»nachts leuchten die schiffe« ist der vierte Gedichtband des vielfach ausgezeichneten Lyrikers Nico Bleutge. Die Texte in diesem sieben Gedichtzyklen umfassenden, komplett in Kleinschrift gedruckten Band überzeugen vor allem durch die feine Beobachtungsgabe Bleutges. Die Bilder, der Klang des Istanbuler Hafens, die kleinen Dinge und Gefühle, am Rand, wo kaum einer sie sehen kann, Nico Bleutge findet für sie die passenden Worte und öffnet den, der sie zu lesen versteht.
In den sieben Kapiteln »nachts leuchten schiffe«, »weißes knirschen«, »stimme tauschen«, »flugsand«, »mit lungenschlag und schwarzen flecken«, »grasen mit grisu« und »gradierwerk« erzählt er von Wasser und allem, was und wie es an seinen Ufern lebt: von Lichtern, Pflanzen, Muscheln und Steinen, von den Menschen, ihren Plagen und Erinnerungen, von Sinneseindrücken und dem Gewirr unzähliger Stimmen, das nur hört, wer selbst still ist.
»fern in der ahnung von muschelschichten
denk wie muskeln und kalk, zelle um zelle
baute sich an, traum von geweben, häuten, wo du hinein-
gehst, siehst du nicht mehr hinaus, als wäre alles mit allem
verbunden, virus der weltpost, nicht mehr grund und keine
nacht in gedanken, ständig im kreisen, wachsender stoff
der sich trug, vom atlantischen wasser umfaßt, nach dem erdmüden
meer geschlossen, als wäre es sand, als würde das licht sich
verstärken, wege wie luft in den raum zeichnen«
öffne die tür / Seite 8
Die Geburtsstunde des Gedichtzyklus »nachts leuchten die schiffe«, Herzstück des gleichnamigen Gedichtbandes, liegt schon ein paar Jahre zurück. Zwischen 2013 und 2014 verbrachte Nico Bleutge ein Aufenthaltsstipendium der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. Während er allein am Bosporus saß, ließ er die Gedanken schweifen, schaute hin und formte Worte, die er nun in seinem viertem Gedichtband »nachts leuchten die schiffe« teilt. Dort in Istanbul sei er einer meditativen Stimmung verfallen und habe sich alles ganz genau angesehen, so Bleutge im Interview.
»als ob die stimme
abwärts ginge, richtung
schletten, richtung schluff
komm, mach die raupe,
mach die haltegriffe und den schlaf«
als ob die stimme / Seite 19
In »nachts leuchten die schiffe« komponiert Nico Bleutge seine Kindheitserinnerungen, Bruchstücke anderer Dichter (Alfred Döbling, Reinhard Jirgl, Marcel Beyer, Georg Trakl, Peter Kurzeck, C.D. Wright, W. G. Sebald, Annette von Droste-Hülshoff, Allen Ginsberg und einigen anderen) mit seinen Beobachtungen. Seine scharfe Wahrnehmung und seine leichte aber klare Sprache, lassen seine Leser ebenso teilnehmen an seinen Landschaftserkundungen, wie am Glitzern des Wassers und den Geräuschen des Hafens.
Doch nicht nur harmonisch geht es zu in Istanbul und in Nico Bleutges Gedanken. Auch politische Aufzeichnungen sind in »nachts leuchten die schiffe« nicht nur zwischen den Zeilen zu finden. So wird zum Beispiel mit Versatzstücken Georg Trakls im Gedicht »rodung« Istanbuls polizeiliche Gewalt festgehalten.
Im Zyklus »flugsand« wiederum wiederholt sich stets eine Zeile des vorangegangenen im folgenden Gedicht. Wie eine poetische Kette der ewigen Wahrheit, dass alles mit allem Verbunden ist, lesen sich dann auch diese lyrischen Texte. Jedes der fünfzehn Kettenglieder öffnet einen neuen Wahrnehmungsraum, lässt Licht ebenso hineinströmen wie den Dunst des modrigen Morgens am Fluss.
Und dann geht Nico Bleutge mit dem kleinen Drachen Grisu die Welt nochmals erkunden, wird wieder Kind, öffnet sich ganz, weckt alle Möglichkeiten auf.
»ein rechtes drachenherz
muß höher schlagen. handedel,
feuerfest. das dürf ihr
nicht von mir verlangen[…]
grasen mit grisu (I) / Seite 67
ich teile diese stunde, ich
teile diesen tag, in silben
und in runden, die ich nur
zählen kann […]
ich gehe gern
alleine. ich will der heizer sein
und stille feuer legen,
die ich nicht sehen kann«
ich teile diese Stunde / Seite 65
Diese Zeilen aus dem Zyklus »grasen mit grisu« lassen mein Drachenherz wahrlich höher schlagen, denn wie jeder, der etwas zu sagen hat, wünscht Nico Bleutge, dass seine Worte sich an anderen entzünden, Feuer entfachen, gleichgültig wann und wo und egal, ob er die Feuer wird sehen können.
Fazit: Jeder Gedichtband findet den Moment, da sein Inhalt den Leser erreicht, wirklich eindringt, haften bleibt. Nico Bleutges Gedichtband »nachts leuchten die schiffe« entzündete sich in meinem Geist um 5 Uhr am heutigen Morgen und ließ mich nicht mehr los. Eine stille, verspielte Verzauberung stellt sich für den ein, der sich darauf einlässt. Ich wünsche vielen Lesern diese Erfahrung und dem Dichter noch viele Möglichkeiten, seine geschärfte Wahrnehmung einzusetzen und auszudrücken.
Nico Bleutges Gedichtband »nachts leuchten die schiffe« ist im März 2017 für EUR 16,95 im C.H. Beck Verlag erschienen – gebunden, 87 Seiten, ISBN 978-3406705335.
Wer in den Gedichtband reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Nico Bleutge wurde 1972 in München geboren. Er studierte von 1993 bis 1998 Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie in Tübingen und lebt heute in Berlin. Für sein Schreiben wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. 2012 mit dem Erich-Fried-Preis, 2014 mit dem Christian Wagner-Preis, 2015 mit dem Eichendorff- Literaturpreis, 2016 mit dem Alfred-Kerr-Preis sowie in diesem Jahr mit dem Kranichsteiner Literaturpreis „für sein bisher vier Bände umfassendes lyrisches Werk“.
Laila Mahfouz, 29. Juli 2017
Links:
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