Marie-Sabine Rogers Roman »Heute beginnt der Rest meines Lebens« erzählt die Geschichte von Mort, der meint, 36jährig sterben zu müssen und von seinem Weiterleben ziemlich überrascht wird. Was es mit seinem Familienfluch auf sich hat, was er mit seiner geschenkten Zeit anfängt und was das alles mit uns zu tun hat, liest am besten jeder selbst.
Als Autorin ist Marie-Sabine Roger der deutschsprachigen Leserschaft vor allem seit ihrem Erfolgsroman »Das Labyrinth der Wörter« und der Verfilmung mit Gérard Depardieu in der Hauptrolle bekannt. Beim Atlantik/Hoffmann und Campe Verlag sind anschließend noch die Romane »Der Poet der kleinen Dinge« und »Das Leben ist ein listiger Kater« sowie der Erzählband »Die Küche ist zum Tanzen da« ebenfalls sehr erfolgreich erschienen. Diesen Februar brachte der Hoffmann und Campe Verlag außerdem bereits den nächsten Roman »Ein Himmel voller Sterne« heraus.
Handlung von »Heute beginnt der Rest meines Lebens« (Verlagstext): Es ist Mortimers 36. Geburtstag, und er wird sterben. So wie alle Männer aus seiner Familie mit 36 gestorben sind. Doch als Mortimer abends immer noch lebt, wird ihm klar: Der Fluch hat ihn verschont. Doch was nun? Sein Job und seine Wohnung sind gekündigt, und bisher hat er keine Ziele oder Ambitionen gehabt. Plötzlich muss er lernen zu leben! Dabei helfen ihm Paquita und Nassardine vom Crêpe-Stand an der Ecke. Und zum Glück ist da auch noch Jasmine, die manchmal auf Parkbänken sitzt und weint, damit es den Menschen besser geht … Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte über den Sinn des Lebens.
»[…] die Augen starr auf die verdammte Wanduhr über der Abzugshaube gerichtet, die meinem Bett direkt gegenüber hing und nicht aufhören wollte, an meinen restlichen Sekunden zu nagen, mit der Diskretion einer alten Dame, deren Gebiss mit einem trockenen Brotkanten kämpft.«
Seite 11
Wie lebt es sich damit, Tag und Stunde seines Todes zu kennen? Manche würden vielleicht sagen, dass sie dass Leben voll auskosten würden, wenn sie wüssten, dass es mit sechsunddreißig bereits vorbei ist. Mortimer aber verbringt sein Leben in einer Art Schockstarre. Sein Schicksal lähmt ihn, hält ihn davon ab, ein Studium zu beginnen, eine feste Beziehung zu führen. Sogar als ihm die Liebe in Form der zauberhaften Jasmine begegnet, ist er nicht in der Lage, seinen Familienfluch zu vergessen. Er lässt es zu, dass er Jasmine verliert, da er meint, sowieso nur noch wenige Monate am Leben zu bleiben.
»Familiengeheimnisse sind schwarze Spinnen, die uns mit einem klebrigen Netz umweben. Wir geraten immer tiefer hinein, irgendwann sind wir gefesselt, geknebelt, gefangen. Unfähig, uns zu regen, zu reden.
Zu leben.«
Seite 165
Doch was macht einer, der seine Wohnung und seine Arbeit gekündigt, sein Auto verkauft, seinen Kühlschrank ausgeräumt und seinen Traueranzug angelegt hat, wenn der Tod einfach nicht kommt? Nach der ersten Überraschung bleibt Mortimer nichts anderes übrig, als ein ganz neues Leben zu beginnen, dessen Ende er – wie jeder von uns – nicht kennt.
Von seinem Geheimnis hat Mortimer sein ganzes Leben lang niemandem erzählt. Nun hat er seinen beiden engsten Freunde Paquita und Nassardine, die ihn seit seiner Jugend kennen und ihm schon fast Ersatzeltern sind, einiges zu erklären und so erzählt er ihnen sein Leben, wie sie es noch nicht kennen. Er berichtet von den vorherigen Familientodesfällen, von seiner Kindheit, seiner Arbeit im Ministerium, wo er die Tage mehr schlecht als recht in der Abteilung für Präventive Verwaltung zufälliger Unfälle, kurz PVzU hinter sich bringt:
»Die Tage flossen dahin wie Wasser, farblos, geruchlos, ohne jeden Geschmack. Ich erlitt einen langsamen Verfall, das Schicksal aller Büroangestellten, und wie sie begann ich, meine Umgebung mit dem erloschenen Blick eines Fischs von vorgestern zu betrachten.«
Seite 115/116
Das Besondere an diesem Buch sind wieder einmal die eigenartigen doch äußerst liebenswerten Charaktere. Angefangen bei Mortimer selbst, über die inzwischen leider verschiedenen Ahnen der Decimes oder Décimés, zu der überängstliche Tante Mortimers, der spleenigen Jasmine, der naiven Paquita und dem sanftmütigen Nassardine sind alle so lebendig, dass es eine Freude ist, sich in das Buch zu versenken.
Schön ist es auch immer, wenn eine Lektüre eine andere erneut zum Leben erweckt. Die bloße Erwähnung von Alessandro Bariccos »Novecento – Die Legende vom Ozeanpianisten« hat in diesem Fall ein Lächeln auf meine Lippen gezaubert.
»Alles hätte mich davon überzeugen müssen abzuhauen, zu reisen, jeden Tag zu nutzen wie einen kostbaren Schatz, aber nein, ich tat genau das, was wir alle tun: Ich vergeudete meine Zeit und jammerte darüber, wie sie verrann.
Ich lebte mein Leben, als wäre ich in einem Wartezimmer gefangen, besessen vom Gedanken an meinen sechsunddreißigsten Geburtstag.«
Seite 119
Am besten gefällt mir aber, dass über dem ganzen Roman ein Motto schwebt, das an die ganze Leserschaft gerichtet scheint:
CARPE DIEM – Nutze den Tag!
Denn obwohl es von einem speziellen Schicksal und einem Familienfluch handelt, geht es doch um jeden von uns, der sein Leben nicht so lebt, wie er es könnte, um jeden, der seine Zeit nicht nutzt.
Ob einer weiß, wann er stirbt oder nicht, ist unwichtig. Jeder Tag kann unser letzter sein und wichtig ist nur, richtig gelebt zu haben. Am Todestag will ich nicht bereuen, meine Träume nicht gelebt, meine Zeit nicht genutzt zu haben.
Fazit: Marie-Sabine Rogers Roman »Heute beginnt der Rest meines Lebens« ist ein wunderbar weises Märchen. Der vielleicht manchem schwermütig anmutende Inhalt wird mit viel Humor gewürzt und kommt erstaunlich leicht und beschwingt daher. Gute Unterhaltung, Weisheit und etwas zum Mitnehmen und fest in Hirn und Handeln Verankern – daher kann ich das Buch auf jeden Fall empfehlen!
»Echte Reisende haben es im Blut. Auch wenn sie irgendwo bleiben, wenn sie nirgends mehr hinfahren, tragen sie in sich immer einen offenen Flugsteig, ein Ticket ins Land der Träume. Alles, was sie haben, passt in zwei Truhen. «
Seite 105
Marie-Sabine Rogers Roman »Heute beginnt der Rest des Lebens« ist in der Übersetzung von Claudia Kalscheuer im April 2015 im Atlantik Verlag erschienen – gebunden, 280 Seiten, EUR 20,00, ISBN 978-3455600209.
Über die Autorin: Marie-Sabine Roger wurde 1957 in Bordeaux geboren und lebt heute im Département Charente. Ihre Romane »Das Labyrinth der Wörter« (2010) und »Das Leben ist ein listiger Kater« (2014) waren in Frankreich und Deutschland Bestseller. Zuletzt erschien von ihr der Roman »Ein Himmel voller Sterne« (2017).
Laila Mahfouz, 11. April 2017
Links:
Bereits am 17. Februar 2017 erschien Marie-Sabine Rogers neuester Roman »Ein Himmel voller Sterne«.
Informationen zu Marie-Sabine Roger auf der Seite des Hoffmann und Campe Verlages.
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Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.