förmlich verschluckt. Rita sieht, was keiner zeigt, und sie versteht, was keiner sagt. Doch bevor sie ihr Wissen weitergeben kann, ist die kleine Maia auf rätselhafte Weise verschwunden.
»Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« ist ein durch und durch ungewöhnliches Debüt. Seine Autorin Juliana Kálnay hat eine Vielstimmigkeit nur einer einzigen Erzählerstimme vorgezogen, da sie es als reizvoller empfand, unterschiedliche Personen sprechen zu lassen, wie sie sagte. Jede Geschichte ist ein Puzzlestein und alle zusammen ergeben das Gesamtbild des Hauses und seiner eigenartigen Bewohner. Doch wie hat alles angefangen? Juliana Kálnay sagte darüber:
»Die erste Idee war das Bild eines Mannes, der sich in einen Baum verwandelt. Das Schöne am Buch ist, dass es etwas Organisches, in alle Richtungen Wucherndes hatte. […] Ich bin immer von Bildern ausgegangen, ohne mich zu fragen, was die Bilder bedeuten könnten.«
Und so liegt die Poesie, die Magie des Romans gerade in der Überschreitung der Grenze zur Wirklichkeit. Juliana Kálnays Magischer Realismus wirkt wie ein unglaublich bizarrer Traum. Manchmal spricht ein echter Münchhausen aus diesen Leuten, die mit der Realität so wenig anzufangen wissen, dass sie ihr auf jede erdenkliche Weise aus dem Weg gehen wollen. Ob sie so tief in eine Depression versinken, dass sie sich nicht mehr bewegen, zum Baum werden, ihre Identität verschleiern, nur noch im Dunkeln leben, sich durch Wände fressen, auf der Suche nach Ruhe mit einer weißen Wand verschmelzen, verstummen und zum Goldfisch werden, sich in das leere Haus einer Schnecke verkriechen oder einfach auf mysteriöse Art verschwinden, weil das Graben von Höhlen dem nicht mehr genügen kann, der lieber unter als über der Erde leben will – immer ist es ein Rückzug, eine Flucht vor dem Alltag, vor der Wirklichkeit, vor dem Leben, vor den anderen. Auch Türen oder ganze Wohnungen verschwinden ebenso spurlos wie so mancher Bewohner des Hauses.
Einzig Rita, die gefühlt schon immer da war und deren Alter keiner der Bewohner kennt, scheint den Überblick zu haben, dieses Labyrinth an Wohnungen und Bewohnern, an Erlebtem und Erfundenem durchdringen zu können. Rita ist mit dem Haus auf ganz besondere Weise verwachsen. Sie ist so sehr Teil des Hauses, dass sie all seine Geheimnisse durchdringt und vielleicht manchmal sogar die Ereignisse beeinflusst. Manche Bewohner ahnen bereits, dass nichts mehr so sein wird wie bisher, wenn Rita einmal nicht mehr ist.
»Es gibt Menschen, die sind ihr Haus, und es gibt Menschen, die wohnen nur darin. […] Nicht viele tragen das Haus, in dem sie leben, wie eine Schnecke mit sich herum. […] Bei nicht vielen spannt die Haut mit dem Leiden der Wände, knarzen die Knochen mit den Treppenstufen, schmerzt der Rücken, wenn das Gemäuer altert. Ich spüre, wie sich die Räume zusammenziehen mit der Kälte und wie die Wände bei großer Hitze anschwellen wie meine Beine. Ich spüre, wie das Haus atmet. Wie es Bewohner abstößt und verschlingt.«
1. Stock, rechts: Schnecken und was Rita dachte (aber nicht sagte) / Seite 34
Auch wenn alle Bewohner des Hauses Nr. 29 auf die eine oder andere Weise ein sonderbares Verhalten an den Tag legen, hält es sie doch nicht davon ab, Vermutungen über die anderen Nachbarn anzustellen. Eine Geschichte wird jeweils von mehreren Seiten erzählt und am Ende weiß der Leser nicht mehr, wessen Wahrheit er glauben schenken soll. Denn obwohl alle fest an ihre eigene Wahrheit glauben, wie zuverlässig sind die jeweiligen Erzähler wirklich? Fest steht, dass der Leser den Bewohnern des Hauses über die Schulter schaut, an ihren Leben teilnimmt, als blicke er heimlich durch ihr Schlüsselloch. Und war nicht auch die Souterrain-Wohnung bewohnt? Keiner erinnert sich mehr, wann die Morans zum letzten Mal gesehen wurden und doch entdecken die Nachbarn in deren Wohnung einen bemerkenswerten Fund.
Schön ist, wie Juliana Kálnay kaum etwas auserzählt, sondern oft nur andeutet. Dem Leser bleibt auf diese Weise der Raum für eigene Spekulationen, für Überlegungen und Interpretationen.
Wenn ein Haus unser Innenleben wiederspiegeln würde, welche Wohnungen, welche Räume würde es enthalten, welche Bewohner würden in ihm leben? Welche für andere unerklärlichen Dinge würden in unserem Haus geschehen, die wir für selbstverständlich hielten?
In dem Haus Nr. 29 von Juliana Kálnay ist jedenfalls nichts so wie anderswo und doch, erkennen wir diese Menschen nicht alle wieder? Wie gut kennen wir unsere Nachbarn? Welche erstaunlichen Geschichten könnten sie erzählen? Sind die Bewohner des Hauses im Buch nicht genau die, denen wir täglich begegnen und bei denen wir uns immer schon gefragt haben, ob…
»Ich versuchte zu sprechen, wollte ihm sagen, wie sehr mich sein Besuch freute, ihn fragen, was er getan habe, all die Zeit, doch ich brachte keinen Laut heraus. Meine Lippen formten die Worte, und ich glaubte, sie auszusprechen, doch einmal hinausgestoßen, hörte ich sie nicht. Mir war, als würde ich statt Laute nur tonlose Luftblasen in den Raum werfen. Und ihm muss es so vorgekommen sein, als hätte er einen Goldfisch vor sich, der stumm seine Lippen bewegt, ihn anstarrt, unfähig, durch die Glaswand zu ihm hindurchzudringen.«
2. Stock, links: Luftblasen / Seite 126
Die Nr. 29 ist ein Haus in irgendeiner Stadt mit vielen Bewohnern, die den Lesern alle – als mehr oder weniger glaubwürdige Erzähler – Geschichten auftischen und damit dem Haus Wände, Zimmer, Flure und eine Seele geben, bis es so verschachtelt ist, dass der Leser sich dem Wahn hingeben und die Hoffnung auf einen genauen Bauplan fahren lassen muss. Juliana Kálnays Geschichten umspannen mehrere Jahrzehnte und doch scheint es fast so, als geschehe alles zur gleichen Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden ebenso abstrakte Begriffe wie oben und unten oder feste Materie.
Fazit: So schön und surreal all die Bilder sind, die Juliana Kálnay in ihrem Debütroman zu einem fast märchenhaften Teppich verwebt, so sind es doch die vielen, von der Autorin geschickt platzierten Leerstellen, die den Leser fordern, das Bild eigenständig zu vervollständigen und die auch lange nach Beenden des Buches nicht loslassen. Auch die Liebe der Hamburger Autorin zu ihren Figuren ist auf jeder Seite zu merken. Sie scheint mit ihnen in jenem Haus zu leben, das geheimnisvoller und spannender kaum sein könnte.
Sehr zu Recht stand »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« im Februar 2017 auf Platz 3 der SWR Bestenliste. Das Buch hat etwas Wucherndes – wie dem Baum immer mehr Äste wachsen, scheinen im Haus Wohnungen, Anbauten zu entstehen, bis niemand mehr seine eigentliche Form erkennt oder sein Innenleben noch versteht. Geschichten sprießen überall, auf den Treppen, in den Wänden, im Boden, im Aquarium, im Hinterhof und in den Blumenkästen. Dieses Debüt ist etwas ganz Besonderes, ein Buch, dessen Geschichten seine hoffentlich noch vielen Leser sehen, riechen, hören, fühlen können. Juliana Kálnay ist eine Autorin, von der ich noch viele weitere Bücher lesen möchte.
Juliana Kálnays Roman »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« ist Februar 2017 für EUR 20,00 im Wagenbach Verlag erschienen – gebunden, 192 Seiten, ISBN 978-3803132840.
Über die Autorin: Juliana Kálnay, geboren 1988 in Hamburg, wuchs zunächst in Köln und dann in Málaga auf. Sie veröffentlichte in deutsch- und spanischsprachigen Anthologien und Zeitschriften und erhielt das Arbeitsstipendium Literatur der Kulturstiftung des Landes Schleswig-Holstein 2016. Sie lebt und schreibt in Kiel. »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« ist ihr erster Roman, für den die Autorin am 18. März 2018 den Hebbel-Preis 2018 erhält, der alle zwei Jahre verliehen wird und mit EUR 5.000 dotiert ist.
Laila Mahfouz, 2. Februar 2018
Links:
Einen Auszug unserer Fotostrecke zur Leipziger Buchmesse 2017 finden Sie hier. Die Rechte an den Fotos liegen bei Anders Balari.
Informationen auf den Seiten des Wagenbach Verlages finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.