Tove Janssons Erzählband »Reisen mit leichtem Gepäck« ist Teil der beim Urachhaus zu ihrem 100. Geburtstag gestarteten Reihe Literatur für Erwachsene der Mumin-Erfinderin (ins Deutsche übersetzt von Birgitta Kicherer). Dieser Erzählband erweist sich als wahres Schatzkästlein und wie in ihren Kinderbüchern und ihren Romanen lassen sich Parallelen zu Tove Janssons Leben in den unterschiedlichen Texten entdecken.
Inhalt (dem Verlagstext entnommen): Aus Alltagsstrukturen ausbrechen! Sich aus Verhaltensmustern, aus unliebsamen Verpflichtungen lösen, aus dem ganzen Sollen und Müssen! Doch während einem der frische Wind einer beginnenden Freiheit schon entgegenweht, entdeckt man, dass trotz leichten Handgepäcks die schwere Last der alten Ängste, Konflikte und Gewohnheiten noch da ist. An den fremden, Freiheit versprechenden Orten toben sie sich umso unverhoffter und wilder aus.
Manchmal sind es gar nicht Reisen, sondern Begegnungen mit Menschen, in deren Nonchalance man die Freiheit eines ganz anderen Lebens wittert. Und manchmal, wenn man es am wenigsten erwartet, verändert die Fremde einen wirklich – und man kommt bei sich selber an. Tove Jansson erfrischt in diesen kleinen literarischen Meisterwerken mit ihrem unverwechselbaren Blick und klaren Stil.
Sind Sie auch mit Mumin-Troll und seinen abenteuerlichen Geschichten aufgewachsen oder haben sie Ihren Kindern oder Enkelkindern vorgelesen? Als Kind habe ich diese Welt geliebt und, ich schäme mich nicht, das zuzugeben, ich greife auch heute noch ab und an gern zu den Büchern und Hörspielen, um abermals durch das Mumintal zu wandern und mich vom Hut des Zauberers sowie von allen Figuren verzaubern zu lassen. Dass Tove Jansson in ihrem späteren Leben auch eine anerkannte Autorin von Literatur für Erwachsene war, habe ich erst durch die umfassende Buchreihe des Urachhaus Verlages erkannt, die mit Tuula Karjalainens Biographie von Tove Jansson am 1. Juli 2014 begann und bisher die folgenden Bücher umfasst: »Fair Play« (1. Juli 2014 – Roman, OT »Rent spel«, EA 1989), »Die Tochter des Bildhauers« (1. September 2014 – Roman, OT »Bildhuggarens dotter«, EA 1968), »Die ehrliche Betrügerin« (15. April 2015 – Roman, OT »Den ärliga bedragaren«, EA 1982), »Reisen mit leichtem Gepäck« (1. Juli 2016 – Erzählungen, OT »Resa med lätt bagage«, EA 1987), »Die Zuhörerin« (11. Oktober 2017 – Erzählungen, OT »Lyssnerskan«, EA 1971). Das ebenfalls sehr lesenswerte Buch »Das Sommerbuch« (»Sommarboken«, EA 1972) und »Das Winterbuch« (24. November 2017) erscheinen in der Übersetzung von Birgitta Kicherer im Bastei Lübbe Verlag.
Der Erzählband »Reisen mit leichtem Gepäck« ist unter gleichem Titel (»Resa med lätt bagage«) auf schwedisch erschienen und beinhaltet folgende Geschichten: »Briefwechsel« (»Korrespondens«), »Der achtzigste Geburtstag« (»Åttiårsdag«), »Das Ferienkind« (»Sommarbarnet«), »Fremde Stadt« (»Främmande stad«), »Die Frau mit den geliehenen Erinnerungen« (»Kvinnan som lånade minnen«), »Reise mit leichtem Gepäck« (»Resa med lätt bagage«), »Der Lustgarten« (»Lustgården«), »Shopping«, »Der Wald« (»Skogen«), »Der Tod des Sportlehrers« (»Gymnastiklärarens död«), »Die Möwen« (»Måsarna«) und »Das Gewächshaus« (»Växthuset«).
In diesen zwölf Erzählungen sind Menschen auf Reisen, unterwegs zu etwas hin, von etwas fort und immer bewusst oder unbewusst auf der Suche nach sich selbst. Mit jedem ersten Satz einer neuen Erzählung fängt Tove Jansson ihre Leser ein und lässt sie nicht mehr los. Leicht erzählt sind die Geschichten und doch tragen sie alle eine Tiefe, eine Schwere in sich, die sich erst nach und nach offenbart. Der Humor ist eher bitter, doch über die Texte lässt sich wunderbar lange nachsinnen.
Wem es zum Beispiel immer wieder passiert, dass wildfremde Menschen ihnen das Herz ausschütten, weil sie ein mitfühlendes, empathisches Wesen sofort erspüren, der wird die Hauptfigur der Titelgeschichte »Reisen mit leichtem Gepäck« besonders gut verstehen. Hier zeigt sich auch ganz deutlich Tove Janssons eigener Wunsch, den Anforderungen der anderen an ihre Person zu entkommen. Nicht verwunderlich ist es da, dass die Autorin ihr Traumhaus auf der kleinen Insel Klovharu im Finnischen Meerbusen errichten ließ, wo sie fast dreißig Jahre mit ihrer Lebensgefährtin, der Grafikerin Tuulikki Pietilä, die Sommer verbrachte. Doch wie ihre Geschichte »Reisen mit leichtem Gepäck« zeigt, kann niemand so weit reisen, dass er seinem eigenen inneren Wesen entkommt.
»Sie können sich das schwindelerregende Gefühl von Befreiung nicht vorstellen, das dürfen Sie mir glauben. […] Alles war verschwunden, vorbei, bedeutungslos. Nichts und niemand mehr war wichtig. Kein Telefon, keine Briefe, keine Türklingel.«
»Reisen mit leichtem Gepäck« / »Resa med lätt bagage« Seite 73
Jede der Geschichten ist etwas Besonderes – hier nur ein paar Beispiele:
»Briefwechsel«: Da ist das kleine japanische Mädchen, das in Tove Jansson ein Idol sieht, Inspiration in ihren Werken findet und deren Korrespondenz zu Tränen rührt.
»Das Ferienkind«: Da ist ein einsames, ungeliebtes Kind, das bei einer liebevollen Familie an der See den Sommer verbringen darf, aber überall aneckt, weil es intelligent ist und sich über den Zustand der Welt Sorgen macht.
»Fremde Stadt«: Da ist ein alter Mann, der sich auf einer weiten Reise verirrt und unerwartet Hilfe findet.
»Shopping«: Da ist eine postapokalyptische, dystopische Geschichte von einem alten Ehepaar, das versucht, in den Trümmern einer Stadt zu überleben, stets in Angst vor den anderen, die sie überfallen könnten.
»Die Möwen«: Da ist eine Frau, die ihrem Geliebten ihre einsame Trauminsel, ihr Paradies zeigen möchte und feststellen muss, dass es für ihn eher einem Höllenabgrund gleicht.
»Die Frau mit den geliehenen Erinnerungen«: Da ist die Künstlerin, die nach fünfzehn Jahren in ihre Heimat zurückkehrt und erkennen muss, dass eine ehemalige Bekannte versucht, ihre Identität zu verändern, indem sie ihre Erinnerungen manipuliert.
In der bitteren Geschichte »Der Tod des Sportlehrers« nimmt ein Ehepaar die Einladung zum Abendessen von dem Chef des Mannes an dem Abend an, da der Sportlehrer ihrer Kinder beerdigt wird. Der Selbstmord des Sportlehrers lässt die Frau nicht los und führt dazu, dass sie ihr Leben und ihre Handlungsweisen überdenkt und eine Kälte in ihrem Ehemann wahrnimmt, die sie kaum aushalten kann:
»Liebste Flo, denk nicht an das mit ihm, also …mit ihm. So was passiert immerzu, leider. Die Leute sind zu schwach, sie kommen nicht klar, sie geben auf. Und alles geht weiter. Versteh doch, das Leben geht weiter, genau wie vorher. Und in einer Woche oder so haben sie einen neuen Sportlehrer.«
Sie wandte sich heftig zu ihrem Mann um, zu seinem ruhigen Profil, zu all den Dingen, die er ihrer Meinung nach repräsentierte, und rief aus: »Nichts wird so wie vorher! Und er war nicht schwach, überhaupt nicht, er war so stark, dass er es nicht verkraften konnte! Und wir haben ihm nicht geholfen!«
»Der Tod des Sportlehrers« / »Gymnastiklärarens död« Seite 147
Leichtes Gepäck trägt kaum einer der von Tove Jansson so wunderbar entworfenen und zum Leben erweckten Charaktere. Doch gelingt es ihnen, ihr Leben zu meistern, aus Situationen das Beste zu machen. Auch die beliebte Schriftstellerin selbst verstand es, dem Leben stets etwas Schönes abzutrotzen, auch wenn Schicksalsschläge ihre Schatten aussandten.
Wen das bewegte Leben von Tove Jansson interessiert, erfährt noch viel Wissenswertes in dem Dokumentarfilm »The Life of Tove Jansson« (59 min). Für mich war der Film eine Bereicherung, die mir ihre großartigen Texte und Figuren noch näher gebracht und verständlicher gemacht hat.
Fazit: Tove Janssons Erzählband »Reisen mit leichtem Gepäck« möchte ich insbesondere Menschen empfehlen, die reif an Jahren und Geist sind. Die Bedeutungen sind vielschichtig, die Erzählungen abwechslungsreich, der Stil ist wunderbar einfach und doch ungeheuer präzise. Alles in allem ist dies ein Buch, das ich noch öfter zur Hand nehmen werde und das in mir Vorfreude auf weitere Übersetzungen der Autorin aufkommen lässt.
Tove Janssons Erzählband »Reisen mit leichtem Gepäck« (Originaltitel: »Resa med lätt bagage«) in der Übersetzung von Birgitta Kicherer ist im Juli 2016 für EUR 19,90 im Verlag Urachhaus erschienen – gebunden, 188 Seiten, ISBN 978-3825179588.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Tove Jansson (geboren am 9. August 1914 in Helsinki – gestorben am 27. Juni 2001 ebenda) war eine finnlandschwedische Schriftstellerin, Zeichnerin, Comicautorin, Graphikerin, Illustratorin und Malerin. Sie wuchs in einem Künstlerhaushalt als ältestes Kind des Bildhauers Viktor Jansson und der schwedischen Illustratorin Signe Hammarsten Jansson auf. Dass Tove Künstlerin werden würde, stand vom Tag ihrer Geburt an außer Frage, und schon als Kind begann sie zu schreiben und zu malen. Mit 16 Jahren begann sie ihre Ausbildung als bildende Künstlerin in Stockholm, Helsinki und Paris. Ein besonderer Reiz ihres Werks ist das vielseitige Zusammenspiel von Bildern und Texten. Neben ihren Mumin-Büchern, durch die sie internationalen Ruhm erlangte, verfasste sie zahlreiche Romane und Erzählungen für Erwachsene.
Tove Jansson hat für ihr Werk mehrere Dutzend Preise in aller Welt bekommen. 1953 erhielt sie die Nils-Holgersson-Plakette, 1958 die Elsa Beskow-Plakette und im Jahr 1966 wurde sie für ihre Mumin-Bücher mit dem Hans Christian Andersen-Preis für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet. Für »Geschichten aus dem Mumintal« erhielt sie 1964 die Anni-Swan-Medaille. 1971 erhielt sie den Tollanderska priset, 1972 wurde ihr der Svenska Akademiens Finlandspris verliehen und 2004 erschien ihr zu Ehren eine Gedenkmünze zu 10 Euro; bereits ab den 1990er-Jahren einige Briefmarkenserien der finnischen Post. Zum hundertsten Geburtstag 2014 gab die Finnische Zentralbank Suomen Pankki eine bei der Münze Finnlands geprägte 2-Euro-Kursgedenkmünze heraus. Sie erhielt die von Kindern verliehene internationale Auszeichnung als Ritter des Ordens des Lächelns. Der Stadtplanungsausschuss von Helsinki beschloss 2014 zu Janssons 100. Geburtstag den Katajanokanpuisto, der in der Nähe ihres Elternhauses liegt, in Tove Janssonin puisto (Tove-Jansson-Park) umzubenennen. Die Umbenennung erfolgte zum 13. März 2014.
Laila Mahfouz, 21. August 2017
Links:
Die Website zu Tove Jansson finden Sie hier.
Informationen zu Tove Jansson und weiteren von der Autorin in deutscher Sprache erschienenen Büchern für Erwachsene finden Sie hier auf den Seiten des Verlages Urachhaus.
Weitere Informationen zu Tove Jansson finden Sie hier.
Die offizielle Mumin-Website finden Sie hier.
Ein virtuelles Muminforschungszentrum finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.