Nach vielen abwechslungsreichen belletristischen Werken schenkt Alessandro Baricco seinen Lesern mit »Smith & Wesson« ein Drama vor der atemberaubenden Kulisse der Niagarafälle.
Handlung (der Verlagsseite entnommen): Tom Smith und Jerry Wesson haben mit der Waffenfabrik nur die Nachnamen gemein. Echte Abenteurer brauchen keine Waffen. Die Habenichtse lernen sich bei den Niagarafällen kennen, wo sich der eine als Erfinder und Meteorologe, der andere als »Leichenfischer« verdingt. Und dann ist da noch die Journalistin Rachel, die der erste Mensch sein will, der einen Sturz von den Fällen überlebt. Zu dritt wollen sie der Welt eine unvergessliche Geschichte liefern und zu Helden werden. Die Niagarafälle – spektakuläres Naturereignis, irdisches Paradies und mythischer Ort. Sie haben die Phantasie vieler Schriftsteller beflügelt, auch wenn Charles Dickens sagte, dass »jedes Wort über diesen wundervollen Ort nur reiner Unsinn sein könnte«.
Wir befinden uns anfangs in einem Pensionszimmer an den Niagarafällen, wo Wesson im Bett liegt und eine Gesundheitskur vollzieht, als Smith, der sich als Statistiker und Meteorologe vorstellt, ihn aufsucht, um ihm Fragen zu stellen. Gestört werden die beiden Herren schließlich von der hereinplatzenden Rachel, die ihnen den ungeheuerlichen Vorschlag unterbreitet, sie dabei zu unterstützen, der erste Mensch zu werden, der einen Fall von den Wasserfällen überlebt.
»Wir hatten große Erwartungen an das Leben, und wir haben nichts zustande gebracht, wir sind dabei, ins Nichts abzurutschen, und das tun wir am Arsch der Welt, in einem miesen Loch, wo ein herrlicher Wasserfall uns jeden Tag daran erinnert, dass die Erbärmlichkeit eine Erfindung des Menschen ist und die Großartigkeit der normale Lauf der Welt. Wir könnten uns erschießen, aber wir haben nicht mal Geld genug, um eine Pistole zu kaufen. Also sitzen wir in der Scheiße, alle drei, und nur eins kann uns retten.«
Erster Akt, dritter Satz, Seite 37
Die drei Menschen, die Baricco in dieses halsbrecherische Abenteuer schickt, sind sehr besonders, wie es für diesen Autor typisch ist:
Da ist der Meteorologe Smith, der, um eine statistische Aussage zum Wetter an einem Ort treffen zu können, die Lebenserinnerungen der Ansässigen anzapft. Er fragt nach den wichtigen – schönen und schmerzhaften – Ereignissen im Leben, denn er weiß, dass meistens das Wetter dieser Tage in den Köpfen ebenfalls abgespeichert wurde. Er notiert sich allerdings nicht nur das für ihn eigentlich wichtige Ergebnis, sondern die gesamte Erinnerung des Menschen und erarbeitet sich so eine einmalige Chronik des Lebens.
Wessons Beruf ist es, die Toten, die durch Suizid oder Unglücksfall Opfer der Niagarafälle wurden, zu bergen, wie es schon sein Vater vor ihm getan hat. Wesson kennt das Gewässer in der Welthauptstadt der Selbstmorde haargenau, denn das Schicksal hat ihm einst einen einmaligen Blick gewährt.
Rachel ist eine junge, kluge Journalistin, die erkennt, als eben solche in der Männerdomäne keine Chance zu bekommen, um ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Sie will später nichts bereuen müssen. Sie will sich einen Namen machen, und dass ihr Leben eine Spur hinterlässt. Dafür ist sie bereit, alles zu riskieren.
Eine geradezu verzweifelte Idee ist es, die diese drei aus ihrem trübsinnigen Alltag herauskatapultieren und ihr Können der Welt sichtbar machen soll. Fieberhaft arbeiten sie an der Umsetzung ihres Plans und offenbaren einander immer mehr ihrer Erfahrungen, verborgenen Talente und Träume. Am exakt durchgeplanten Tag passiert allerdings Unerwartetes.
SMITH »Bleibt nur noch das kleine Problem, jemanden zu finden, der bereit ist, sich auf diese Weise hinunterzustürzen. […]
Haben Sie schon jemanden im Sinn?«
RACHEL »Nicht erschrecken. Wir haben jemanden, der springt. Mich.«
SMITH »Sie? […] Sie sind ja verrückt.«
RACHEL »Ich bin nicht verrückt. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, das ist es.«
Erster Akt, vierter Satz, Seite 43+44
Übermächtige Kulisse des Dramas ist der große amerikanische Wasserfall, der die Geschichte um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen in seinen Tiefen spiegelt. Baricco schafft auf nur 110 Seiten ein Panorama an menschlicher Tragödie und menschlichen Glücks. Es gelingt ihm einmal mehr, mit wenigen Worte seine Leser zu berühren.
Fazit: Alessandro Bariccos Zweiakter »Smith & Wesson« ist eine vielschichtige Charakterstudie und führt seine Leser durch die Höhen und Tiefen des Menschenlebens. Auch diese Geschichte aus seinem Kosmos wird über das Buch hinaus in vielen Köpfen weiterleben und hoffentlich auch bald den Weg auf deutsche Bühnen finden.
Alessandro Bariccos Drama »Smith & Wesson« ist im September 2016 im Hoffmann und Campe Verlag in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki (Originaltitel: »Smith & Wesson«) für EUR 18,00 erschienen – gebunden, 112 Seiten, ISBN 978-3455405774.
Alessandro Baricco ©Eleonora Marangoni
Über den Autor: Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von La Repubblica. 1994 gründete Baricco zusammen mit Freunden eine Privatuniversität, an der er Kreatives Schreiben unterrichtet. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst. Sein Roman »Seide« wurde zum internationalen Bestseller. Er wurde mit dem Premio Campiello, dem Premio Viareggio und dem Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Die Romane »Novecento« (»Die Legende vom Ozeanpianisten«, 1999) und »Seide« (2007) wurden fürs Kino verfilmt.
Laila Mahfouz, 26. Mai 2017
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Übrigens: Bereits im August 2017 erscheint mit »Die junge Braut« der nächste Roman von Alessandro Baricco im Hoffmann und Campe Verlag.
Weitere Informationen zu Alessandro Baricco finden Sie auf der Seite des Hoffmann und Campe Verlages.
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