11. April 2017 im Literaturhaus Hamburg: Anne Weber, Cécile Wajsbrot und Shumona Sinha trafen zu einem französischen Abend der Reihe Fremde Freunde zusammen und tauschten ihre literarischen Erfahrungen aus.
Anne Webers Roman »Kirio« ist ein funkelndes, kaum greifbares Gebilde aus Weisheit, Humor und Philosophie, das dazu anregt, sich Teile des Romans herauszuschreiben und aufzuhängen, um sie immer vor Augen zu haben.
„Fremde Freunde“: Anne Weber und Cécile Wajsbrot im Hamburger Literaturhaus
(Foto: Laila Mahfouz)
Francfort en français heißt in diesem Jahr das Motto der Frankfurter Buchmesse. In der Lesereihe Fremde Freunde begegneten sich achtzehn deutsch- und französischsprachige AutorInnen in fünf deutschen Städten und tauschten sich jeweils zu dritt über ihre Werke aus. Am 11. April 2017 lud das Literaturhaus Hamburg Anne Weber, Cécile Wajsbrot und Shumona Sinha zum Gespräch. Anwesend war außerdem Laurent Toulouse, der französische Generalkonsul in Hamburg, der die Veranstaltung zur Annäherung beider Völker begrüßte. Durch den Abend führte Christoph Vormweg.
Für die Lesereihe Fremde Freunde schlug der Leiter des Literaturhauses, Rainer Moritz, Anne Weber als Autorin vor, die wiederum ihre Freundin und geschätzte Kollegin Cécile Wajsbrot vorschlug, die sich ihrerseits für Shumona Sinha als dritte Autorin des Abends entschied. So erlebte das Publikum drei sehr unterschiedliche Blicke auf unser Nachbarland Frankreich. Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit fünfundzwanzig Jahren in Frankreich und schreibt jeden ihrer Romane erst in französischer, dann nochmals in deutscher Sprache. Sie übersetzte Werke von Birgit Vanderbeke, Jakob Arjouni, Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino, Peter Handke und vielen mehr ins Französische.
»Es gibt Schreib- und Übersetzungsphasen. Nach dem Schreiben ist eine Pause notwendig. Im Vergleich zum Schreiben empfinde ich [das Übersetzen] als Erholung. Es braucht weniger Energie, weniger Phantasie. […] Es ist wie Schreiben ohne weiße Seite.«
Inhalt (Verlagstext):
Wer ist Kirio? Ein seltsamer Vogel, ein Verrückter, ein Heiliger? Seine Spur findet sich zuerst in Südfrankreich und verliert sich im Hanau der Brüder Grimm. Kirio läuft gerne auf den Händen und stellt auch sonst alles auf den Kopf. Er spielt Flöte und redet mit Steinen und Fledermäusen ebenso selbstverständlich wie mit Menschen. Er nimmt alles für bare Münze, bis auf die bare Münze selbst. Er vollbringt Wunder über Wunder und merkt es nicht. Wer also ist dieser Kirio? Und wem gehört die Stimme, die von ihm erzählt? Sie weiß es selber nicht! Und so ist das Rätsel auch dem Leser aufgegeben. Ist es die des Autors? Die des Schöpfers? Eines Engels? Der Phantasie?
Zwei Figuren bestimmen Anne Webers neuen Roman »Kirio«: da wäre einmal Kiro selbst und der Erzähler, dem seine Existenz selbst rätselhaft erscheint und dessen Identität erst am Ende klar wird. Meistens ist es dieser Erzähler, der von Kirio berichtet, aber es werden auch viele andere Zeitzeugen auf den Plan gerufen, die Teile seiner Heldengeschichte erzählen. Denn die Erzählstimme will nicht als Autor dieser Geschichte genannt werden. So wird Kirios Geschichte aus vielen Puzzlesteinchen zusammengesetzt, die am Ende das Bild eines wirklich außergewöhnlichen Menschen ergeben. Seine Geschichte ist ebenso ungewöhnlich, doch das macht sie nicht weniger wahr.
»Wenn ich Sie frage, ob Sie es besonders wahrscheinlich finden, dass wir mit einer Geschwindigkeit von hunderttausend Kilometern pro Stunde auf einem Ball unterwegs sind, dessen Inneres aus glühendem Eisen und dessen Oberfläche hauptsächlich aus kaltem Wasser besteht, und dass wir auf diesem Ball Hochhäuser und Kaffeemaschinen und Gymnasien gebaut haben, werden Sie die Frage wohl verneinen müssen. Wenn ich Sie weiter frage, ob Sie es trotzdem für wahr halten, werden Sie die Frage bejahen.«
Wie Kirio das Lycée abbrach (und nicht abriss) / Seite 34 + 35
Kirio ist alles Böse fremd. Kirio ist ein Wesen von entwaffnender Klarheit, Reinheit und Güte, Empathie und Willensstärke. Er ist vollkommen ohne Arg und stets neugierig auf die Welt. Er lebt, ohne sich von anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, ja, von irgendetwas getrennt zu fühlen. Mit großen, staunenden Augen wandelt er durch die Welt, am liebsten auf den Händen gehend und betrachtet alles von unten nach oben, um sich einen zweiten Blickwinkel zu verschaffen. Kirios Anwesenheit, nein, seine pure Existenz verbreitet Gutes und ändert Menschen zum Guten. Und wie Anne Weber so schön in einem Interview sagte: »Ist die Literatur nicht auch dazu da, dass man den Boden unter den Füßen verliert?«
»Manche winzige Veränderungen, sei es am Meeresspiegel oder an der Nase der Kleopatra, haben große Folgen. Kirio hat den Freudenpegel um mehrere Grade angehoben; die Konsequenzen werden sich erst im Laufe der nächsten Jahrzehnte oder Jahrhunderte zeigen.«
Wie Kirio die Stadt eroberte / Seite 98
Anne Webers Roman ist ein modernes Märchen, eine Heiligenlegende und ein philosophisches Werk gleichermaßen und es befremdet mich sehr, wenn das Feuilleton einer großen, deutschen Wochenzeitung sich daran stört, es hier mit einem wirklich guten Menschen zu tun zu haben und ihn aufgrund dessen als langweilig da „zu brav“ abzutun. Ich vertrete da doch eher die Ansicht des Erzählers, der sich fragt, warum sich die Wissenschaft, die Literatur, der Film so gern mit der dunklen Seite beschäftigt und diese als faszinierender empfindet. (Seite 158) Kirio jedenfalls ist sich seines Tuns und dessen Folgen nicht bewusst, dennoch geschieht immer etwas Positives durch seine Existenz. Das ist nach meiner Meinung ein faszinierendes Phänomen.
»Zu Schlechtem war er nicht begabt, das haben wir gesehen; das Gute aber säte er unwissentlich, wie andere im Vorbeigehen Blumen köpfen oder einem Hund einen Tritt versetzen. Wie jedermann wusste er nicht immer, was er tat, noch warum. Weshalb er hier einen Schlüssel auflas, dort einen alten Schuh, wieso er den einen in den Tiefen des anderen versenkte und beide zusammen in einen Fensterladen klemmte. Noch weniger wusste er, welche Folgen sich daraus ergeben würden. Doch anders als bei jedermann waren diese Folgen nie unheilvolle, und nicht selten waren es sogar wundersame, von denen er nie erfuhr.«
Wie Kirios Geschichte ohne Kirio klingt / Seite 168 + 169
Anne Weber lässt ihre Phantasie fließen und führt uns durch das unendliche Reich ihrer Vorstellungskraft. In der Tradition des französischen Existenzialismus lässt sie Kirio körperliche und geistige Erfahrungen sammeln und viele Wirklichkeiten des Seins durchleben. Webers Roman stellt in einem fort philosophische Fragen, die so im Text verwoben sind, dass sie auch die Leser erreichen werden, die nur die Geschichte selbst lesen wollen. Kirio ist ein weiser Narr, der uns durch seine Lebensgeschichte den Spiegel vorhält, in dem wir uns erkennen und aufgrund dessen wir uns ändern können.
Sicher nicht zufällig integriert Anne Weber einen Satz aus Joseph Freiherr von Eichendorffs Gedicht »Mondnacht«, um den selben Absatz mit dem aus Michael Endes spirituellem Roman »Die unendliche Geschichte« bekannten Satz »Aber das ist eine andere Geschichte« [»und soll ein andermal erzählt werden»] abzuschließen.
Fazit: Anne Weber ist mit »Kirio« ein ebenso flatterhaft leichter, außergewöhnlich verrückter, kluger, witziger, philosophischer und bezaubernd andersartiger Roman gelungen, der es zu Recht auf die Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse geschafft hat und diesen und andere Preise verdient hätte. Ich wünsche zukünftigen Lesern, dass sie sich offenen Herzens und Geistes, ohne jedes Vorurteil dieser Lektüre widmen, denn dann wird die Erfahrung sie auf jeden Fall bereichern.
Die Rezension zu Shumona Sinhas Roman »Kalkutta« finden Sie hier.
Anne Webers Roman »Kirio« ist im Februar 2017 für EUR 20,00 im S. Fischer Verlag erschienen – gebunden, 224 Seiten, ISBN 978-3103972696.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Zuletzt erschienen bei S. Fischer ›Kirio‹, ›Ahnen‹, ›Tal der Herrlichkeiten‹, ›August‹ und ›Luft und Liebe‹. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Ihre Bücher schreibt Anne Weber auf Deutsch und Französisch.
Laila Mahfouz, 24. Juli 2017
Links:
Unsere Fotostrecke zur Veranstaltung finden Sie hier. Die Rechte an den Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Informationen zur Autorin auf den Seiten des S. Fischer Verlages finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Anne Weber finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.