11. April 2017 im Literaturhaus Hamburg: Shumona Sinha, Anne Weber und Cécile Wajsbrot trafen zu einem französischen Abend der Reihe Fremde Freunde zusammen und tauschten ihre literarischen Erfahrungen aus.
Shumona Shinhas Roman »Kalkutta« erzählt von einer jungen Frau, die nach Jahren im Ausland ihre Heimatstadt Kalkutta besucht und dort auf Schritt und Tritt mit der Geschichte des Landes und ihren eigenen Erinnerungen konfrontiert wird. Auf poetische Weise erzählt die Autorin von der Aufarbeitung der Familiengeschichte und der Vergangenheit.
Francfort en français heißt in diesem Jahr das Motto der Frankfurter Buchmesse. In der Lesereihe Fremde Freunde begegneten sich achtzehn deutsch- und französischsprachige AutorInnen in fünf deutschen Städten und tauschten sich jeweils zu dritt über ihre Werke aus. Am 11. April 2017 lud das Literaturhaus Hamburg Shumona Sinha, Anne Weber und Cécile Wajsbrot zum Gespräch. Anwesend war außerdem Laurent Toulouse, der französische Generalkonsul in Hamburg, der die Veranstaltung zur Annäherung beider Völker begrüßte. Durch den Abend führte Christoph Vormweg.
Für die Lesereihe Fremde Freunde schlug der Leiter des Literaturhauses, Rainer Moritz, Anne Weber als Autorin vor, die wiederum ihre Freundin und geschätzte Kollegin Cécile Wajsbrot vorschlug, die sich Ihrerseits für Shumona Sinha als dritte Autorin des Abends entschied. So erlebte das Publikum drei sehr unterschiedliche Blicke auf unser Nachbarland Frankreich.
Shumona Sinha, deren radikal mutiger Roman »Erschlagt die Armen!« ihr zum Durchbruch verhalf, erzählt in ihrem autobiographisch gefärbten dritten Roman »Kalkutta« nun von der uns weitestgehend fremden Welt des indischen Subkontinents. Um mit genug Abstand schreiben zu können, hat sie für ihr literarisches Schaffen weder ihre Muttersprache noch die Kolonialsprache Englisch gewählt.
»Ich brauchte etwas Anderes und so ist es Französisch geworden. Das Französische ist ein Abenteuer. […] Auf Französisch kann ich forschen. Es ist eine Sprache der Befreiung.«
Inhalt (dem Verlagstext entnommen): Nach vielen Jahren in Frankreich kehrt Trisha anlässlich der Einäscherung ihres geliebten Vaters zurück in ihre Geburtsstadt Kalkutta. Im verlassenen Haus der Familie, in dem sie aufgewachsen ist, schicken die Möbel und vertrauten Gegenstände aus alten Tagen ihre Gedanken auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Da ist zum Beispiel die rote Steppdecke, die sie nicht nur an die Hausierer erinnert, die solche Decken anfertigten, sondern auch daran, wie sie eines Nachts ihren Vater dabei beobachtete, wie er in ebendieser aufgerollten Decke einen Revolver versteckte. Oder das kleine Fläschchen mit Hibiskusöl, mit dem man ihrer Mutter Urmila die Kopfhaut massierte, wenn diese wieder einmal von schwerer Melancholie überwältigt wurde. Indem Trisha sich in die Kratzer und Risse dieser Objekte, der Möbel, des Hauses versenkt, ersteht die Vergangenheit mehrerer Generationen einer Familie wieder auf, und damit auch die kollektive, politische Vergangenheit Westbengalens – von der britischen Kolonialzeit bis zur jahrzehntelangen kommunistischen Regierung seit den späten 1970er Jahren.
»Die Macht der Worte kennt keine Grenzen, keine Schwachstelle, sie beherrscht die Dinge, die Tatsachen, unsere Vorstellungen und unsere Gefühle. Manchmal aber dienen Worte auch dazu, das Schweigen hörbar zu machen, es einzufassen wie ein Mäuerchen einen Brunnen. In diesem umgrenzten Raum wird das Schweigen unendlich, unermesslich.«
Prolog / Seite 11
Drei Frauen kreisen um einen Mann, Shankhya, einen intellektuellen Naturwissenschaftler und begeisterten Anhänger der kommunistischen Bewegung Bengalens: seine von heftigen Depressionsschüben geplagte Ehefrau Urmila, seine Mutter Annapurna, die aufgrund ihrer inneren Stärke die Tigerin genannt wird und seine Tochter Trisha, für die all die Ereignisse im Elternhaus und die Verhaltensweisen der Erwachsenen auf magische Weise seltsam und geheimnisvoll bleiben.
Für die Beerdigung des Vaters nach vielen Jahren im Ausland heimgekehrt, taucht Trisha immer tiefer in ihre Vergangenheit ein. Wie eine Schlafwandlerin streift sie durch die Räume, gibt sich den Erinnerungen hin und schaut – vielleicht zum ersten Mal – wirklich hin, um alle Facetten des vergangenen Lebens zu entdecken und mit der Gegenwart in Zusammenhang zu setzen. Jeder Raum, den sie betritt, jeder Gegenstand wird so fast zu einem Portkey, der sie umgehend mitten hinein in eine langvergangene Geschichte führt, welche sie im Rückblick und mit dem Wissen der erwachsenen, gebildeten Frau endlich wirklich verstehen kann.
»Als sie die Treppe hinaufsteigt, kann Trisha durch die Fensterläden die Hauswände der Nachbarn sehen, auf denen noch immer dieselben politischen Parolen stehen: dasselbe Rot und Schwarz, dieselben Hämmer und Sicheln, der Stern, Schicht für Schicht, unter dem Kalk dieselbe Wut, die seit Jahrzehnten schlummernde Wut quillt unter dem Kalk hervor und lässt die Schriftzüge leuchten.«
Die rote Bettdecke / Seite 24
Shumona Sinha erzählt gleichzeitig auf poetische, liebevolle wie scharfzüngige und kraftvolle Weise. Ihr Roman ist ebenso ein Spiegel der Geschichte Westbengalens wie auch eine Hommage an ihre Heimatstadt Kalkutta und deren Bewohner. (Um sich diesen Schmelztiegel noch besser vorstellen zu können: Kalkutta hat ca. 4,5 Mio. Einwohner und eine Bevölkerungsdichte von 23.951 Einw. pro km². Im Vergleich dazu beträgt die Bevölkerungsdichte Berlins mit seinen ca. 3,5 Mio. Einwohnern nur 3.948 Einw. pro km².)
Doch »Kalkutta« erzählt auch, auf welche Arten sich Menschen im Eskapismus verlieren können. Trishas Vater, der gegen den Glauben missioniert, flüchtet sich in einen Kommunismus, der nur auf dem Papier Bestand hat. Seine Frau Urmila flüchtet sich schon vor ihrer Ehe in die Phantasien einer glücklichen und dann unglücklichen Liebesgeschichte und findet schließlich nie ganz heraus, aus ihrem tiefen, schwarzen Brunnen. Annapurna flüchtet sich in die Vergötterung ihres Sohnes und in den hinduistischen Glauben und Trisha selbst flüchtet schließlich direkt aus dem Land, in ein neues Leben in Frankreich. Doch alle können sie weder Wahrheit noch Schicksal auf diese Weise entgehen. Trishas Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit führt zu einer Katharsis, die ihre Seele heilen kann.
»Nur manchmal, wenn dicke Gewitterwolken schwer auf ihrem Strohdach lagen, wenn der Wind die Sturmlaternen flackern ließ, wenn die tanzenden Schatten auf den Mauern an Ungetüme und Riesen erinnerten, an Phantasiekrieger und ihre schreienden Opfer, verspürte sie die unbezwingbare Lust, ihren Kindern die Geschichten der Gutsherren zu erzählen, die Geschichte ihrer Eltern, ihres Ruhms und ihres Niedergangs, geheime Intrigen, so zahlreich und unübersichtlich wie die Zimmer und Flure ihres Schlosses. Dann öffnete sich der Theatervorhang einen Spalt.«
Das Versenken der Göttin / Seite 90 + 91
Äußerst geschickt verbindet Shumona Sinha in einem ganz eigenen Rhythmus Gegenwart und Vergangenheit, Politik und Familiensaga. All dies erzählt sie nicht chronologisch, was zu einem sehr lebendigen Lesevergnügen führt. Selbst die schrecklichsten Ereignisse macht sie durch ihre poetische Sprache lesbar und löst dabei einprägsame Gefühle aus. Angefangen von dem Bauchnabel des Vater, der einzig in der Asche des Verstorbenen übrig bleibt, erkennt die Heimgekehrte nun, dass sie sich nur scheinbar von der Familie abgenabelt hatte und ihre Leben im Gegenteil über die Kontinente hinweg wie an einer Nabelschnur in innerer Verbundenheit für immer miteinander verknüpft sind.
Farbig und vieldimensional erweckt Shumona Sinha ihre Heimat auf den Seiten des Romans für ihre Leser zum Leben. Symbole wie die Schlange, der Bauchnabel oder die Farbe Rot sind Elemente, die den mythischen Charakter des Buches und der Region unterstreichen und die sich in ihrer Funktion kaum von den unterschiedlichen Farben der Saris unterscheiden, die eine sofortige, unausgesprochende Erklärung zum Status einer Person aufzeigen.
»Mehr als einmal war er am Grabstein des Glaubens abgeprallt, unter dem das rationale Denken und die wissenschaftliche Herangehensweise seit Langem begraben lagen. Seine Partei war gescheitert und Shankhya kam zu dem Schluss, dass die revolutionäre Ideologie nur ein fliegender Teppich gewesen war, der über dem indischen Subkontinent schwebte, während es den Millionen von Menschen völlig gleichgültig war, sie überlebten beschwerlich, schlugen Wurzeln und hatten Träume, die in die Glücksbringer um ihren Hals passten, bedeutungslos, lächerlich und vor allem ungefährlich.«
Das Versenken der Göttin / Seite 147
Fazit: Die Lektüre von Shumona Sinhas Roman »Kalkutta« ist ein Genuss vielfacher Art. Die Autorin schafft es, die vielen historischen Fakten mit unterhaltsamen Erzählungen zu verbinden. Dieser zärtliche und zugleich fast schonungslos objektive Blick ist wohl nur von jemandem möglich, der etwas von außen betrachtet. Wäre Shumona Sinha in Indien geblieben, wären viele Einsichten kaum möglich gewesen, denn vollständig kann meistens nur begreifen, wer etwas von innen wie auch von außen kennt.
Die Einwohnerzahl allein des indischen Bundesstaates Westbengalen die ganz Deutschlands um 10 Millionen übersteigt, ist nur einer der Gründe, die den Erkenntnisgewinn des Buches so wichtig machen. Auf unterhaltsame Weise werden dem Leser so die Geschichte des Landes, die Politik, die Religion und die Lebensumstände der Menschen nahegebracht. Die poetische, bildhafte Sprache ist dabei ein absoluter Gewinn, der auf diese Weise das vielschichte Indien in gleicher Weise sicht-, hör-, riech- und fühlbar macht.
Die Originalausgabe von »Kalkutta« erschien in Frankreich bereits 2014, so dass man schon gespannt sein darf, welchem Thema sich Shumona Sinha als nächstes widmen wird.
Die Rezension zu Anne Webers Roman »Kirio« finden Sie hier.
Shumona Sinhas Roman »Kalkutta« (Originaltitel »Calcutta«) ist in der Übersetzung von Lena Müller im August 2016 für EUR 19,90 in der Edition Nautilus erschienen – gebunden, 192 Seiten, ISBN 978-3960540106.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Shumona Sinha, geboren 1973 in Kalkutta, lebt seit 2001 in Paris. Shumona Sinha hat einen Master of Philosophy von der Universität Sorbonne in französischer Literatur und Linguistik. Ab 2009 war sie als Dolmetscherin für Asylsuchende tätig. Nach der Veröffentlichung von »Erschlagt die Armen!« 2011 (dt. 2015) verlor sie ihre Arbeit bei der französischen Migrationsbehörde, der Roman wurde mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, die deutsche Ausgabe mit dem Internationalen Literaturpreis 2016. Ihr dritter Roman »Kalkutta« wurde mit dem Prix du Rayonnement de la langue et de la littérature française der Académie française und dem Grand Prix du Roman de la Société des gens de lettres ausgezeichnet.
Laila Mahfouz, 28. Juli 2017
Links:
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Informationen zur Autorin auf den Seiten der Edition Nautilus finden Sie hier.
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