Lesung am 19. Juni 2017 im Italienischen Kulturinstitut Hamburg: Im Dialog mit seiner Übersetzerin Annette Kopetzki stellte Maurizio Torchio seinen aktuellen Roman »Das angehaltene Leben« vor. Das Leben im Strafvollzug wird den Lesern in präziser Sprache und mit großem erzählerischen Können auf eine Weise vor Augen geführt, die das Geschilderte nachempfindbar macht.
Ein Gefangener sitzt seine lebenslängliche Strafe in der Einzelhaft ab, denn er hat die Tochter eines Kaffeebarons entführt und später während seiner Haft einen Wärter umgebracht. In wechselnden Bruchstücken beschreibt er die Tat, die er begangen hat und was er in der Haft erlebt, wie das Gefängnis sich seiner bemächtigt, jeden Tag mehr zu seinem eigenen Körper wird:
»Mir sind Nerven für das ganze Gefängnis gewachsen. Wenn einer durch den Gang unterm Hof geht, ist es, als ginge er über meinen linken Arm.«
Das Gefängnis selbst scheint lebendig zu sein. Fast wird es zu einer pulsierenden, atmenden, handelnden Figur. Der Erzählstil ist kompakt, der Erzähler berichtet in hartem Ton, doch beobachtet genau. So einen Einblick in die Seele eines Menschen, der Täter und Opfer in einer Person ist, habe ich noch nie bekommen. Von den verschiedenen Gefängnissen erzählt der Häftling, von anderen Gefangenen und den Wärtern. In einem kargen Ton beschreibt er, was ihm geschieht. All das ohne Anklage, ohne ein moralisches Urteil. Die Sprache ist klar, präzise, lakonisch. Der Gefangene versteht seine Bestrafung, denn er ist längst eins mit den Gefängnisregeln geworden.
Weil er selbst eine Gefangene bewacht hat, besteht seitens der Hauptfigur Verständnis für die Wärter. Maurizio Torchio beschreibt seine Absichten so:
»Mir ging es darum, Figuren zu zeigen, die nicht entweder Henker oder Opfer sind, sondern immer beides. Niemand ist schwarz oder weiß, jeder hat das Böse und das Gute in sich.
Im Buch sind sowieso alle Gefangene: die Insassen selbst, die Wärter, der Direktor, die entführte Kaffeeprinzessin, die Angehörigen der Gefangenen, fixiert auf den Müll des Gefängnisses auch die Möwen, dann die Hunde der Wärter und umgeben von Zement ist sogar die Erde im Gefängnis eingeschlossen.
Mein Ziel war es, Hoffnungen, Gefühle, Worte drinnen und draußen aufzuschreiben, von Gefangenen, Wärtern, Besuchern und allen, die mit den Gefangenen zu tun haben. Aber das Leben drinnen hat mich mehr interessiert, weil es die Gefühle vergrößert.
Das Gefängnis ist wie eine Lupe, die alles, was mit dem Gefängnis zu tun hat, vergrößert.«
Der Entzug von Sinneswahrnehmungen ist ein zentrales Thema des Romans, der von Fachleuten als äußerst glaubwürdig anerkannt wurde. Der Text sei so authentisch geworden, weil Maurizio Torchio Gefängnisberichte aus mehr als hundert Jahren aus der ganzen Welt gesammelt und allen etwas entnommen hat, so der Autor. Die sogenannte Graue Literatur sei dabei besonders hilfreich gewesen.
Ganz bewusst wollte Maurizio Torchio die Handlung seines Romans keiner Nation zuordnen. Die Geschichte ist wirklich auf die ganze Welt umsetzbar. Die Bedingungen des Strafvollzugs sind ein universelles Problem. Auf die Frage, warum er sich gerade einen Insassen in Isolationshaft als Hauptfigur ausgesucht hat, sagt der Autor:
»Anfangs war es nicht eine einzige, sondern viele Stimmen. Die Isolationshaftstimme hat wirklich funktioniert. Für diesen Gefangenen ist der Rest des Gefängnisses schon ein Draußen.
Der Arbeitstitel des Romans lautete „Die Stimme und der Zement“, denn dieser Gegensatz, diese Dualität war von Anfang an da: der träge, gleichgültige Zement gegenüber der immer mehr ausufernden Erzählstimme, die am Ende in surreale Traumphantasien übergeht. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Polen wird im Laufe der Geschichte immer größer.«
Auch wenn Isolationshaft gegen die Menschenrechte verstößt, befinden sich allein in den USA ca. 100.000 Menschen auf einmal in solchen Zellen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International dokumentiert die entsetzlichen Bedingungen, Zeitschriften wie der Focus und diverse andere Quellen berichten darüber, aber welchen Vorteil ein Land wie die USA von einer hohen Anzahl an Gefängnisinsassen haben kann, ist nicht so leicht zu erkennen.
Fakten, von denen auch Michael Moore einige in seinem aktuellen Dokumentarfilm „Where to Invade Next?“ beleuchtet:
1. Die USA mit nur 5 Prozent der Weltbevölkerung, leisten sich 25 Prozent aller Gefängnisse weltweit, die weitestgehend schon privatisiert sind. Nach General Motors sind die US-Gefängnisse mit über 500.000 Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber in den USA, die mit der US-Gefängnisindustrie einen Umsatz von 35 Milliarden Dollar pro Jahr generiert.
2. In keinem anderen Land auf der Welt sind so viele Menschen inhaftiert wie in den USA: 2,3 Millionen Menschen. Das entspricht einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Mehr als 80 Prozent der Häftlinge sind Afroamerikaner, Lateinamerikaner und andere „Nicht-Weiße“. (Zehn Jahre Gefängnishaft erwartet schon, wer mit 50 Gramm Crack, der Droge der Armen, erwischt wird. Bei den Reichen ist die In-Droge weiterhin Koks und jemand müsste 5 Kilo davon mit sich führen, um die gleiche Strafe zu bekommen.) Übrigens sind die USA und Somalia die weltweit einzigen Länder, welche die UN-Kinderrechtskonvention nicht ratifizieren. Es werden also auch lebenslange Haftstrafen ohne Bewährung gegen Minderjährige verhängt. Damit verstoßen die USA eindeutig gegen die UN-Kinderrechtskonvention.
3. Besonders brisant ist die Tatsache, dass jeder amerikanische Sträfling automatisch sein Wahlrecht verliert. Das heißt, nicht genug damit, dass er während der Zeit seiner Inhaftierung nicht wählen darf, was ja schon zu Masseninhaftierungen an Wahlvortagen und merkwürdigen Wahlergebnissen geführt hat. Nein, auch für die Zukunft, auch nach der Entlassung darf ein einmal Inhaftierter NIE WIEDER wählen. Natürlich trifft das wieder besonders Afro- und Lateinamerikaner, die immerhin die Hälfte der Gefängnisbevölkerung ausmachen.
4. Zwangsarbeit ist außerdem ein lukratives Geschäft. Diese moderne Sklaverei ist der widerlichste Auswuchs des Kapitalismus! Eine Liste der Unternehmen, die US-Gefängnisinsassen in Zwangsarbeit für sich arbeiten lassen, finden Sie hier. Die US-Gefängnisindustrie macht einen Umsatz von 35 Milliarden Dollar im Jahr mit Zwangsarbeit und der Produktion von beispielsweise Militärausrüstung für US-Konzerne.
5. Wie viele andere idiotische oder für die Bevölkerung nachteilige Dinge übernimmt Deutschland leider auch in diesem Fall das Beispiel des großen Bruders USA: in Deutschland sind bereits die ersten teilprivatisierten Justizvollzugsanstalten entstanden, in denen die Insassen für Hungerlöhne zum Beispiel für die Möbelindustrie arbeiten müssen! Wo es geht, sollte diesem Trend entgegengewirkt werden. Schon vor einigen Jahren hat die Band SYSTEM OF A DOWN mit ihrem erfolgreichen »Prison Song« ihren Teil dazu beigetragen, auf das Problem aufmerksam zu machen.
Ein großes Lob gebührt der Übersetzerin Dr. Annette Kopetzki, die den schnörkellosen und dennoch so eindringlichen Stil von Maurizio Torchios Roman »Das angehaltene Leben« (Originaltitel: »Cattivi«) so gut getroffen hat. Nach Rücksprache mit dem Autor verfiel sie dabei nicht in einen mehr oder weniger passenden Gefängnisjargon, sondern blieb in der Sprache – ebenso wie Torchio selbst – unbestimmbar in Ort und Zeit.
Zu recht erhielt Annette Kopetzki für die Übersetzung von »Das angehaltene Leben« 2016 den Förderpreis der Hamburger Kulturbehörde für literarische Übersetzung. Ich wünschte, alle Übersetzer würden so gewissenhaft, genau und begeistert arbeiten wie sie.
Es folgt ein gekürzter Auszug des Romans, der den Alltag in Isolationshaft schildert:
»Es gab nur mich, nackt, und ein Loch mitten im Boden. […]
Eine Schwärze, dass du nicht einmal mehr Angst haben kannst, denn es gibt keine Schatten, keine Geräusche, keine Ungeheuer. […]
Irgendwann kommen dann Farbkaskaden an, flüssig wie ein Feuerwerk. Denn dein Körper erträgt es nicht, zu lange ohne Sinnenreize zu sein. […] Das Problem ist, dass die Wärter es wissen. Wenn die Farbkaskaden kommen, machen sie das Licht an. […]
Du bräuchtest ein paar Stunden Dunkelheit und ein paar Stunden Licht, abwechselnd. […]
Aber sie geben dir Tage der Dunkelheit und Jahrhunderte des Lichts.«
Seite 193 – 195
In Italien wurde das Buch gefeiert, hierzulande wird es „zu schlimm“ genannt, doch der Roman ist trotz der Brutalität durchaus lesbar. Selbstverständlich ist »Das angehaltene Leben« keine leichte Kost, doch aufgrund der präzisen und poetischen Sprache und des immer wieder warmen, mitfühlenden Tons ist die Lektüre dennoch ein Genuss. So folgt man dem teils logischen, teils wirren Gedankenstrom des Insassen, fühlt die Einsamkeit, das Ausgeliefertsein, die Ohnmacht mit, hofft und bangt, friert, hungert und halluziniert vielleicht sogar.
Fazit: Wie das vollkommene Alleinsein auf die Seele wirkt, welche innere Kraft, welche geistigen Möglichkeiten in uns stecken und wie viel ein Mensch aushalten kann, erzählt Maurizio Torchio so detailliert, dass ich mich frage, wie er die Arbeit an dem Roman inklusive all der Recherche überstanden hat, ohne wahnsinnig zu werden. Die geradezu körperliche Erfahrung beim Lesen macht seinen Roman so einzigartig. Die ewige Frage nach gut und böse wird indirekt aber in großer Komplexität immer wieder aufgeworfen. Maurizio Torchio ist mit »Das angehaltene Leben« ein beunruhigend eindringlicher, jederzeit glaubwürdiger Roman gelungen, der lange nachwirkt und auf jeden Fall zum Nachdenken zwingt.
Maurizio Torchios Roman »Das angehaltene Leben« (Originaltitel: »Cattivi«) in der Übersetzung von Annette Kopetzki ist im Februar 2017 für EUR 22,00 im Zsolnay Verlag erschienen – gebunden, 240 Seiten, ISBN 978-3552058217.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Maurizio Torchio, geboren 1970 in Turin, studierte Philosophie und Soziologie und lebt in Mailand. »Das angehaltene Leben«, sein zweiter Roman, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.
Laila Mahfouz, 1. August 2017
Links:
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Die Website von Maurizio Torchio finden Sie hier.
Informationen zum Autor auf den Seiten des Zsolnay Verlages finden Sie hier.
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