Lesung am 16. Mai 2017 in der Buchhandlung Christiansen in Hamburg: Birgit Vanderbeke stellte ihren 2016 erschienenen Roman »Ich freue mich, dass ich geboren bin« vor. Die autobiographisch gefärbte Geschichte eines Mädchens, das vom Erleben des Umzugs und der Unterschiede zwischen Ost- zu Westdeutschland in den 60er Jahren erzählt, ist authentisch und entwickelt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Inhalt (dem Verlagstext entnommen): Abhauen, das haben alle aus der Familie gemacht. Die einen sind aus dem Osten, die anderen aus dem Westen Europas abgehauen. Getroffen haben sie sich zufällig irgendwo in Ostdeutschland, und zu guter Letzt sind sie auch von dort wieder geflohen. Nach diversen Flüchtlingslagern landen sie in einer Dreizimmerwohnung in Westdeutschland, im Land der Verheißung, von dem alle geträumt haben. Für das Kind ist es ein übler Ort, eine drastische, gewalttätige Gegenwart. Und weil es weder genützt hat, abzuhauen, noch, sich wie das siebte Geißlein im Uhrkasten zu verstecken, sucht die Fantasie der Tochter sich eine Verbündete: sich selbst als Erwachsene. Und plötzlich ist da eine Person, mit der sie über alles reden kann.
Ein Mädchen, dass in den 60er Jahren von Ost- nach Westdeutschland umgesiedelt ist, freut sich auf ihren siebten Geburtstag, der – wie sie sich wünscht – besser sein soll, als die vorherigen. Auch stellt sie sich die Geschenke vor – insbesondere wünscht sie sich sehnlichst eine Katze – und ist so aufgeregt, dass die Gedanken in ihrem Kopf Karussell fahren. Birgit Vanderbeke schafft es auf einzigartige Weise, ihre Leserschaft an diesen Gedanken teilhaben zu lassen. Der Roman stellt sich als eine äußerst humorvolle, ergreifende und weise Lektüre heraus.
Wie die folgenden Zitate aus dem Roman zeigen, übertrieb Birgit Vanderbeke nicht, als sie sagte:
»Für mich ist es nicht schwierig, mich in die Gedankenwelt eines Kindes zu begeben. […]
Die Erinnerung an die eigene Kindheit und an die eigene Sprache habe ich noch im Ohr.«
»Es stimmte nicht, wenn meine Mutter sagte, wir dürften in der Neubausiedlung keine Katze halten, und meine Mutter wusste auch genau, dass es nicht stimmte, und das gehörte zu den Dingen, die ich an den meisten Erwachsenen nicht leiden konnte: ihre dauernde Lügerei.«
Seite 9 + 10
1990 mit ihrer Erzählung »Das Muschelessen« bekannt geworden, hat Birgit Vanderbeke bisher nicht weniger als neunzehn Bücher veröffentlicht. Schon am Montag werden es zwanzig sein, denn »Ich freue mich, dass ich geboren bin« ist nur der Auftakt einer Trilogie. Wer so richtig in die Geschichte einsteigt, kann kaum genug bekommen von dem Ton, den Erlebnissen dieses Kindes, das die Welt auf besondere Weise entdeckt. Zum Glück gibt es also eine Fortsetzung. Bereits am 1. August erfolgt die Veröffentlichung des Romans »Wer dann noch lachen kann«, in dem Birgit Vanderbeke die Geschichte des Mädchens weitererzählt. Ganz gewiss ist dies wieder ein Hochgenuss und hoffentlich verzichtet Birgit Vanderbeke bald wieder für ein paar Wochen auf ihr idyllisches Leben in Südfrankreich, um auch mit dem neuen Buch wieder auf Lesereise zu gehen.
Die 60er-Jahre, die Flucht in den Westen, die vom Krieg zerstörten Seelen der Erwachsenen, die Gewalt an Kindern – all dies thematisiert Birgit Vanderbeke in ihrem Roman und lässt das kleine Mädchen, dessen Name nicht genannt wird, in ehrlichster Weise ihre Erlebnisse schildern. Ihre Sprache ist erfrischend, der Roman wohltuend anders als viele um Betroffenheit der Leser buhlende Werke. Dieses Kind ist verwirrt, zornig, aufgewühlt, es bekommt nicht immer (oder nicht die richtigen) Antworten auf seine vielen Fragen und macht sich auf eigene Weise daran, die Welt zu verstehen.
»Meine Mutter sagte: Vor dem Krieg war das was, ein tannengrüner Opel Admiral.
Unser Opel Kapitän war nur dunkelblau und nach dem Krieg und ein Admiral war mehr als ein Kapitän. Das wusste ich von Onkel Winkelmann, der zur See durch die Welt gekommen war und mir erklärt hatte, dass es in Schiffen immer von oben nach unten ging: Oben kam der Admiral, dann der Commodore und danach erst kamen Kapitän, Leutnant, Feldwebel und Matrosen.
Ein Kapitän nach dem Krieg konnte es nicht mit einem Admiral vor dem Krieg aufnehmen, das lag auf der Hand.«
Seite 22 + 231
Auch zum Thema Geburt hat das Mädchen von ihrem väterlichen „Onkel“ Winkelmann alles Wissenswerte gelernt:
»Komischerweise findet man den Ausgang ganz von selbst. Er ist nämlich auch der Eingang, durch den man vor ein paar Monaten reingekommen ist, auch wenn man damals nur eine Kaulquappe war, aber sobald man aus dem großen schwarzen Teich Ewigkeit herausgefischt worden ist, hat man ein einwandfreies Gedächtnis und muss nicht erst lange Berechnungen anstellen oder in einem der Bücher für Erwachsene nachschlagen, von denen Onkel Winkelmann sehr viele hatte; man weiß eben, wo der Ausgang ist, weil man schon als herausgefischte Kaulquappe ein Menschenwesen gewesen ist und sich an den Eingang und alles erinnert. Sobald man auf der Welt angekommen ist, vergisst man das alles wieder, obwohl man es eigentlich weiß, aber es ist wohl überhaupt so, dass man im Laufe der Zeit vieles von dem vergisst, was man eigentlich einmal wusste, als man noch gar nicht wusste, was man so alles weiß, und deshalb, sagte Onkel Winkelmann, braucht man dann später all die Bücher. Bloß um herauszufinden, was man eigentlich eh schon immer wusste.«
Seite 42 + 43/p>
Kreative Schreibblockaden kennt Birgit Vanderbeke nicht. Allerdings hätte der deutsche Literaturbetrieb schon zweimal in ihrem Leben Momente ausgelöst, »wo ich das Ganze lieber in die Ecke geschmissen hätte«. Wir alle sind glücklich, dass sie es nicht getan und diese Krisen bewältigt hat. Wie sie jedem Buch den richtigen Ton verleiht, ist meisterhaft. Auch die Erzählweise ist sehr unterschiedlich. Die Autorin erklärte ihre Arbeitsweise so:
»Die Form der Erzählung bestimmt der Stoff und die Figuren. […] Die meiste Zeit, in der ich an einem Text arbeite, mache ich alles nur im Kopf. [Oftmals beim Stricken, wie sie verriet.] In etwa vier bis acht Wochen schreibe ich hinterher alles, was vorher nur im Kopf war. […] Wenn ich ein Buch fertig habe, kommt immer nach kurzer Zeit ein blinder Fleck aus dem Buch und will noch erzählt werden. […] Es ergibt sich normalerweise eins aus dem anderen.«
Fazit: Die Lesung in der schönen Buchhandlung Christiansen war einfach großartig. Ganz ausdrücklich möchte ich hiermit diese Veranstaltungen loben. Mitveranstalter war in diesem Fall das Literaturzentrum Hamburg, das ab und an auch außerhalb des Literaturhauses Lesungen unterstützt.
Direkt dabei zu sein, als Birgit Vanderbeke aus ihrem Roman las, war ein Erlebnis der besonderen Art und »Ich freue mich, dass ich geboren bin« ist auf jeden Fall eine Bereicherung. Ich freue mich schon auf die restliche Lektüre des Buches und wünsche ihm wie auch dem Folgeroman viel Erfolg und viele Leser!
Birgit Vanderbekes Roman »Ich freue mich, dass ich geboren bin« ist im März 2016 für EUR 18,00 im Piper Verlag erschienen – gebunden, 160 Seiten, ISBN 978-3492057547.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Birgit Vanderbeke, geboren 1956 in Dahme/Mark, wuchs nach der Übersiedlung ihrer Familie nach Westdeutschland im Jahre 1961 in Frankfurt am Main auf, wo sie später Jura, Germanistik und Romanistik studierte. Seit 1990 ist sie freie Autorin, und seit 1993 lebt sie in Südfrankreich. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.
Laila Mahfouz, 28. Juli 2017
Links:
Unsere Fotostrecke zur Veranstaltung finden Sie hier. Die Rechte an den Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Die Website der Autorin finden Sie hier.
Informationen zur Autorin auf den Seiten des Piper Verlages finden Sie hier.
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Die Website der Buchhandlung Christiansen finden Sie hier. Dort finden sich auch Links zu künftigen Veranstaltungen.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.